Symposium des Deutschen Riga-Komitees in Magdeburg (11/2012)

Bericht von Winfried Nachtwei, MdB a.D., Vorstandsmitglied von Gegen Vergessen - Für Demokratie e.V.

Seit 12 Jahren besteht das Deutsche Riga-Komitee der Städte, aus denen 1941/42 jüdische Menschen in das „Reichsjudenghetto“ Riga deportiert worden waren. Auf Einladung der sachsen-anhaltinischen Landeshauptstadt Magdeburg und des Landesverbandes des Volksbundes Deutsche Kriegsgräberfürsorge fand am 2.-4. November 2012 in Magdeburg erstmalig ein Symposium des Riga-Komitees statt. Teilnehmer kamen aus Bayreuth, Bocholt, Bünde, Hamburg, Hannover, Kassel, Leipzig, Magdeburg, Marburg, Moers, Münster, Osnabrück, Recklinghausen, Stuttgart.
Die Idee zu einem Symposium war vor zwei Jahren am 9. Juli 2010 in Riga entstanden, als zum zehnjährigen Bestehen des Riga-Komitees eine große Städtedelegation die Orte des Naziterrors in Riga besuchte. Die Stadt Magdeburg und der Landesverband Sachsen-Anhalt des Volksbundes setzten die Idee nun mit großer Gastfreundschaft und bester Organisation in die Tat um. Im Alten Rathaus hatten die Veranstalter ein dichtes und anregendes Programm vorbereitet. (Andere Berichte www.volksbund-sachsen-anhalt.de  ; www.dsteinecke.de/aktuelles/100-deutsches-riga-komitee-tagte-in-Magdeburg )#

Das Symposium begann mit der Eröffnung der Ausstellung des Riga-Komitees „Bikernieki – Wald der Toten. Die Deportation deutscher Juden nach Riga, ihre Ermordung und das Gedenken daran“ und den Ansprachen von Oberbürgermeister Dr. Lutz Trümper, Prof. Volker Hannemann Vizepräsident des Volksbundes, und Landtagspräsident a.D. Dieter Steinecke, MdL, Landesvorsitzender Sachsen-Anhalt.
- Winfried Nachtwei hielt anschließend seinen bebilderten Vortrag „Nachbarn von nebenan – verschollen in Riga“ über die Deportationen der deutschen Juden ab Ende November 1941 nach Riga.
- Pascal Begrich, Geschäftsführer von „Miteinander e.V.“ berichtete über KZ-Außenlager in Magdeburg und das Schicksal vom Max Michelson. Der 1924 geborene Rigaer Jude war über das „Kleine Ghetto“ der lettischen Juden, das KZ Kaiserwald im Norden Rigas, über das KZ Stutthof bei Danzig schließlich nach Magdeburg in ein KZ-Außenlager bei den Polte-Werken (Buchenwald) verschleppt worden. Von seiner Familie überlebte er als einziger.
- Waltraud Zachhuber, Superindendentin i.R., schilderte das Magdeburger Gedenken an ermordete jüdische Bürgerinnen und Bürger, beginnend im Jahr 1978. 38 aus Magdeburg stammende jüdische Menschen wurden nach Riga deportiert (die meisten von Berlin aus): unter ihnen Herbert Goldschmidt (*1890), ab 1931 Stellvertreter von Oberbürgermeister Ernst Reuter; Dr. Hans Aufrecht (*1899) und Frau Ilse, aus Köln nach Riga deportiert, Chefarzt im Ghetto, im März 1945 erschossen; das Ehepaar Eva und Siegbert Spier, er Sohn des letzten Kantors der Synagogengemeinde in Magdeburg.
Nach einem Stadtratsbeschluss in 2006 Gründung der AG „Stolpersteine für Magdeburg“ beim Kulturbüro. An den 16 Verlegungen von bisher 310 Stolpersteinen beteiligten sich u.a. elf Schulen, vier Kindertagesstätten, ein Karatesportclub, Richard-Wagner-Verein, Richterbund Sachsen-Anhalt, Evang. Kirchengemeinden.
- Ute Mühler und Sandra Wilk, Lehrerinnen des Hegel-Gymnasium Magdeburg, stellten Spurensuche-Projekte ihrer Schule vor.
- Nach einem Stadtrundgang zu Gedenk- und Erinnerungsorten zur Zeit des NS in Magdeburg, geführt von Ehrenstadtrat Eberhard Seifert und Pascal Begrich, berichtete - - Dr. Günter Schmidt, Volksbund Leipzig und Mitarbeiter der Stadtverwaltung, über das Gedenk- und Totenbuch der Leipziger Opfer der NS-Gewaltherrschaft. Den Beschluss des Stadtrats setzte ab 2000 eine AG von ehrenamtlich tätigen Bürgern im Umfeld des Amters für Stadtgrün und Gewässer, Abteilung Friedhöfe, um. Das Gedenkbuch ist über das städtische Intranet und das Internet zugänglich: www.leipzig.de/gedenkbuch )
- Den Abschluss des Symposiums bildete Philipp Schrage, Jugend- und Bildungsreferent des Volksbundes mit seinem Beitrag „Der Mensch im Kriegsgrab – Multiperspektivität in der historisch-politischen Bildungsarbeit“ und
- zwei Lehrerinnen der Sekundarschule „Am Lerchenfeld“ in Schönebeck bei Magdeburg, die ihr sehr praktisch orientiertes Schülerprojekt vorstellten: Mit einer eigens dafür angefertigten Maschine stempelten die Jugendlichen den Satz „Hier verschwand ein Mensch“ entlang der Strecke, den jüdische Menschen zum Magdeburger Hauptbahnhof, dem Abfahrtsort ihrer Deportationszüge, gehen mussten. (www.fls-schoenebeck.de/fls79.php )

