Verfemt - Verdrängt - Wiederentdeckt

Bilder einer verschollenen Generation

In der Zeit des Nationalsozialismus wurden aus den Museen des Deutschen Reiches, die moderne Kunst gesammelt hatten, nach heutigem Wissensstand über 20.000 Kunstwerke von ca. 1.400 Künstlerinnen und Künstlern durch Beschlagnahmeaktionen entfernt. In propagandistischen Veranstaltungen verunglimpfte das Hitler-Regime das Schaffen der Moderne als „undeutsch“ und „entartet“. Die Nationalsozialisten sahen in den Ausdrucksmitteln von Expressionismus, Neuer Sachlichkeit, Kubismus und Abstraktion „jüdisch-bolschewistische“ Verfallserscheinungen, die von der „arischen Herrenrasse“ beseitigt werden müssten. Einen Höhepunkt dieser Kulturdiffamierung stellte die 1937 in München gezeigte Ausstellung „Entartete Kunst“ dar. Sie wanderte danach in unterschiedlicher Zusammenstellung durch weitere Städte des Reiches. In der Münchner Propagandaschau allein wurden nach jüngeren Recherchen etwa 700 Werke von 120 Künstlern/Innen in herabsetzender Weise angeprangert. Ein Teil der beschlagnahmten Objekte wurde ins Ausland verkauft, ein größerer zerstört. Neben den bereits berühmten Künstlern der Brücke, des Blauen Reiter, des Bauhauses sowie anerkannter Einzelpersönlichkeiten, z.B. Max Beckmann, Ernst Barlach, Otto Dix oder Karl Hofer, waren auch zahlreiche noch nicht so bekannte Maler der jüngeren Generation betroffen.

Gezielte Verfemungsaktionen wie Ausstellungs- und Berufsverbote oder Beschlagnahmungen in Ateliers behinderten gerade diese aufstrebenden, zwischen 1890 und 1910 geborenen Künstler in ihrer künstlerischen Entwicklung und unterbanden die öffentliche Wahrnehmung. Hinzu kam, dass ihre wichtigsten Förderer, darunter viele jüdische Galeristen und Sammler, ebenfalls Opfer der Verfolgung wurden. Einige der Verfolgten und Verfemten wurden ins Exil getrieben, andere wählten das Los der inneren Emigration. Zahlreiche Maler und Kunsthändler jüdischer Konfession verloren später in den Konzentrationslagern ihr Leben. Den Künstlern wurden von den Machthabern systematisch die Grundlagen für eine freie Existenz entzogen, so dass sie sich mit Brotberufen und Gelegenheitsarbeiten über Wasser halten mussten. Später wurden dann noch viele Frühwerke dieser zweiten Malergeneration durch Kriegseinwirkung (Bombardierung und Vertreibung) unwiederbringlich zerstört.

Die jüngeren Malerinnen und Maler dieser vom Kunsthistoriker Rainer Zimmermann  bezeichneten „Verschollenen Generation“ beschäftigten sich in starkem Maße auch mit zeitkritischen Themen. Sie wollten mit ihrer Kunst offen oder verschlüsselt seelische Befindlichkeiten darstellen und das politische und soziale Geschehen kommentieren. Leid und die Bedrückungen der Zeit wurden in allegorischen Figuren und Szenen dargestellt: Erschöpfte, Hungernde, Trauernde, Hilflose, Ausgestoßene. Kaum eine halbe Generation jünger als ihre expressionistischen Vorbilder, hatte die Verschollene Generation in ihrer Jugend vor allem das prägende Erlebnis des Ersten Weltkriegs zu verarbeiten. So schreibt der bedeutende Maler, Graphiker und Bildhauer Otto Pankok (1893-1966) im Jahre 1930: „Ja, ihr Alten hattet es gut, ihr Nolde, Heckel, Kirchner. All jene, die vor dem Krieg schon fest im Sattel saßen und sich bewiesen hatten, die nicht nur Zukunft hatten, sondern schon die Gegenwart besaßen und nach dem Kriege nur wieder anknüpfen brauchten … Uns aber hatte man den Pokal mit dem herrlichsten Wein vom Munde weggeschossen. Unsere energiegeladene Jugend hatte man geknebelt, versklavt und zermürbt.“

Diese traumatisierte Malergeneration setzte Erlebnisse und Schicksalsschläge häufig in eine kraftvolle expressive Bildsprache um und griff dabei auf die Farb- und Formfreiheit der Moderne zurück. Auf diese Weise verlieh sie ihren realen Erfahrungen von Krieg, Revolution, Wirtschaftskrise, Verfolgung und Rassenwahn individuellen Ausdruck. Die Werke der Verschollenen Generation kamen damit im besonderem Maße dem von Paul Klee postulierten Kunstideal nahe: „Kunst gibt nicht das Sichtbare wieder, sondern macht sichtbar“.

