Zwangsarbeit 1939-1945. Erinnerungen und Geschichte

Ein digitales Interviewarchiv und seine Bildungsmaterialien

Das digitale Interview-Archiv „Zwangsarbeit 1939-1945. Erinnerungen und Geschichte“ bewahrt die Erinnerung an über zwölf Millionen Menschen, die für das nationalsozialistische Deutschland Zwangsarbeit geleistet haben. Unter www.zwangsarbeit-archiv.de stehen lebensgeschichtliche Interviews mit 590 ehemaligen KZ-Häftlingen, Kriegsgefangenen und ‚zivilen’ Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeitern aus 27 Ländern zur Verfügung. Unter dem Titel „Zeitzeugen-Interviews für den Unterricht“ haben die Freie Universität Berlin und die Bundeszentrale für politische Bildung jetzt Bildungsmaterialien herausgebracht, mit denen die Geschichte der Zwangsarbeit in den Schulen anschaulich vermittelt wird.

Der Interview-Bestand
Das Online-Archiv „Zwangsarbeit 1939–1945“ basiert auf einer Interview-Sammlung, die 2005/2006 im Rahmen des Projekts „Dokumentation der Lebensgeschichten ehemaliger Zwangs- und Sklavenarbeiter“ der Stiftung „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“ entstand. Unter der Regie von Alexander von Plato vom Institut für Geschichte und Biographie der Fernuniversität Hagen führten Teams von 32 Initiativen und Institutionen die Gespräche in 25 verschiedenen Sprachen. Die 583 Interviews, davon 190 Video- und 393 Audioaufzeichnungen, bilden die wohl größte Sammlung mit lebensgeschichtlichen Interviews zur nationalsozialistischen Zwangsarbeit.
Die meisten Interviews fanden in der Ukraine (82), Polen (78) und Russland (70) statt. Etwa ein Drittel der Interviewten waren Häftlinge von Konzentrationslagern. Die ausführlichen lebensgeschichtlichen Interviews dauerten durchschnittlich drei bis vier Stunden; meist fanden sie in der Wohnung der Befragten statt. Jedes Interview wird erschlossen durch Kurzbiografie und Transkript. Ferner liegen insgesamt über 4000 Scans von Fotografien und Dokumenten vor.

Der Aufbau des Online-Archivs
Seit Herbst 2007 arbeitet die Stiftung „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“ in Kooperation mit der Freien Universität Berlin und dem Deutschen Historischen Museum an der Archivierung, Digitalisierung, Übersetzung, Erschließung, Bereitstellung und didaktischen Aufbereitung der Interviews.
Das Online-Archiv wird dabei vom Center für Digitale System der Freien Universität entwickelt: Nach der Digitalisierung der Audio- und Videobänder werden die Interviews mittels Aufhellung und Rauschunterdrückung qualitativ nachbearbeitet und in internetfähige Dateiformate übertragen. Um die Mediendateien durchsuchbar zu machen, werden sie an das Transkript gekoppelt, d. h. zu jedem Satz oder Absatz wird der exakte Timecode in den Text eingetragen. Im Ergebnis dieser zeitbezogenen Segmentierung des Transkripts laufen Medien- und Textdatei parallel, sind Volltextsuche und Untertitelung – freilich nicht auf Kinofilm-Niveau – möglich. Die vom Osteuropa-Institut der Freien Universität koordinierte Übersetzung erfolgt anhand des zeitcodierten Transkripts; die bereits von den ursprünglichen Interviewprojekten übersetzen Interviews werden nachträglich mit dem Timecode versehen.

Für die inhaltliche Erschließung werden Personen-, Orts-, Lager- und Firmenregister entwickelt. Zur besseren Orientierung innerhalb der durchschnittlich 3,5 Stunden langen Interviews werden die Berichte mit einer speziell entwickelten Erschließungssoftware in Hauptabschnitte und Unterkapitel gegliedert. Aus diesen Haupt- und Zwischenüberschriften entsteht ein Inhaltsverzeichnis, das dem Gesprächsverlauf, nicht unbedingt aber der zeitlichen Chronologie folgt. Damit wird eine zielgerichtete thematische Recherche ermöglicht, zugleich aber ein Überblick über die Gesamterzählung und damit ein respektvolles Verständnis des Interviews als biografisches Zeugnis unterstützt.
Aus Gründen des Persönlichkeitsschutzes müssen sich die Nutzerinnen und Nutzer anmelden, ehe sie auf der deutsch- und englischsprachigen Online-Plattform in den Interviews recherchieren können. Die Interviews können als Streaming-Dateien angehört bzw. angesehen werden; Transkriptionen, Übersetzungen und Kurzbiografien stehen als PDF-Dateien zum Download bereit. Eine zukünftige Version der Plattform wird das Speichern von Suchergebnissen und die Kommentierung von Interviews ermöglichen.

