„Vergessene Rekorde – Jüdische AthletInnen vor und nach 1933“

Eine Wanderausstellung der Universität Potsdam

Jahrzehntelang interessierten sich in Deutschland weder der organisierte Sport noch die Öffentlichkeit für die Lebenswege jüdischer SpitzensportlerInnen und das ihnen zugefügte Unrecht. Erst seit den späten 1980er Jahren setzte ein öffentlich sichtbares Gedenken ein. Die Benennung von Straßen und Sporthallen erfolgte vorwiegend auf Initiative von Kommunen und Gemeinden. Der Sport reagierte vielfach noch später: Das bundesdeutsche NOK lädt 1996 Gretel Bergmann als Ehrengast zu den Olympischen Spielen in Atlanta ein, vier Jahre später erhält sie auf Initiative des TSV Laupheim den Georg-von-Opel-Preis als „Unvergessene Meisterin“. In Berlin erinnert der Berliner Sport-Club seit 2004 an Lilli Henoch und der SC Charlottenburg seit 2006 an Martha Jacob.
Die Professur Zeitgeschichte des Sports erarbeitete vor diesem Hintergrund zur Leichtathletik-Weltmeisterschaft 2009 eine Ausstellung „Vergessene Rekorde – Jüdische Leichtathletinnen vor und nach 1933“. Ihre Premiere feierte sie im Centrum Judaicum zu Berlin. Als Protagonistinnen wählten die Ausstellungsmacher bewusst die bereits oben erwähnten Sportlerinnen Lilli Henoch, Gretel Bergmann und Martha Jacob aus.

Lilli, Gretel und Martha
Sie waren deutsche Weltrekordhalterinnen in der Leichtathletik. Sie waren deutsche, englische, südafrikanische und amerikanische Meisterinnen in den Disziplinen Speerwurf, Diskus, Kugelstoßen, Sprint und Hochsprung. Sie hätten diese internationalen Ehren vermutlich aber gern getauscht mit einem Verbleib unter normalen Bedingungen in ihren Heimatvereinen, dem Berliner SC, dem SC Charlottenburg und dem Ulmer FV 1894, in denen sie sportliche und persönliche Anerkennung gefunden hatten und aus denen sie dennoch im Jahr 1933 als Jüdinnen ausgeschlossen wurden. Die Rede ist von Lilli Henoch, Martha Jacob und Gretel Bergmann, wobei Letztere, die heutige Margaret Lambert, 1936 auch noch um die Olympiateilnahme betrogen wurde, obwohl sie kurz vor den Spielen im Hochsprung mit 1,60m unter widrigen Bedingungen den deutschen Rekord eingestellt hatte. Als sogenannte „Volljüdin“ wurde sie kurz vor den Spielen wegen angeblich unsteter Leistungen aus dem deutschen Olympiateam ausgeschlossen. Sie emigrierte in die  USA. Der DLV erkannte erst nach der Ausstellung „Vergessene Rekorde“ im Juni 2009 in Berlin mit 73-jähriger Verspätung den 1936 aufgestellten deutschen Rekord von Gretel Bergmann an.
Martha Jacob emigrierte schon vor den Olympischen Spielen 1936 über England und die Niederlande nach Südafrika. Beide profitierten von ihren sportlichen Berufsabschlüssen in Deutschland, um sich den Lebensunterhalt im Exil zu verdienen. Auch Lilli Henoch konnte ein Zeugnis der preußischen Hochschule für Leibesübungen in Berlin-Spandau vorweisen. Sie unterrichtete an der jüdischen Volksschule Rykestraße im Prenzlauer Berg als Turnlehrerin, wo sie ihre Schülerinnen u.a. auf die Schulsportfeste im Grunewaldstadion vorbereitete. Sie blieb bei ihren Schülerinnen, die sie als Sportidol anhimmelten, und wurde 1942 ein Opfer des Holocaust.

