Zum 22. Juni 2011

Zwanzig Jahre sind eine lange Zeit im Leben eines Menschen. Im Rückblick gesehen, sind zwanzig Jahre schnell vergangen. In zwanzig Jahren verändert sich die Gesellschaft, auch in friedlichen Zeiten. Eine neue Generation übernimmt Gestaltung und Deutung von Politik und Öffentlichkeit, Erziehung und Wissenschaft.

Zwanzig Jahre sind vergangen, seitdem der Förderverein für Internationale Jugendbegegnung in Dachau anlässlich des 50. Jahrestages des Überfalls der Deutschen Wehrmacht auf die Sowjetunion am 22. Juni 1941 zum ersten Mal auf diesem Gelände eine Gedenkfeier organisierte. Ein halbes Jahrhundert nach dem Geschehen erfuhren die sowjetischen Opfer, die hier von Angehörigen der Dachauer Lager-SS grausam niedergemetzelt worden waren, zu diesem Jahrestag eine öffentliche Würdigung. Zwar hatten die deutschen Überlebenden des KZ Dachau im Jahr 1964 hier das schlichte Mahnmal des Münchner Künstler Will Elfes errichtet. Aber das Gelände, das nach der Befreiung zunächst als Übungsschießplatz der US-Armee und anschließend als Abenteuerspielplatz für Kinder und Jugendliche gedient hatte, wurde 1965 nicht unter die Obhut der neu geschaffenen Gedenkstätte Dachau gestellt, wie beispielsweise der KZ-Friedhof auf dem Leitenberg. Es blieb vergessen und verwahrlost wie das ehemalige Gebäude der SS, das bis heute als Unterkunft für Obdachlose der Stadt Dachau dient.

Sprecher bei der Veranstaltung am 22. Juni 1991 war der damals 79jährige Klaus von Bismarck, Urgroßneffe des Eisernen Kanzlers, der – zusammen mit befreundeten Offizieren – in Russland die Ausführung eines Befehls „sowjetische Kommissare“ sofort zu erschießen, ohne nachteilige Folgen für sich und seine Freunde verweigert hatte. Als Intendant des WDR, Vorsitzender der ARD, Präsident des Evangelischen Kirchentages und langjähriger Präsident des Goethe-Instituts, hatte er sich nach dem Krieg vor allem für die Aussöhnung mit Osteuropa eingesetzt.

Diese Gedenkfeier markierte zusammen mit der, in den vorausgegangenen Jahren durchgeführten Spurensuche jugendlicher Teilnehmer des internationalen Jugendbegegnungszeltlagers den Beginn einer sich langsam entwickelnden öffentlichen Auseinandersetzung mit dem historischen Erbe dieser Stätte.
Es war kein Zufall, dass die Auseinandersetzung mit der so lange „vergessenen“ Opfergruppe im Jahr 1991 ihren Anfang nahm. Der Kalte Krieg war endgültig zu Ende, der Eiserne Vorhang gefallen und erst jetzt konnten sich die dahinter verschwundenen ehemaligen KZ-Überlebenden zu Wort melden. Es waren entweder Soldaten der Roten Armee, die den Mord- und Hungeraktionen entgangen, aber in Kriegsgefangenschaft geraten waren oder Männer, Jugendliche und Kinder, die zur Zwangsarbeit nach Deutschland gebracht und schließlich ins KZ verschleppt worden waren. Nach ihrer Befreiung waren sie zwangsweise in ihre Heimat zurückgeführt worden und als Überlebende eines deutschen Konzentrationslagers generell der Kollaboration mit den Deutschen verdächtigt. Sie wurden auf vielfältige Weise weiterhin diskriminiert, nicht selten erneut inhaftiert oder zur Zwangsarbeit gezwungen. Unter kommunistischer Herrschaft waren sie nahezu ein halbes Jahrhundert gezwungen gewesen, Schweigen über ihr Verfolgungsschicksal zu bewahren. Sie lebten nach ihrem Ausscheiden aus dem Berufsleben zumeist in bitterer Armut und ohne ausreichende medizinische Versorgung. Ihre Hoffnung auf Hilfe und Entschädigung für erlittenes Leid richtete sich dann in den 1990er Jahren auf die wohlhabende Bundesrepublik Deutschland und in vielen Fällen direkt an die Orte, an denen sie geschunden worden waren: die Stätten der Konzentrationslager. Gleichzeitig begaben sich die ehemaligen sowjetischen Häftlinge auf die Suche nach ihrer eigenen, so lange verschütteten Verfolgungsgeschichte.

Ein Jahr nach der ersten Gedenkfeier kam dann auf Einladung des Dachauer Fördervereins für Internationale Jugendbegegnung in Dachau die erste Gruppe von 11 Überlebenden des Konzentrationslagers Dachau aus ehemaligen Ländern der Sowjetunion für einige Tage hierher. Unter ihnen war auch Arkadij Petrowitsch Poljan, dessen bewegende Bitte um eine Einladung nach Dachau ein wichtiger Anstoß für das Projekt gewesen war. Er wurde, wie er schrieb, drei Jahre „ohne Urteil und Untersuchung“ im KZ festgehalten. „Nach all dem von mir Durchlittenen bleibt mir die Verpflichtung gegenüber meinen Freunden und Kameraden aus dem Widerstand, die in den faschistischen Lagern gestorben sind. Ich als Überlebender bin meinen toten Kameraden gegenüber verpflichtet, mich vor ihrem brüderlichen Grab zu verbeugen.“ Zwei Jahre nach seinem Besuch in Dachau starb Arkadij Poljan in Odessa an Krebs.

