Preisträger 2012: Prof. Dr. Wolfgang Benz

25.11.2012

Der Zeithistoriker und Antisemitismusforscher Prof. Dr. Wolfgang Benz hat am Sonntag in Erfurt den Preis „Gegen Vergessen – Für Demokratie“ entgegen genommen.  Damit würdigt die gleichnamige Vereinigung die großen Verdienste des Zeithistorikers für die Erinnerungskultur in Deutschland und sein gesellschaftliches Engagement gegen Vorurteile und Fremdenfeindlichkeit.

Der Laudator Prof. Dr. Bernd Faulenbach, stellvertretender Vorsitzender von Gegen Vergessen – Für Demokratie e.V.: „Wolfgang Benz hat erheblichen Anteil  am Stand heutigen zeithistorischen Wissens und seiner Verbreitung in unserer Gesellschaft.“ Er habe in seiner Arbeit nie nur Fakten gesammelt, sondern nach Zusammenhängen und Konsequenzen für die Gegenwart gefragt. Und er mischt sich in politische Diskurse ein. Faulenbach: „Gegebenenfalls ohne Rücksicht auf eine falsch verstandene political correctness.“

Wolfgang Benz betonte bei der Preisverleihung im Festsaal des Erfurter Rathauses, dass der Preis ihn darin bestärke, auf dem richtigen Weg zu sein. Er spielte damit auf Anfeindungen an, die auf seine Ausführungen zur Islamfeindlichkeit folgten. Benz: „Die strukturellen und methodischen Mittel,  mit denen Muslime in Deutschland diffamiert werden, ähneln denen, mit denen vor dem Dritten Reich Juden diffamiert wurden. Mit den gleichen Vorurteilen nach dem Motto: ‚Die sind wegen ihrer Religion schlecht.‘“ Und: „Was wäre eine Erinnerungskultur wert, wenn man daraus nicht lernen würde, dass man Minderheiten nicht diskriminieren darf, egal vor welchem Hintergrund.“

Wolfgang Benz, geboren 1941 in Ellwangen, war von 1990 bis 2011 Leiter des Zentrums für Antisemitismusforschung der TU Berlin. Benz hat wegweisende Forschungen über die Geschichte und über Vorurteile in der Gegenwart erbracht. Mehr als 200 Werke hat Benz verfasst oder herausgegeben. Darüber hinaus hat Benz es wie wenige andere Akademiker geschafft, seine Ergebnisse einer breiten Öffentlichkeit in verständlicher Form zugänglich zu machen. Im Zentrum der Arbeit von Benz steht die Zeit des Nationalsozialismus, doch behält er immer einen Blick und einen Bezug auf die gesellschaftliche Gegenwart. Nach wie vor gibt er den öffentlichen Debatten zum Nationalsozialismus, zu Extremismus, Antisemitismus und zur Fremdenfeindlichkeit wichtige Impulse.  Immer wieder meldet er sich zu Wort, wenn er demokratische Prinzipien und Rechte von Minderheiten gefährdet sieht.

Preisträger Prof. Dr. Wolfgang Benz (re.) mit seinem Laudator Prof. Dr. Bernd Faulenbach

Reden

Bernd Faulenbach: Laudatio auf Wolfgang Benz

"Wir verleihen heute den Preis von „Gegen Vergessen – Für Demokratie“ zum 8. Male. Die Preisträger sind eine bunte Reihe von Persönlichkeiten, Gruppen und Institutionen, von Johannes Rau über die Prinzen, das Maximilian-Kolbe-Werk und Feliks Tych bis zu Rafik Schami. Zum zweiten Mal geht der Preis an einen Historiker, diesmal an den deutschen Historiker Wolfgang Benz. Was ist es, was diesen Wolfgang Benz aus der Sicht unserer Vereinigung auszeichnet? Dazu einige Punkte, die indes nicht den Anspruch erheben, Wolfgang Benz und seine großen Leistungen im Prozess der Auseinandersetzung mit der Geschichte des 20. Jahrhunderts hinreichend zu würdigen, doch klar machen sollen, worin wir die herausragende politisch-gesellschaftliche Bedeutung seines Wirkens sehen.