Die Ausstellung
Mit ihrem biografischen Ansatz ruft die Ausstellung das tragische Schicksal dieser drei jüdischen Sportlerinnen – Emigration bzw. Ermordung – in Erinnerung. Sie würdigt aber auch ihren großen Beitrag für die Entwicklung der deutschen Frauenleichtathletik und betont die Phase der weitgehenden Integration jüdischer Sportler und Sportlerinnen im deutschen Sport während der Weimarer Republik.
Die Ausstellung führt den Nachweis der Integration und späteren Exklusion auch anhand der Biographien männlicher jüdischer Sportler. Unter anderem werden historische Kurzfilme über bekannte jüdische Spitzensportler präsentiert: Zu sehen sind u.a. der Daviscupspieler Daniel Prenn und die beiden Fußballnationalspieler Julius Hirsch und Gottfried Fuchs.
Die inzwischen um sechs audiovisuelle Stationen erweiterte und insgesamt aus 22 Bannern bestehende Ausstellung widerlegt damit die Nazi-Behauptung von der angeblichen sportlichen Unterlegenheit oder sogar Minderwertigkeit der Juden, indem sie an weitere jüdische Spitzensportler erinnert, die unter deutschen Farben Olympiasieger, Europameister oder Nationalspieler im Fußball waren.

 

Der Begleitband
Der Begleitband der Ausstellung ist preiswert (4,50 €) über die Bundeszentrale für politische Bildung zu beziehen. Er beschreibt die Lebenswege der drei Leichtathletinnen, informiert über die Situation jüdischer Sportlerinnen und Sportler vor und nach 1933. Beiträge zur jüdischen Sportfotografie, zur Erinnerungskultur im deutschen Sport, zum jüdischen Sportleben in der Reichshauptstadt Berlin und zum Hochsprungdrama von Berlin 1936 runden das Bild eines überraschend aktiven und lebendigen jüdischen Sportlebens vor und nach 1933 ab, das 1938 mit dem Novemberpogrom endet.

Auch der Sport muss sich erinnern
Das düstere Kapitel der freiwilligen Selbstgleichschaltung der bürgerlichen Sportbewegung im Frühjahr 1933 – noch vor der Ernennung eines Reichssportkommissars am 28. April 1933 beschließen zahlreiche Vereine und Verbände sogenannte Arierparagrafen und schließen ihre jüdischen Sportler aus –darf nicht vergessen werden. Nur wenn man die besonderen Bindungskräfte gemeinsamer sportlicher Praxis kennt oder sich vorzustellen vermag, kann man den Schock des plötzlichen Ausschlusses aus einem privaten und persönlichen Freundschafts- und Lebenskreis nachvollziehen, der dazu noch ohne erkennbaren staatlichen Druck in voraus eilendem Gehorsam erfolgte. Dieser ängstliche Konformismus der überwiegenden Mehrheit der deutschen Sportfunktionäre, welche die erwartete politische Gleichschaltung des Sports nicht nur hinnahmen, sondern sie sogar antizipierten, wird in Vereins- und Verbandschroniken heute oftmals unterschlagen.
Die Ausstellung, die Dank der finanziellen Förderung durch die Bundeszentrale für politische Bildung und der DFB-Kulturstiftung bis Mai 2013 durch Deutschland wandert, versteht sich daher auch als Angebot an Vereine und Verbände des Sports. Die Leihnehmer haben lediglich die Kosten des Transportes zu tragen.
Ausstellungsorte im Überblick
Stadtbücherei Sankt Augustin (17.1.2011 bis 16.3.2011)
Deutsche Sporthochschule, Köln (25.04.2011 - 30.05.2011)
Jüdisches Museum Westfalen, Dorsten (05.09.2011 - 04.11.2011)

Literaturempfehlung und Homepage
Katalog „Berno Bahro, Jutta Braun, Hans Joachim Teichler (Hrsg.): Vergessene Rekorde - jüdische Leichtathletinnen vor und nach 1933, 2. Auflage, Bonn 2010“
Homepage www.vergessene-rekorde.de

Carina<font color="#0066cc"> </font>Sophia Linne ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Zeitgeschichte des Sports an der Universität Potsdam. Hans Joachim Teichler ist Professor für Zeitgeschichte des Sports an der Universität Potsdam.