Leider kam es für die meisten Angehörigen dieser Künstlergeneration nach Beseitigung der NS-Herrschaft nicht zu der erhofften Wendung des Schicksals. Paradoxerweise sollte sich in den nun folgenden Jahrzehnten das Ziel der NS-Kunstrichter erfüllen, nicht genehme Kunst vergessen zu machen. Aus Verfemten wurden in der Bundesrepublik der ersten Nachkriegsjahrzehnte Verdrängte. Viele Maler mussten die bittere Erfahrung machen, dass in der lebenshungrigen Nachkriegszeit an Bildthemen, die an die vergangenen Schreckensjahre erinnerten, kein großes Interesse bestand. In dieser Zeit wurde im Westen Deutschlands der sich international ausbreitenden ungegenständlichen Kunst eine „heilende und befreiende“ Wirkung zugesprochen. Diese abstrakte Kunst entzog sich in ihrer Unverbindlichkeit den gewohnten Bewertungskriterien. Weiterhin gegenständlich Arbeitende wurden als „provinziell“ und „epigonenhaft“ diffamiert und an den Rand gedrängt. Museen, Galerien und Kunstkritik richteten ihr Augenmerk nunmehr fast ausschließlich auf die Protagonisten der Klassischen Moderne aus der ersten Expressionisten-Generation sowie auf die neuen Spielarten der Abstraktion. Die der expressiven Gegenständlichkeit verpflichteten Maler der Verschollenen Generation wurden Opfer der These, dass nach Auschwitz und den Gräueln des Zweiten Weltkriegs an der konkreten Welt orientierte Malerei nicht mehr möglich sei.

In der DDR wurde die bildende Kunst in den ersten Nachkriegsjahrzehnten erneut politisch missbraucht und ideologisiert. Künstlerische Betätigung hatte sich am Wohl der Gesellschaft zu orientieren und der Idee des Sozialismus zu dienen. Maler, die nicht dem „sozialistischen Realismus“ folgten, wurden als Vertreter bürgerlicher Dekadenz diffamiert und als „Formalisten“ abqualifiziert. Individuelle Gestaltungsformen unter Rückgriff auf expressive oder abstrakte Elemente wurden als Ausdruck bürgerlicher Verfallserscheinungen gesehen und ebenfalls verdrängt.

Die Namenlosen der jüngeren Generation der Klassischen Moderne gerieten also in beiden Teilen Deutschlands - wenngleich aus unterschiedlichen Motiven - erneut ins Abseits und zwischen die Mühlsteine einer entweder „zeitgeistig-marktverordneten“ oder „ideologisch-staatsverordneten“ Verdrängung. Viele der betroffenen Maler resignierten, zogen sich erneut zurück und widmeten sich wiederum im Verborgenen unbeirrt ihrem zumeist expressiv-gegenständlichen Kunstschaffen. So entstand wie zur Zeit des Nationalsozialismus - unabhängig von angesagten Kunstmarkttrends - eine durch Kommerzialisierung nicht deformierte Bildkunst. Die längst überfällige Wiederentdeckung und Würdigung des Ranges vieler Künstler der Verschollenen Generation sollte in nennenswertem Umfang erst mit der deutschen Wiedervereinigung einsetzen. Zu spät für viele der Malerinnen und Maler: Sie waren inzwischen verstorben. So schreibt die expressive Malerin Maria von Heider-Schweinitz (1894-1974) kurz vor Ende ihres Lebens an ihren langjährigen Freund und Ratgeber Karl Schmidt-Rottluff: „Daß ich für meine Person nicht ehrgeizig gewesen bin, das hat wohl mein ganzes Leben bewiesen. Den Bildern aber wünsche ich Gerechtigkeit, sei es auch nach meinem Tode“.

Für unser kulturelles Gedächtnis ist es ein Gebot der Gerechtigkeit, den in vielen Jahrzehnten verfemten und verdrängten Malerinnen und Malern einer weitgehend übergangenen Generation den ihr gebührenden Platz in der Kunstgeschichte des 20. Jahrhunderts einzuräumen. In den letzten zwanzig Jahren tauchten in Nachlässen und Privatbeständen immer wieder eindrucksvolle Beispiele für das qualitätvolle Schaffen dieser lange Zeit Ausgegrenzten auf. Mittlerweile wurden mehrere Hundert ehemals verfemter und dann übergangener Malerinnen und Maler der expressiven Gegenständlichkeit von Nachfahren, Kunsthistorikern und Privatsammlern wiederentdeckt. Anhand ihrer hinterlassenen Werke und gebrochenen Biographien lässt sich das individuelle Leiden an den Zumutungen der Zeit für uns Nachgeborene eindrucksvoll nachvollziehen.