Schaut man nach den groben Daten, so wirkt die Biographie von Wolfgang Benz – wie bei anderen seiner Generation – eher unspektakulär. Geboren 1941 in Ellwangen, Studium der Geschichte, Politischen Wissenschaft und Kunstgeschichte in Frankfurt a. M., Kiel und München, wo Benz bei Karl Bosl promovierte. Von 1969 bis 1990 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Zeitgeschichte, der lange bedeutendsten deutschen Forschungseinrichtung im Bereich der Zeitgeschichte, zuletzt dort stellv. Institutsdirektor. Schließlich von 1990 bis 2011 Professor für Zeitgeschichte und Leiter des Zentrums für Antisemitismusforschung an der TU Berlin, die er zu einer wichtigen Einrichtung ausbaute. Zwischenzeitlich war Benz 1986 Gastprofessor an der University of South Wales in Sydney und 2007 Gastprofessor am Sir Peter Ustinov Institut zur Bekämpfung von Vorurteilen der Universität Wien. Doch ist mit diesen Daten im Hinblick auf Wolfgang Benz Rolle in Wissenschaft und Gesellschaft nur wenig gesagt.

Ordnet man Wolfgang Benz historiographisch-generationell ein, so gehört er – wenn man so will – zur dritten Generation der deutschen Zeithistoriker nach dem Zweiten Weltkrieg: nach der Gründergeneration um Rothfels, Eschenburg u. a. und der Generation der „1945er“, wie Dirk Moses formuliert hat, zu der Karl-Dietrich Bracher, Martin Broszat, Hans Mommsen, Hermann Graml u. a. gehören, ist er Repräsentant der dritten Generation – die anders als die vorhergehenden die NS-Zeit nicht mehr – auch nicht als Kind – bewusst erlebt hat, wohl aber deren Folgen. Diese Generation ist im Schatten der Trümmer des Krieges und politisch-moralischen Verwüstungen, die die NS-Politik angerichtet hat, aufgewachsen, in einer sich zunehmend zivilisierenden und demokratisierenden, vor allem aber prosperierenden Gesellschaft voller Widersprüche. Unter den Zeithistorikern dieser Nachkriegsgeneration ist dann seit den 60er Jahren nicht nur die Frage, wie kam Hitler zur Macht, sondern verstärkt auch die Frage, wie kam es zu den NS-Verbrechen, wie kam es zum Holocaust, als eigentliche Herausforderung begriffen worden. Diese Generation – dies ist bei Wolfgang Benz exemplarisch erkennbar – hat die kritischen Fragen zur Zeitgeschichte – mit größerer Unbefangenheit und Radikalität als die vorhergehenden Generationen – stellen können und wohl auch stellen müssen.

Wolfgang Benz ist mehr als ein Repräsentant dieser Generation; er ragt vielmehr aus ihr als ein Mann mit einem besonderen eigenen Profil heraus. Lassen Sie mich sechs für Benz charakteristische Züge nennen.

Erstens: Wolfgang Benz ist der Verfasser eines gewaltigen wissenschaftlichen und publizistischen Œuvres. Man spricht von mehr als 200 Büchern die er geschrieben oder herausgegeben hat (ich habe die Zahl nicht überprüft). Die bislang erschienenen Veröffentlichungen imponieren auch wegen des zeitlichen Rahmens auf den sie sich beziehen: auf die Weimarer Republik, die NS-Zeit, die Nachkriegsepoche – sie gehen dabei häufig über den deutschen Rahmen hinaus – und weisen eine europäische Dimension auf. Zu den Themen gehören u. a. Bayern in der Weimarer Zeit, die NS-Besatzungspolitik und der NS-Terror, der Holocaust, der Widerstand, das Exil der kleinen Leute, die Potsdamer Konferenz, die Gründung der Bundesrepublik und der DDR, die Deutschlandpolitik, Flucht und Vertreibung sowie der Rechtsextremismus und Antisemitismus. Die Arbeiten reichen von gelehrten Untersuchungen über große Synthesen aus eigener Feder oder in verantwortlicher Herausgeberschaft veröffentlichte Kompendien bis zu Essays und anderen Interventionen in den historischen oder auch politischen Diskurs. Ich räume gerne ein, dass ich überrascht war, wie viel Bücher oder andere Publikationen von ihm ich in meiner privaten Bibliothek gefunden habe – Bücher, mit denen ich häufig gearbeitet habe.

