Hanna Bloch Kohner opferte ihr ungeborenes Kind, um im Vernichtungslager Auschwitz zu überleben. Jahre später brachte sie in Los Angeles eine Tochter auf die Welt, die von ihr einen unausgesprochenen Auftrag erhielt: die Erinnerung an den Holocaust weiterzugeben.
Wenn die kleine Julie ihre Mutter fragte, warum sie keine Großeltern habe, antwortete die nur: "Sie sind vor langer Zeit gestorben, Julie." Als Julie immer wieder nachhakte, antworteten die Eltern schließlich: "Oma und Opa sind im Krieg umgekommen." Als Julie ihren Onkel fragte, was denn die eintätowierten Zahlen auf seinem Arm bedeuteten, wich auch er aus. "Das ist meine Telefonnummer, Julie."
Erst als sie älter wurde, erfuhr Julie Einzelheiten über die schrecklichen Ereignisse der Vergangenheit, die ihre Mutter traumatisiert hatten und durch die ein Teil ihrer Familie ums Leben gekommen war. In Julies Zuhause wurde nun offen über den Holocaust gesprochen. Bald gab es sogar ein ganz besonderes Ritual: Am Vorabend des jüdischen Pessachfestes half Julie Kohner jedes Jahr ihrem Vater, einen Filmprojektor auf dem Tisch aufzubauen, und sah mit ihrer Familie die Aufzeichnung einer Episode der amerikanischen Fernsehsendung "This is your life" ("Das ist Ihr Leben") vom 27. Mai 1953. Normalerweise widmete sich diese Unterhaltungsserie einem Prominenten. Doch an diesem Tag hatte die NBC-Sendung zum ersten Mal im US-Fernsehen die persönliche Geschichte einer Holocaust-Überlebenden präsentiert.
"Bei Ihrer Ankunft in Auschwitz gab man Ihnen Seife, und Sie gingen zu den Duschen", sagte der Moderator der Sendung zu der jungen Frau, die auf der TV-Bühne in Hollywood Platz genommen hatte. "Sie hatten das Glück, dass aus Ihrer Dusche Wasser kam - anders als Ihre Mutter, Ihr Vater und Ihr Mann Carl. Sie alle ließen ihr Leben in Auschwitz." Der Ehrengast dieser Sendung war Hanna Bloch Kohner - Julies Mutter.
Ein Lebensthema
"Frage die früheren Generationen ... sprechen sie nicht zu dir?" Diese Aufforderung aus dem Buch Hiob im Alten Testament mag Julie Kohner als Erwachsene aufgegriffen haben: Seit 1991 tritt sie in den USA in Schulen, jüdischen Gemeinden und anderen Einrichtungen als Referentin auf und erzählt die Überlebensgeschichte ihrer Mutter. Mittlerweile hat sich das Projekt zu einer gemeinnützigen, spendenfinanzierten Gesellschaft zur "Holocaust-Education" gemausert: "VOG - Voices of the Generations (Stimmen der Generationen)“. In Deutschland als "Holocaust-Erziehung" übersetzt, ist dies ein hierzulande noch relativ neues Konzept. Es geht nicht nur um historisches Wissen, sondern auch um die systematische Vermittlung von moralischen Werten wie Toleranz und Gewaltlosigkeit.
Julie Kohner weiß, dass sich gerade Kinder mit persönlichen Schicksalen identifizieren müssen, um zu begreifen, was Millionen von Menschen in den NS-Vernichtungslagern erlitten haben. Doch sie tritt auch vor erwachsenem Publikum auf. Die Geschichte, die sie erzählt, ist mehr als nur Programm. Es ist die Geschichte ihrer Mutter, die zu ihrem eigenen Lebensthema wurde.
Hanna Bloch wuchs als Kind jüdischer Eltern in Teplitz-Schönau im Sudetenland auf. Dort verliebte sie sich 1935 in Walter Kohner. Als die Wehrmacht 1938 das Sudetenland besetzte, flüchtete Walter und emigrierte in die USA, weil seine älteren Brüder dort lebten. Als es ihm nicht gelang, seine Verlobte Hanna nachzuholen, floh Hanna nach Amsterdam. Doch Hitlers Truppen marschierten 1940 auch dort ein. Hanna gab die Hoffnung endgültig auf, Walter jemals in Amerika heiraten zu können.
Zunächst war Hanna in Amsterdam noch vor Verhaftungen sicher, weil sie als Schreibkraft beim Jüdischen Rat arbeitete. Sie lernte Carl Benjamin kennen, einen deutschen Flüchtling, den sie 1942 heiratete und dadurch kurzzeitig vor der Deportation rettete. 1943 aber wurden auch Hanna und Carl in das Durchgangslager Westerbork gebracht - Zwischenstation für ihre Deportation 1944 nach Theresienstadt und weiter in das Vernichtungslager Auschwitz.
