Von der Schwierigkeit des Gedenkens

Ein Lösungsansatz aus Karlsruhe

Seit mehr als zwanzig Jahren gibt es in Karlsruhe Veranstaltungen zum Gedenken an die Reichspogromnacht des Jahres 1938, und seit mehr als 10 Jahren ist die Sektion Nordbaden unserer Vereinigung an den Vorbereitungen dieser Veranstaltungen intensiv beteiligt. Federführend ist die Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit Karlsruhe; auch das Kulturamt der Stadt Karlsruhe, das Kulturzentrum Tollhaus und bis zu zehn weitere Organisationen beteiligen sich alljährlich an den Gedenkveranstaltungen.
„9. November 1938 – 72 Jahre nach der Reichspogromnacht“ ist das Flugblatt überschrieben, mit dem zur Teilnahme an den Veranstaltungen des Jahres 2010 eingeladen wurde. Wie erinnert man an ein Ereignis, das sich vor 72 Jahren in Deutschland zugetragen hat, das mehr als zwei Generationen zurück liegt, für das es kaum noch Zeitzeugen gibt, die in der Lage wären, darüber zu berichten? Und weitaus schwieriger: Wie kann man bei Kindern und Jugendlichen das Interesse daran wecken, sich mit den schlimmen Ereignissen der Pogromnacht zu befassen und mit den noch schrecklicheren danach?
Wir glauben, auf diese Fragen, die sich uns zukünftig immer stärker stellen werden, im Jahr 2010 eine gute Antwort gefunden zu haben. Sie besteht aus drei Teilen, die zusammen gehören. Jeder Teil ist für und in sich sinnvoll, aber erst im Zusammenwirken der drei Teile ergibt sich eine vollständige Antwort auf die erwähnten Fragen. Die drei Teile werden im Folgenden skizziert.

Mahnwache am Platz der ehemaligen Synagoge und Gedenkgebete
Jedes Jahr halten Schüler am 9. November zur Erinnerung an die Reichspogromnacht eine Mahnwache am Platz der ehemaligen Synagoge in der Karlsruher Kronenstraße. Diesmal waren Schülerinnen und Schüler der Rennbuckel-Realschule „dran“. Sie hatten Ihre Mahnwache gründlich vorbereitet, eine kleine Präsentation zur Geschichte der jüdischen Volksschule zwischen 1936 und 1940 mit Fotos von Kindern und Lehrenden erarbeitet und ein Transparent angefertigt, mit dem sie beim Laufpublikum in der Karlsruher Haupteinkaufstraße so große Aufmerksamkeit erregten, dass sich viele Passanten erkundigten, um was es denn hier gehe. So kamen sie mit den Menschen ins Gespräch und erfuhren zumeist Anerkennung für ihre Initiative. Der begleitende Lehrer berichtete, die Reaktionen der Bevölkerung seien in diesem Jahr überwiegend positiv gewesen und diese Resonanz habe die Schüler in ihrem Engagement bestätigt. Zum Bedauern der Schüler seien alle Flugblätter schon um die Mittagszeit verteilt gewesen. Der Karlsruher Oberbürgermeister Heinz Fenrich sagte in einer kleinen Ansprache beim Gedenkgebet am Nachmittag: „Unsere Geschichte verpflichtet uns zu verhindern, dass ein Teil der Bevölkerung noch mal Opfer von Verfolgung und Mord wird.“