Zweitens: Wolfgang Benz ist ein Autor der Zeitgeschichte, dessen Arbeiten immer eine wissenschaftliche Fundierung aufweisen und doch vielfach eine bemerkenswerte Lehrer- oder Zuhörerbezogenheit bzw. eine Praxisbezogenheit für den Lehrbetrieb aufweisen. Wolfgang Benz hat mit seinen Veröffentlichungen im Laufe der Jahre nicht nur Zigtausende, sondern Hunderttausende auf die eine oder andere Weise erreicht. Benz hat nie im sprichwörtlichen Elfenbeinturm gesessen, wohl aber im Archiv, dabei das mühsame Geschäft des Historikers betreibend, mit Hilfe der Quellen nicht nur Vorgänge auf der Ebene der Fakten zu klären, sondern sie auch zu interpretieren und damit Geschichte zu erklären. Dem Faktenpositivismus mancher Zeithistoriker ist er nicht erlegen. Neben der Forschungsarbeit im engeren Sinne hat er viele Bücher geschrieben, die größere Zusammenhänge darzustellen suchen: zu erwähnen sind Beiträge zur Fischer-Weltgeschichte oder zur Reihe Deutsche Geschichte der Neuesten Zeit oder zu Gebhardts Handbuch der deutschen Geschichte in der Neuauflage. Zu nennen wäre auch seine Geschichte des Dritten Reiches oder auch das Buch über den Holocaust oder die von Benz herausgegebene 4-bändige Geschichte der Bundesrepublik in Längsschnitten. Nicht zu vergessen Nachschlagewerke wie das von ihm mitherausgegebene biographische Lexikon zur Weimarer Republik, die Enzyklopädie des Nationalsozialismus und das Lexikon des deutschen Widerstandes – überaus nützliche Werke, in deren Konzeption, Organisation und Redaktion viel Arbeit steckt.

Wolfgang Benz ging und geht es darum, nicht nur wissenschaftliche Kenntnisse über die neueste Geschichte zu verbreiten, sondern aufgeklärtes historisch-politisches Bewusststein zu stärken. Unzählige Vorträge hat er vor großem und kleinem Publikum in Volkshochschulen, Akademien, Schulen und sonstigen Bildungseinrichtungen zu zeitgeschichtlichen Themen gehalten. Auch bei vielen Regionalen Arbeitsgruppen von Gegen Vergessen – Für Demokratie war er ein oft und gern gesehener Gast. Dieses Engagement ist für unsere Vereinigungdie die Erinnerung an die Katastrophen des 20. Jahrhunderts wach halten möchte, eine eminent wichtige Dimension des Wirkens des Historikers Wolfgang Benz.

Drittens: Wolfgang Benz ist ein großer Wissenschaftsorganisator und –anreger. Einiges davon habe ich schon angesprochen. Besonders hervorheben möchte ich die 9 von ihm mitherausgegebenen Bände „Der Ort des Terrors. Geschichte der nationalsozialistischen Konzentrationslager“, die in den Jahren 2005-2009 erschienen sind. Als ich 1991/92 den Vorsitz der Kommission zur Neukonzeption der Brandenburgischen Gedenkstätten (u. a. Sachsenhausen und Ravensbrück) übernahm, ist mir und den anderen Kommissionsmitgliedern schlagartig bewusst geworden, wie unzureichend diese Lager erforscht und wie disparat und diffus die Forschungsansätze zu diesem Zeitpunkt waren. Dass hier wissenschaftliche Arbeit angeregt und koordiniert wurde und die Ergebnisse auch in Bänden zusammengefasst wurden, daran hat Wolfgang Benz wesentlichen Anteil. Er hat damit auch ganz wesentlich zur wissenschaftlichen Fundierung der Gedenkstättenarbeit beigetragen, für die die von ihm mitherausgegebenen Dachauer Hefte ein wesentliches Forum sind. Unbedingt zu erwähnen ist auch das auf 7 Bände geplante Handbuch des Antisemitismus, von dem bisher 4 Bände erschienen sind. Auch wenn man berücksichtigt, dass Benz Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter hatte, diese allerdings zu motivieren hatte, sind diese Projekte doch in erheblichem Maße sein Verdienst.