Ein digitales Archiv für Bildung und Wissenschaft
Die Interviewsammlung wird in Forschung, Lehre, Ausstellungen und Bildung bereits vielfach genutzt. Schon im Wintersemester 2008/09 gab es eine erste Lehrveranstaltung am Osteuropa-Institut der Freien Universität. Das Online-Archiv eignet sich auch überregional für Lehr- und Forschungsprojekte zur Lokalgeschichte, zum Vergleich von Erinnerungskulturen, zur Genderforschung oder für Sprachanalysen, um nur einige Möglichkeiten zu nennen.
Das Deutsche Historische Museum zeigt seit Anfang 2009 ausgewählte Interviewausschnitte auf einer Multimedia-Station in seiner Berliner Dauerausstellung. Auch Ausstellungen in Berlin-Schöneweide, Oberhausen oder Maxhütte-Haidhof nutzten Materialien aus dem Interview-Archiv „Zwangsarbeit 1939-1945“. Einen wichtigen Raum nehmen die Erinnerungen ein in der internationalen Wanderausstellung „Zwangsarbeit. Die Deutschen, ihre Zwangsarbeiter und der Krieg“, die nach ihrer Station im Jüdischen Museum Berlin auch im Ausland zu sehen sein wird.

Die Bildungsmaterialien „Zeitzeugen-Interviews für den Unterricht“
Die Aufbereitung der Interviews für die schulische Bildung lag vielen Interviewten besonders am Herzen. Viele hatten nie die Gelegenheit, von ihren Erfahrungen zu berichten, und fanden erst mit großem zeitlichem Abstand interessierte Zuhörer. Sie unterzogen sich den Mühen eines lebensgeschichtlichen Interviews, um ihre Geschichte an zukünftige Generationen weiterzugeben. In den Lehrplänen der Schulen ist die NS-Zwangsarbeit aber kein vorgeschriebenes Thema. Trotz der Debatte um die Entschädigung ist die Ausbeutung von über zwölf Millionen Menschen für die deutsche Kriegswirtschaft im Geschichtsunterricht noch wenig präsent. Die nun von der Freien Universität entwickelten Bildungsmaterialien unterstützen kompetenzorientiertes Lernen im Regelunterricht, bei Projekttagen und Präsentationsprüfungen. Sie richten sich an 14- bis 18-jährige Schülerinnen und Schüler aller Schularten aller Bundesländer.
 
Die Doppel-DVD „Zeitzeugen-Interviews im Unterricht“ führt Schülerinnen und Schüler ab der 9. Klasse auf zwei Wegen an Thema und Quellengattung heran: Auf einer Video-DVD berichten fünf Überlebende von ihren Erfahrungen in Lagern und Fabriken; Hintergrundfilme informieren über Zwangsarbeit, Entschädigung und die Entstehung der Interviews.
Die Lernsoftware für die Projektarbeit im Computerraum oder die individuelle Prüfungsvorbereitung bietet zusätzlich Aufgaben und Karten, Zeitleiste und Lexikon, Transkripte und Fotos, Infotexte und Methodentipps. Ein Lehrerheft hilft mit Informationstexten, Aufgabenvorschlägen und Arbeitsblättern bei der Vorbereitung.
Die biografisch und quellenkritisch orientierten Bildungsmaterialien verbinden die Anschaulichkeit gefilmter Zeitzeugen-Interviews mit der Interaktivität digitaler Medien. Audiovisuell aufgezeichnete und didaktisch aufbereitete Erinnerungsberichte können ein persönliches Gespräch mit Überlebenden des Nationalsozialismus nicht ersetzen. Sie geben Schülerinnen und Schülern aber Spielraum für eine aktive Quellenarbeit, für kritische Analysen und eigene Deutungsversuche. Das Online-Archiv „Zwangsarbeit 1939-1945“ und die Bildungsmaterialien „Zeitzeugen-Interviews für den Unterricht“ schaffen hierfür eine Arbeitsumgebung, geben Anregungen und werfen Fragen auf.

Informationen unter www.zwangsarbeit-archiv.de

Dr. Cord Pagenstecher ist Mitarbeiter des Projekts "Zwangsarbeit 1939-1945" an der Freien Universität Berlin.