Volker Mall: "Nach 75 Jahren geklärt: Die Herkunft von Kriegsgefangenen aus Indien"

Im KZ-Außenlager auf dem Flugplatz in Hailfingen tauchten am 10. Februar 1945 aus Indien beziehungsweise Pakistan stammende britische Kriegsgefangene auf. Vermutlich kamen sie vom Stammlager (Stalag) VB Villingen aus hierher. Die genaue Herkunft der Soldaten blieb zunächst ungeklärt. Doch nun konnten wir das Schicksal eines Kriegsgefangenen

mit Namen Mardan Desil nachverfolgen. Im Folgenden der Rechercheverlauf in Schlaglichtern:

Der griechische Zwangsarbeiter Eduard Rock-Tabarowski erinnerte sich in einer späteren Zeugenaussage und in Briefen an die Neuankömmlinge auf dem Flugplatz:

„Unmittelbar nach dem Abtransport der Juden kamen unter der Bewachung von Infanteristen zwischen 200 und 400 <s>engl.</s> indische [durchgestrichen und handschriftlich verbessert, Anm. d. R.] Kriegsgefangene, welche 1942 während des Afrikafeldzugs gefangen genommen worden waren, nach Hailfingen und übernahmen das Lager. […] Die Kriegsgefangenen Inder kamen meiner Erinnerung nach Anfang März oder April 1945 weg“.

Laut Rock-Tabarowski wurden die Soldaten vom Internationalen Roten Kreuz gut versorgt.

Das berichtete auch Eugen Schmid in einem Interview, der von 1975 bis 1999 Oberbürgermeister von Tübingen war. Als Kind war er den Kriegsgefangenen begegnet: „Wir Kinder sind da hingegangen und haben die Leute bestaunt. Die waren in ihren Uniformen, die mussten nichts arbeiten, denen ging es sichtlich gut. Wir haben den Gefangenen Brot gebracht und haben dafür Schokolade bekommen. Daraus konnten wir entnehmen, dass diese Gefangenen wohlversorgt waren. Hinterher haben wir erfahren, dass sich das [I]nternationale Rote Kreuz wohl um diese Gefangenen gekümmert.“

Die britischen Kriegsgefangenen wurden in den umliegenden Orten nur „die Inder“ genannt. Sie wurden im Hangar untergebracht, der von den jüdischen Häftlingen geräumt worden war. Die „Inder“ mussten auf verschiedenen Baustellen arbeiten, unter anderem wohl beim Bau von Flugzeughallen.

Rock-Tabarowski schrieb in einem Brief, dass einer der Soldaten bei einem Fliegeralarm gestorben war: „Er hat einen Beinschuß bekommen. Man hat ihn auf einen Waggon der Feldbahn aufgeladen und zurückgefahren und da hab ich ihn gesehen, ganz voll mit Blut.“

In einer Gräbermeldung von 1946 bestätigt der damalige Bürgermeister von Tailfingen: „Der Inder ist bei einem Fliegerangriff tödlich verwundet worden. Seine Kameraden hatten ihn am Ostermontag [2. April 1945, Anm. d. R.] morgens um 7 Uhr beerdigt. Die ganze Kompanie war dabei und er wurde mit allen Ehren beerdigt. Auf dem Grab ist ein Kreuz. Die Gemeinde hält das Grab in Ordnung.“

Offenbar wurde das Opfer später umgebettet. Martin Lunitz, Geschäftsführer des Landesverbandes Baden-Württemberg des Volksbunds Deutsche Kriegsgräberfürsorge, e.V. vermutete die neue Grabstätte auf dem Durnbach War Cemetry im Ortsteil Dürnbach der Gemeinde Gmund am Tegernsee. Benno Eisenburg aus Gmund suchte für uns im Mai 2017 nach dem Namen Desil auf diesem Friedhof, ohne Ergebnis.

Auch Anfragen bei der Commonwealth War Graves Commission und beim Britischen Konsulat in Stuttgart blieben ohne Erfolg. Wir forschten weiter, befragten das Imperial War Museum, das British Red Cross Museum und die UK National Archives sowie das Militärarchiv Freiburg. Niemand konnte helfen.