Ausgerechnet jetzt war Hanna schwanger. Sie ahnte, dass das in Auschwitz ein sicheres Todesurteil sein würde. Man sagte ihr, dass sie mit einer heimlichen Abtreibung eine Überlebenschance hätte. Ende Oktober 1944 überzeugte ihr Bruder, ein Arzt, der ebenfalls in Auschwitz interniert war, eine Ärztin im Lager, heimlich die Abtreibung durchzuführen.
Im November 1944 wurde Hanna in das KZ Mauthausen bei Lenzing in Österreich gebracht. Als die Amerikaner Anfang Mai 1945 das Todeslager befreiten, fanden sie auch Hanna, die als Zwangsarbeiterin in einer Fabrik der Ermordung entkommen war.
Bevor die US-Soldaten weiterzogen, boten sie den Überlebenden an, Freunden oder Verwandten in den USA eine Nachricht zu schreiben. "Ich habe einen Freund in Kalifornien", sagte Hanna. "Er wohnt in Los Angeles, Sunset Boulevard." Walter Kohner, der mit einer US-Miliäreinheit nach Europa zurückgekommen war, erhielt den Brief über Umwege in Luxemburg. Als er erfuhr, dass Hanna lebte, brach er sofort auf und suchte sie - in Deutschland, der Tschechoslowakei, überall in Europa. Er fand sie in Holland.
Narben der Vergangenheit
Im Oktober 1945 heirateten Hanna und Walter, 1946 zogen sie nach Los Angeles. Bei der heimlichen Abtreibung in Auschwitz war Hanna erklärt worden, dass sie nie ein Kind werde bekommen können. Sie wollte sich damit nicht abfinden. Nach acht Fehlgeburten brachte sie am 4. Juli 1955 eine Tochter auf die Welt: Julie. Doch das lang ersehnte Kind erinnerte die Mutter auch stets daran, was sie verloren hatte. "Warum habe ich überlebt? Warum gerade ich?" - Fragen, auf die sie nie befriedigende Antworten finden konnte, und die auch Julie bewegen sollten.
Dass Hanna überlebt hatte, war Glück und Zufall. Und ohne die körperliche und moralische Unterstützung ihrer Freundinnen und anderer KZ-Insassen, erzählte Hanna später, hätte sie es nicht geschafft. Das alles half ihr nach dem Krieg wenig: Lebenslange Schuldgefühle den Ermordeten gegenüber waren für Hanna der Preis, der Hölle entkommen zu sein.
Julie Kohner fühlte sich sehr eng mit ihrer Mutter verbunden. Jedes Jahr am Muttertag sprach Hanna Kohner auch von den Kindern, die sie verloren hatte. Julie wurde daran erinnert, dass sie beinahe Brüder und Schwestern gehabt hätte. Manchmal hatte sie das Gefühl, dass sie alle diese Kinder ersetzen musste. Bald bekam sie ihre eigenen Schuldgefühle und litt zeitweise unter Angststörungen.
Das Trauma des Holocausts prägt auch die Nachkommen der Überlebenden. Das Programm "Stimmen der Generationen", das Julie Kohner entwickelt hat, ist somit auch ein klein wenig Selbsttherapie. Es basiert auf Hannas Geschichte, der Aufzeichnung der Fernsehshow, in der ihre Mutter auftrat, und auf dem Buch "Hanna and Walter - A Love Story", das ihre Eltern zusammen mit Julies Onkel 1984 in USA veröffentlichten. Es wurde u.a. auch ins Deutsche übersetzt, ist aber mittlerweile vergriffen. Julie Kohner bemüht sich zurzeit um eine deutsche Neuauflage.
1990 starb Hanna Kohner im Alter von 70 Jahren an einem Herzinfarkt. Ein Jahr danach begann Julie Kohner mit ihrem Programm "Stimmen der Generationen". Sie möchte es nicht nur in den USA, sondern auch in Europa, und vor allem in Deutschland, als Referentin präsentieren. Um Hannas Geschichte Schulkindern zu vermitteln, hat Julie Kohner Unterrichtsmaterial entwickelt, das auf http://vogcharity.org/vog/the-hanna-walter-curriculum-project/ zusammen mit der englischen Ausgabe des Buches bestellt werden kann. Eine deutsche Ausgabe des Materials ist in Planung. Darüber hinaus bietet Julie Kohner Lehrerfortbildungen an.
Weiterhin plant sie den Aufbau einer Web-2.0-Plattform, wo Kinder und Enkel der Opfer der Shoah mit Videobeiträgen ihre persönlichen Geschichten und Erfahrungen darstellen können. "Echos der Vergangenheit" soll das Forum heißen - und als Archiv für schulische Bildungsarbeit und für kommende Generationen dienen. Um ihre Pläne verwirklichen zu können, hofft Julie Kohner auf zahlreiche Spendenbeiträge. Weitere Informationen zu VOG sind zu finden auf http://www.vogcharity.org.
Bettina Mikhail ist Dipl.-Fachübersetzerin und freie Autorin.