Aufführung der Kinderoper "Brundibár"
Seit vielen Jahren stellt das Karlsruher Kulturzentrum „Tollhaus“ seine Räume für die Gedenkveranstaltung an die Pogromnacht kostenlos zur Verfügung. Diesmal fand sie im neuen „Großen Haus“ statt, das 600 Zuschauer fasst und beinahe ganz gefüllt war, als die 90 Kinder des Mädchen- und Knabenchores Cantus Juvenum die Kinderoper von Theresienstadt „Brundibár“ von Hans Krása in einer phänomenalen  Inszenierung von Sebastian Stiebert aufführten. Zuvor stellte die Karlsruher Kulturamtsleiterin Dr. Susanne Asche in ihrer einfühlsamen Begrüßungsrede die Verbindung zwischen Pogromnacht  und Theresienstadt her.
"Es macht Spaß, ist schön", sagte die zwölfjährige Felicitas Pfaus über das Einstudieren von „Brundibár“. Aber: „Wenn man zurückblickt, was da alles passiert ist, ist es doch nicht mehr so arg schön.“ Felicitas und die anderen Chorkinder waren ziemlich genau informiert, „was da alles passiert ist“: dass der Komponist Hans Krása 1942 nach Theresienstadt verschleppt und dann mit einem der berüchtigten Transporte nach Auschwitz dort 1944 ermordet wurde – zusammen mit vielen Kindern, die bei den über fünfzig Aufführungen von „Brundibár“ in Theresienstadt mitgewirkt hatten.
Vielleicht war die Karlsruher Aufführung von „Brundibár“ auch deshalb so großartig und hervorragend, weil die Kinder von Cantus Juvenum wussten, wie viel die Oper den Kindern und den anderen Bewohnern des Ghettos Theresienstadt bedeutet hatte. Sie war zu einem Synonym für Freiheit geworden, sie vermittelte die Hoffnung, dass beim unbedingten Zusammenhalt aller Unterdrückten selbst die schlimmsten Tyrannen besiegt werden können.

Greta Klinsberg, eine überlebende Zeitzeugin, die heute in Jerusalem wohnt, erinnert sich sehr gut an die damaligen Aufführungen. Sie spielte die weibliche Hauptrolle, die Aninka. Sie sagt: „Sehen Sie, in dem Augenblick, in dem wir zu singen begannen, vergaßen wir, wo wir sind. Das ist das Großartige an dieser Oper.“ Und wie wichtig "Brundibár" auch heute noch ist, erklärt Frau Klinsberg so: „Mit Kindern über den Holocaust zu sprechen, hat meiner Meinung nach keinen Sinn, denn das kann sich niemand vorstellen. Wenn sie hingegen diese Oper aufführen lassen und den Kindern erzählen, dass die Kinder von damals bei der Aufführung von Brundibár zum ersten Mal Milch gesehen haben, erstmals davon gehört haben, was eine Schule ist usw., dann ist das greifbar, die Kinder bekommen einen Eindruck. Und das ist gut, finde ich.“
 
Ausstellung: Die Mädchen von Zimmer 28
Begleitend zu "Brundibár" wurde im Foyer des Karlsruher Rathauses die Ausstellung „Die Mädchen von Zimmer 28 – Erinnerung an die Kinder des Ghettos Theresienstadt“ unter dem Motto „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“ gezeigt.
Zwölf bis vierzehn Jahre alt waren die Mädchen, die von 1942 bis 1944 im "Mädchenheim L 410, Theresienstadt" zusammen lebten; 30 Quadratmeter für 30 Mädchen, das war das „Zimmer 28“. Im Mikrokosmos dieses Zimmers spiegeln sich das Schicksal und der Alltag der Kinder im Ghetto Theresienstadt. Zuweilen erlebten die Mädchen das "Zimmer 28" als eine Insel der Freundschaft und der Hoffnung. In der Obhut engagierter Betreuer lernten sie, spielten und sangen sie oder führten die Kinderoper „Brundibár“ auf. Aber die Tragödie war nicht aufzuhalten: Immer wieder wurden Kinder jäh aus ihren Reihen gerissen; sie mussten zum Transport nach Osten antreten. Von den etwa 60 Kindern, die vorübergehend in Zimmer 28 Quartier fanden, haben nur fünfzehn das Kriegsende erlebt!
Die Ausstellung ist hervorragend als Ergänzung zur Aufführung der Kinderoper "Brundibár" geeignet. Nähere Angaben dazu im Internet unter www.room28.org

Weitere<font color="#0066cc"> </font>Informationen:
Geschäftsführung CANTUS JUVENUM KARLSRUHE E.V.:
Ute Kayser-Pfaus, Kreuzstraße 13, 76133 Karlsruhe, Tel: 07269 / 960 102,
E-Mail: kayser(at)cantus-juvenum.de, Internet: www.cantus-juvenum.de

Günter<font color="#0066cc"> </font>Wimmer war bis Dezember 2010 Sprecher der Sektion Nordbaden, RAG Baden-Württemberg.