Die hier stellvertretend abgebildeten Werke sollen das eigenständige und anspruchsvolle Kunstschaffen dieser in vielfältiger Weise gezeichneten Generation veranschaulichen. In Zukunft wird sicherlich mit weiteren spannenden Entdeckungen zu rechnen sein. In manchem Fall ist es überfällig, diesen wiederentdeckten Künstlern eine angemessene museale Präsenz zu verschaffen. Warum haben die namhaften Kunsttempel in den Kulturmetropolen Berlin, München, Köln oder Frankfurt bislang nicht gehandelt?
• Sammlung Gerhard Schneider und Bürgerstiftung für verfemte Künste

Ein herausragender Meilenstein in der Rezeption und systematischen Aufarbeitung der Künstler expressiver Gegenständlichkeit aus der Verschollenen Generation stellt die repräsentative Sammlung von Gemälden, Aquarellen und Graphiken von Gerhard Schneider dar. Sie umfasst inzwischen über 2.000 Werke von Malern und Graphikern, die viele Jahrzehnte ein weitgehend unbeachtetes und ungewürdigtes Dasein jenseits des öffentlichen Kunstbetriebs geführt haben. Teile dieser eindrucksvollen Sammlung wurden 2004 in die „Bürgerstiftung für verfemte Künste mit der Sammlung Gerhard Schneider“ eingebracht, die ihren Standort z. Zt. im Solinger Kunstmuseum (Museum Baden) hat. Diese in ihrer Ausrichtung in Deutschland einmalige Stiftung sowie eine zugehörige Fördergesellschaft widmen sich mit Ausstellungen und Forschungsaktivitäten interdisziplinär den verschiedenen, in zwei Diktaturen verfemten Kunstgattungen Malerei, Literatur und Musik (www.verfemte-kunst.de). So wurde in 2008 die Literatursammlung des Journalisten Jürgen Serke „Die verbrannten Dichter“ als Dauerleihgabe der Stiftung der Else-Lasker-Schüler-Gesellschaft, Wuppertal, integriert; die Zulegung dieser Stiftung zur Bürgerstiftung ist auf den Weg gebracht.

• Aktuelle Ausstellung

Ausstellungen mit Kunstwerken aus der Sammlung Gerhard Schneider wurden in den letzten Jahren in zahlreichen Museen im In- und Ausland mit unterschiedlichen Themenschwerpunkten gezeigt und erfuhren mit ca. 90.000 Besuchern eine beachtliche Resonanz. Eine Begegnung mit Gemälden und Graphiken jener „Meister im Schatten großer Namen“ aus dieser Sammlung ermöglicht aktuell die Ausstellung „Entdeckte Moderne - Vom expressionistischen Aufbruch zu NS-Verfemung“ in der Kunsthalle Jesuitenkirche, Aschaffenburg, vom 11.9. bis 21.11.2010. Diese und weitere Präsentationen (siehe Empfehlungen) sollten sich vor allem Entdeckernaturen und historisch Interessierte unter den Kunstliebhabern nicht entgehen lassen.

 

Jürgen Vits ist Mitglied der Vereinigung „Gegen Vergessen - Für Demokratie e.V.“ sowie der „Fördergesellschaft »Zentrum für verfemte Künste« e.V.“

Für weitere Auskünfte wenden Sie sich bitte an: fam.vits(at)yahoo.de
oder: gerhard.schneider(at)verfemte-kunst.de

 

 


Ausstellungsempfehlungen:

• Kunsthalle Jesuitenkirche, Aschaffenburg: Entdeckte Moderne Vom expressionistischen Aufbruch zur NS-Verfemung. Werke aus der Sammlung Gerhard Schneider (11.09. bis 21.11. 2010)
• Solinger Kunstmuseum (Museum Baden): Entdeckte Moderne – Bilder des 20. Jahrhunderts aus der Sammlung Gerhard Schneider (Gezeigt werden über 300 Exponate zwischen 1910 und nach 1989. - 30. 01 bis 03.04. 2011)
• Mathildenhöhe Darmstadt: Gesamtkunstwerk Expressionismus (24.10.2010 bis 13.02.2011)
• Museum Giersch, Frankfurt am Main, „Expressionismus im Rhein-Main-Gebiet - Künstler, Händler, Sammler“: (03.04. bis 17.07 2011)

Literaturempfehlung:

Katalog „Entdeckte Moderne - Werke aus der Sammlung Gerhard Schneider“, hrsg. von R. Jessewitsch u. G. Schneider, Bönen/Westfalen, 2008. 532 S. mit 866 Abb.; 9 wissenschaftliche Beiträge. Nur zu beziehen über: Kunstmuseum Baden, Wuppertaler Str. 160, 42653 Solingen (vieten(at)museum-baden.de) oder die ausstellenden Museen.