Diese erste Besuchergruppe überlebender Häftlinge aus der ehemaligen Sowjetunion nahm an der Gedenkfeier anlässlich des 47.Jahrestages der Befreiung teil. Sie legte Blumen hier am Schießplatz nieder, suchte nach Spuren ihrer Erinnerungen und berichtete über diese Erinnerungen, die sie in Dachau auf dem Gelände des ehemaligen Lagers oder auch an früheren Arbeitsplätzen oftmals mit unerwarteter Heftigkeit überfielen. Die Zeugnisse ihrer Verfolgungsgeschichten werden im Archiv der Gedenkstätte bewahrt. Darüber hinaus war es allen ein Bedürfnis, jungen Deutschen über ihr Schicksal zu erzählen. Sie erlebten das ihnen entgegen gebrachte Interesse als freudige Überraschung. In den zwei darauf folgenden Jahrzehnten, in denen diese Besuche jährlich stattfinden konnten, wurde das Wissen über die sowjetischen Häftlinge des Lagers Dachau Stück für Stück erweitert und ergänzt. Trotzdem ist im Rückblick festzustellen, dass auch dieses, eher modellhafte Projekt aufgrund des Verschwindens der letzten Überlebenden in naher Zukunft als abgeschlossen betrachtet werden muss. Darüber hinaus waren diese jährlichen Begegnungen zwar für alle Beteiligten in vielfältiger Weise beglückend und bereichernd aber insgesamt gesehen eben doch zu wenig und zu spät. Über das Schicksal der überwiegenden Mehrheit der mehr als 25 000 sowjetischen Staatsbürger, die als Gefangene des Konzentrationslagers Dachau registriert worden waren und von denen etwa 14 000 überlebten, wissen wir, außer ihren Haftdaten, nichts.

Die Überlebenden aus den Nachfolgestaaten der verschwundenen Sowjetunion, die in den 1990er Jahre Dachau besuchten hofften auf Entschädigung für erlittenes Leid im Konzentrationslager und für die, in der nationalsozialistischen Kriegsindustrie geleistete Zwangsarbeit. Als der Deutsche Bundestag im Sommer 2000 nach jahrelangen Auseinandersetzungen schließlich das Gesetz zur Stiftung „Erinnerung Verantwortung und Zukunft“ verabschiedete, mit dem die Deutsche Wirtschaft und der Bund sich zu individuellen Zahlungen an ehemalige Sklaven- und Zwangsarbeiter verpflichtete, herrschte bei den Überlebenden Erleichterung und Hoffnung auf schnelle Hilfe. Zwar wurden laut Bilanz der Stiftung in den Jahren 2001 bis 2007 in fast 100 Ländern 4,4 Milliarden Euro an 1,66 Millionen Menschen ausgezahlt. Doch gab es zahllose Verzögerungen und Verteilungsschwierigkeiten vor allem in Russland, der Ukraine und Weißrussland. Und so bleibt trotz der Genugtuung über die materielle Hilfe, die geleistet wurde und der moralischen Genugtuung die damit verbunden war, das Bedauern, dass so viele der Opfer gestorben waren, bevor die Hilfe sie erreicht hatte und dass etwa sowjetische Kriegsgefangene, die so Entsetzliches erlitten hatten, bis heute jeder Anspruch auf Entschädigung verweigert wird.

Neben dem Wissen über Einzelschicksale ist in den beiden letzten Jahrzehnten auch das Wissen um die historischen Hintergründe, Zusammenhänge und Abläufe des Weltanschauungs- und Vernichtungskrieges, den Nazideutschland gegen die Sowjetunion führte, enorm angewachsen. Die beiden Ausstellungen der Jahre 1995 und 2001 über Verbrechen der Wehrmacht während der Jahre 1941-1944 haben eine breite öffentliche Diskussion angestoßen. In zahlreichen wissenschaftlichen Studien haben darüber hinaus deutsche Historiker, gelegentlich auch in Zusammenarbeit mit russischen Kollegen, die Geschichte der deutschen Verbrechen untersucht.  

Die Geschichte des Verbrechensortes „Schießplatz Hebertshausen“, wo Angehörige der Dachauer Lager-SS in den Jahren 1941/1942 etwa 4500 sowjetische Kriegesgefangene ermordeten, ist heute untersucht und dokumentiert. Die seit Jahren vorgesehene Umgestaltung des Geländes zu einem würdigen Gedenkort steht allerdings immer noch aus. Und die Frage, inwieweit die über so viele Jahre hinweg verdrängte und vergessene Geschichte der sowjetischen Opfer, für das Völkerrecht außer Kraft gesetzt wurde, letztendlich ihren angemessenen Platz in der Erinnerungskultur finden werden, bleibt vorläufig offen.

Barbara Distel