Viertens: Wolfgang Benz hat sich seit Jahren beim Ausbau der Erinnerungskultur in Deutschland engagiert. Zu nennen ist seine Arbeit in der Gedenkstätte Dachau, u. a. bei der Neukonzeption der neuen Dauerausstellung, in der Fachkommission Brandenburgische Gedenkstätten (in der ich seine konkrete Mitwirkung sehr geschätzt habe) und nicht zuletzt in der Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden Europas, wo der von ihm geleitete Beirat die Stiftung Denkmal mit der deutschen und europäischen Erinnerungskultur zu verknüpfen sucht. Auf der europäischen Ebene harren tatsächlich noch beträchtliche Aufgaben der Zeitgeschichte wie der Erinnerungspolitik.

Fünftens: Wolfgang Benz hat in seiner Eigenschaft als Zeithistoriker und engagierter Bürger immer wieder zu historisch-politischen Streitfragen Stellung genommen. Er ist häufig gefragt worden von den Medien, hat aber auch nicht selten selbst interveniert. Ich erinnere an das von ihm 1985 herausgegebene Buch über „Die Vertreibung der Deutschen aus dem Osten“, das diese gravierende Geschehnisse in historische Kontexte einordnete. Was seine Rolle als befragter Sachverständiger angeht, so denke ich z. B. an die Diskussion über die Zugänglichkeit der Unterlagen von Arolsen, hinsichtlich seiner Interventionen an seinen kritischen Diskussionsbeitrag vor wenigen Monaten zur Erarbeitung einer historisch-kritischen Ausgabe von Hitlers „Mein Kampf“ im Institut für Zeitgeschichte. Das Urteil von Benz ist dabei unabhängig, gut begründet, manchmal zugespitzt, zuweilen auch polemisch oder unbequem, gegebenenfalls ohne Rücksicht auf eine falsch verstandene „political correctness“.

Sechstens: Der Historiker Wolfgang Benz wird geleitet von dem Ethos der Aufklärung. In einer der Festschriften für Benz schreibt ein Autor: „… da glaubt einer beharrlich an den Funken der Vernunft, die Aufklärung, und setzt mit seinen Möglichkeiten auf Bildung und Überzeugung, um Täuschungen, Fehlinformationen und Projektionen, die zur menschlichen Existenz gehören und sich in Verschränkung mit krisenhaften Entwicklungen von Gesellschaften so verhängnisvoll ausgewirkt haben, gegenzusteuern. Nicht als Anweisung oder Verordnung, sondern als ein Angebot.“ Angesichts der engen Verbindung von Geschichte und Politik ist es nicht gleichgültig, welche Urteile und Vorurteile über die jüngste Vergangenheit vorherrschen und auch die gegenwärtige Sicht prägen (ich nenne nur das Stichwort Antisemitismus). Der Zeithistoriker betreibt sein methodisch reflektiertes Geschäft in der doppelten Absicht, den Menschen, insbesondere auch den Opfern Gerechtigkeit und Anerkennung zuteil werden zu lassen, der gegenwärtigen Gesellschaft aber ein realistisches Bild von den vielfach verheerenden Prozessen des 20. Jahrhunderts zu liefern und fortbestehende oder neuendstehende Vorurteilsstrukturen und Diskriminierungsmechanismen entgegenzuwirken.

Dass hinter dem Ethos des Zeithistorikers Benz eine vielschichtige, ausgesprochen humorvolle, manchmal fast etwas kauzige Persönlichkeit steht, über die viele Geschichten kursieren, weiß jeder, der mit Benz schon etwas mehr zu tun hatte. Salomon Korn hat Benz als das bezeichnet, was man im Jiddischen mit dem höchsten Ehrbegriff belegt: „a mensch“.

Wolfgang Benz hat erheblichen Anteil am Stand heutigen zeithistorischen Wissens und seiner Verbreitung in unserer Gesellschaft. Allerdings geht die Geschichte weiter, neue Fragen sind entstanden, die auch wieder Konsequenzen für das zeithistorische Arbeiten haben. Auch wachsen neue Generationen heran. Wolfgang Benz oder doch Historiker seines Typs werden weiterhin gebraucht, die sich nicht mit der Feststellung von Fakten begnügen, sondern nach Strukturen, Prozessen, Zusammenhängen und Konsequenzen für die Gegenwart fragen, die nicht nur zeithistorisches Wissen mit Engagement zu verbreiten suchen, sondern sich politisch-gesellschaftlich einmischen, was selbstverständlich auch die Gefahr des eigenen Irrtums nicht per se ausschließt, wie ihm bewusst ist.