Im Januar 2018 fand schließlich die Archivarin Debora Fabriz im Öschelbronner Rathauskeller eine Gräberliste (Einzelgräber) der Kriegsopfer des Zweiten Weltkriegs 1939 bis 1945, erstellt am 12. Februar 1948 vom damaligen Tailfinger Bürgermeister Christian Kienzle. Dort steht in Sütterlin:

Name Mardan Desil

Geburt Indien

Geburtsdatum unbek.

Wohnort Flugplatz

Todestag 31. 3. 1945

Todesort Flugplatz

Tag der Beisetzung

Ostermontag 2. 4. 1945.

Sonderplatz Nr. 2.

Nun fand Martin Lunitz vom Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge einen Treffer auf dem Commonwealth Friedhof Dürnbach. Das Todesdatum 31. März 1945 passte, nur der Name nicht. Dort war statt Mardan Desil der Name Mir Akbar notiert.

Konrad Pflug von der Landeszentrale für politische Bildung wies uns darauf hin, dass Mardan ein Ort im heutigen Pakistan ist und einen Hinweis auf die Herkunft des „Inders“ geben könnte. Eine Publikation über die Indische Armee im Westen half uns weiter. Der Mitautor Steve Rothwell gab uns umfassend Auskunft.

Demnach war Mardan Desil wahrscheinlich Mir Akbar, der Sohn von Sabar Jan von Mayar aus Mardan (heute Pakistan). Er diente im 4. Bataillon des 10. Baluch Regiments. Dieses Regiment war von 1922 bis 1947 Teil der British Indian Army und wurde nach der Unabhängigkeit und Teilung Indiens 1947 in die pakistanische Armee übergeführt. Heute nennt es sich Baluch Regiment. Es kämpfte in Nordafrika und später in Italien. Als Teil der 5. Indischen Infanterie-Division war es im Mai und Juni 1942 an der Gazala-Schlacht („Unternehmen Theseus“) beteiligt. Danach kämpfte es mit der 10. Indischen Infanterie-Division ab März 1944 in Italien.

Vermutlich kam Mardan Desil 1942 in Nordafrika in italienische Kriegsgefangenschaft. Nach Italiens Kapitulation im September 1943 transportierten die Deutschen alle alliierten Kriegsgefangene in deutsche Lager. Von September 1944 bis März 1945 war Mardan Desil im Stalag VC in Offenburg oder eher im Frontstalag 194, das dort vom September 1944 bis zur Befreiung Offenburgs am 15. April 1945 bestand. Dort waren 1944 rund 900 indische Kriegsgefangene. Der Lagerbereich Offenburg von Stalag VC wurde am 24. November 1944 durch Luftangriff zerstört und die Reste des Lagers mit Kriegsgefangenen in den Lagerbereich Villingen des Stalag VB verlegt. Von dort kam Mardan Desil im März 1945 auf den Hailfinger Flugplatz, wo er am 31. März 1945 bei dem erwähnten Fliegerangriff ums Leben kam. Die verschiedenen Namen erklären sich wahrscheinlich damit, dass männliche pakistanische Namen aus religiösen, persönlichen und Familiennamen bestehen, die in beliebiger Reihenfolge kombiniert werden können. Manchmal wird der Familienname weggelassen. „Mir“ ist oft ein Titel. Akbar war möglicherweise sein muslimischer Name. Mardan könnte von der Herkunftsstadt abgeleitet worden sein.

Uns hat der Fall geholfen, etwas mehr über die „indischen Kriegsgefangenen“ auf dem Hailfinger Flugplatz in Erfahrung zu bringen.

 

Volker Mall ist Mitglied der Regionalen Arbeitsgruppe Böblingen-Herrenberg-Tübingen
und Mitinitiator der Gedenkstätte Hailfingen-Tailfingen.

Erschienen in:Opens internal link in current window Zeitschrift Gegen Vergessen - Für Demokratie Ausgabe 99/2019