Wir haben Wolfgang Benz für seine Arbeit und sein Engagement sehr zu danken. Ich gratuliere Wolfgang Benz auch persönlich ganz herzlich zur Verleihung des Preises von „Gegen Vergessen – Für Demokratie“."

Laudator Prof. Dr. Bernd Faulenbach (li.) mit dem Preisträger Prof. Dr. Wolfgang Benz. Foto: Conny Baeyer

Wolfgang Benz: Dankesrede zur Verleihung des Preises Gegen Vergessen - Für Demokratie

"Es gibt viele Gründe, nach dem Genuss von Bernd Faulenbachs Laudatio, keine Rede zu halten. Zu dementieren gäbe es manches an dem Bild, das in zu schönen Farben gemalt ist, das eine Lichtgestalt zeichnet, die in Wirklichkeit unscheinbarer ist und die Verdienste, die ihr zugeschrieben wurden, möglicherweise gar nicht oder so nicht hat.

Gründe, jetzt zu schweigen, gibt es mehrere. Persönliche und Prinzipielle. Zu den persönlichen gehört, dass ich von Gefühlen der Dankbarkeit für die erfahrene Anerkennung überwältigt, dass ich beschämt wegen des Lobes bin, das über mich gesprochen wurde. Zu den prinzipiellen Gründen gehört in erster Linie die Gefahr, die Reputation zu beschädigen: Wir erinnern uns an einen Schriftsteller, der dachte, die Gelegenheit der Preisverleihung sei richtig, um wahre Gesinnung zu äußern und kräftig vom Leder zu ziehen. Anschließend, als das Porzellan zerschlagen war, gab es viele Mühen und reichlich Verdruß.

Aber einige Worte des Dankes sind unerlässlich, auch der Rührung, weil ich mich verstanden fühle. An Anfeindungen litt ich keinen Mangel, aber wenn man sich bestätigt fühlt und bestärkt wird, sich auf dem richtigen Wege zu befinden, dann hat auch das seinen hohen Wert. Ich spreche davon, dass mein Eintreten für die Menschen- und Bürgerrechte von Muslimen in unserer Gesellschaft heute erheblich populärer ist als vor einigen Jahren.

Die Erkenntnis, dass wir nicht eine weltweit bewunderte Erinnerungs- und Gedenkkultur errichten können, den Opfern des Nationalsozialismus trauernd die Reverenz erweisen, aber mit den gleichen Methoden und den strukturell gleichen Vorurteilen und Feindbildern, die einst der Diskriminierung der Juden diente, muslimischen Einwanderern Feindschaft und Hass entgegenbringen, diese Erkenntnis breitet sich aus, wie ich auch den Reaktionen auf mein kürzlich erschienenes Buch „Die Feinde aus dem Morgenland“ entnehmen darf. Ich bin zuversichtlich, dass die Hassprediger, die den Islam mit Stumpf und Stil ausrotten und die Muslime verjagen möchten, weiter an Boden verlieren, auch wenn sie im Internet und in anderen Medien rumoren.

Was wäre unsere Erinnerungskultur wirklich wert, wenn wir nicht die Lehre aus der Geschichte zögen, dass man Minderheiten nicht diskriminieren, stigmatisieren, verfolgen darf. Wir müssen, das ist meine Nutzanwendung aus der Geschichte, die mich seit Jahrzehnten beschäftigt, allen Gruppen mit Empathie und Toleranz begegnen, seien es Juden oder Sinti und Roma, Asylbewerber, Muslime oder andere Minderheiten. Sozialdarwinismus à la Sarrazin ist keine Methode, soziale Probleme zu lösen und die Ethnisierung sozialer Probleme in einem neuen Kulturrassismus ist kein Konzept zur Integration. Aber auch auf dem Feld der Erinnerung ist noch manches zu tun. Es gibt Verfolgtengruppen wie die „Asozialen“, denen noch keine oder nicht genug Gerechtigkeit widerfahren ist, um nur ein Beispiel zu nennen. Und wir müssen Wege finden, den Opfern kommunistischer Herrschaft Reverenz zu erweisen, ohne Opferkonkurrenz zu fördern und ohne falsche Vereinfachungen.

Dass noch erheblicher Bedarf an Aufklärung, Friedensstiftung und Integration besteht, erweist sich immer wieder, der Konflikt um die Gedenkstätte Leistikowstraße in Potsdam ist ein aktuelles Indiz für die Probleme, auch dafür, dass die Verständigung zwischen Zeitzeugen und Historikern, zwischen denen, die Geschichte erfahren haben, davon oft traumatisiert sind und denen, die Geschichte dem Publikum vermitteln, schwierig ist. Wenn der Anspruch auf Deutungshoheit — weil man Opfer war — mit der Fachkompetenz der Historiker zusammenprallt, wird es schwierig. Nicht mit dem kalten Auge des Chirurgen wolle er als Opfer der Geschichte betrachtet werden, forderte jüngst ein Zeitzeuge, er habe schließlich erlitten, was Historiker nur aus Akten und Büchern wüssten. Ich beobachte mit Sorge die Konkurrenz zwischen Historikern und Zeitzeugen, weil dabei die historische Wahrheit leiden kann. Ein Beispiel ist die Leidensgeschichte eines ehemaligen Häftlings des KZ Dachau, der schließlich zum Gefangenen seiner obsessiven Erinnerung wurde, die von Interessenten medial vereinnahmt und publizistisch ausgeschlachtet wurde. Die Geschichte des Martin Zaidenstadt, der im Dachauer KZ die Stimmen der Opfer in der Gaskammer gehört haben will und der dies gierigen Zuhörern täglich erzählte, ist wegen ihrer Dramatik und der damit verbundenen Schuldzuweisung an die Gedenkstätte und an die Historiker wirkungsvoller als die Wahrheit.

Die Gaskammer in Dachau hat zwar existiert, aber sie war nie in Betrieb, die Schreie, die der traumatisierte und verwirrte Zeitzeuge gehört hat, sind nie erklungen. Aber er hat mit seiner Geschichte verbreiteten  Erwartungen entsprochen, wurde zum Helden eines Buches und eines Filmes, deren Autoren der vermeintlichen Authentizität des Opfers mehr vertrauten als den Forschungsergebnissen von Historikern. Es ging ihnen nicht um die Wahrheit — die grauenvoll genug ist — es ging einem israelischen Filmteam und einem amerikanischen Buchautor um die Steigerung des Schreckens, um die Sensation der Geschichte,  die sie als die höhere Wahrheit erkannt zu haben glaubten (wenn man ihnen nicht einfach den Zynismus von Voyeuren unterstellt, denen kein Unglück groß genug sein kann). Die Geschichte Martin Zaidenstadts ist Ausdruck der Erwartungen eines Publikums, das unbedingt und ausschließlich der Erinnerung der Zeitzeugen vertraut, diese damit für Deutungen ebenso benutzt wie missbraucht. Mythen verkaufen sich besser als die historische Wahrheit. Das ist eine schmerzliche Erkenntnis.

Ich möchte Ihnen allen herzlich danken für den Preis und die Anerkennung und Zuwendung, die er ausdrückt. Und ich will Ihnen auch verraten, was mit dem Preisgeld geschehen wird. Es darf natürlich nicht dem privaten Konsum zugeführt werden, auch nicht, wenn der Empfänger Rentner ist. Ich bin glücklich, dass mit dem Geld des Preises ein Projekt auf den Weg gebracht werden kann, das auch im Sinne unseres Vereins realisiert werden muss: 1945 — 1947 sind eindrucksvolle Berichte über den Holocaust entstanden, die noch nie in deutscher Sprache publiziert wurden. Es sind die Texte der polnisch-jüdischen Historischen Kommission, die in polnischer und jiddischer Sprache veröffentlicht wurden. Diese frühen Zeugnisse sind besonders authentisch, sie berichten über die Vernichtungslager Belzec, Sobibor und Treblinka, über den Aufstand im Ghetto Warschau, über die Vernichtung der Juden in Lemberg und in Bialystok. Diese Berichte zu veröffentlichen ist ein Desiderat, nicht nur der Forschung, sondern auch und vor allem der öffentlichen Aufklärung. Verlage sind an derlei Texten wenig interessiert, das steht im Gegensatz zur öffentlichen Huldigung an die Institution des Zeitzeugen. Mithilfe dieses Preises, für den ich tiefbewegt danke, kommen wir dem Ziel der Edition dieser Zeitzeugenberichte ein gutes Stück näher."