Hinweise
(a) Aus dem Material des neuen Films über die Riga-Deportationen von Jürgen Hobrecht konnte ein Ausschnitt präsentiert werden, der Jugendliche beim Workcamp des Volksbundes in Bikernieki im letzten Sommer zeigt und zu Wort kommen lässt. (s. Anlage) Der fertige Film wird ab Anfang 2013 zur Verfügung stehen.
(b) Thomas Rey, in der Bundesgeschäftsstelle des Volksbundes zuständig für Gedenkkultur und Bildungsarbeit, wirbt für den Internetauftritt des Riga-Komitees und die Möglichkeit, die Seite vermehrt zum Informationsaustausch zu nutzen: www.volksbund.de/partner/deutsches-riga-komitee.html . Über die Bundesgeschäftsstelle kann auch die Ausstellung zu Bikernieki entliehen werden.

(c) Sehr empfehlenswert ist die Neuerscheinung „Unerhörter Mut – Eine Liebe in der Zeit des Rassenwahns“ von Alfons Dürr, erschienen im Haymon-Verlag. Der österreichische Jurist recherchierte die tatsächliche Geschichte zweier Verlobter, der Jüdin Edith Sara Meyer und des Heinrich Heinen. 1941 war Edith Meyer von Düsseldorf nach Riga deportiert worden. Ihr in Berlin arbeitender Verlobter machte sie in Riga ausfindig – und floh mit ihr, quer durch Deutschland bis nach Österreich …
(d) Verfallene und vergessene Orte in Riga: Laut Aussage von Margers Vestermanis soll das Memorial für das KZ Kaiserwald in einem sehr schlechten Zustand sein.
An das Lager „Jungfernhof“ zwischen Moskauer Straße und Daugava, in das zwischen 2. und 9. Dezember 1941 die ca. 4.000 Menschen der Transporte aus Nürnberg, Stuttgart, Wien und Hamburg verschleppt worden waren, erinnert NICHTS, kein Schild, keine Tafel, kein Stein. Bei Filmdreharbeiten 1991 waren noch einige Überreste zu finden. Inzwischen ist der größte Teil des Gebietes überbaut.

(e) Ein Guide zu den Stätten des Naziterrors in Riga wäre für die vielen Gruppen und Einzelpersonen, die inzwischen nach Riga reisen, eine große Hilfe. Bisher wurde noch kein Weg gefunden, diese gute Idee auch in die Tat umzusetzen.
(f) Nothilfe: Die Schar der noch lebenden ehemaligen Ghetto- und KZ-Häftlinge Lettlands wird immer kleiner, im Mai waren es noch 31. In Lettland leben alle Rentner unterhalb der staatlich definierten Armutsgrenze. Überlebensnotwendig sind die Unterstützungen, die durch zwei Hilfsinitiativen für ehemalige Ghetto- und KZ-Häftlinge im Baltikum ermöglicht werden:
Hanna + Wolf Middelmann, Göttingen, Stichwort „Riga“, Sparkasse Göttingen (BLZ 260 500 01), Kontonummer 100 499 433;
Hilfsfonds „Jüdische Sozialstation“ e.V. – Ghetto-Überlebende Baltikum, Margot Zmarzlik, Freiburg, Commerzbank Freiburg (BLZ 680 800 30), Kontonummer 4 071 177 01
Großer Dank nach Magdeburg!
Inzwischen sind 42 Städte Mitglieder des Riga-Komitees. (Am 9. November trat das ostwestfälische Bünde bei. Von hier waren mit dem „Bielefelder Transport am 13. Dezember 1941 mindestens 20 jüdische Bürger nach Riga deportiert worden.) Eine weitere steht kurz vor ihrem Beitritt. Schade war, dass nicht mehr Städte das Angebot des Symposiums genutzt haben.
Umso mehr besteht Veranlassung und ist es mir ein Bedürfnis, der Stadt Magdeburg mit ihrem Beigeordneten Hans-Werner Brüning, dem Landesverband Sachsen-Anhalt des Volksbundes mit dem Landesvorsitzenden Dieter Steinecke, dem Landesgeschäftsführer Jan Scherschmidt, dem Jugend- und Bildungsreferenten Philipp Schrage und ihren Helfern sehr herzlich zu danken: für das sehr informative und anregende Programm, für die hervorragende Organisation und große Gastfreundschaft, für die breite Teilnehmerschaft aus Magdeburg und die ausgesprochen angenehme Atmosphäre.
Das Riga-Komitee begleite ich seit seiner Gründung im Jahr 2000. Bei der Einweihung der Gedenkstätte Bikernieki 2001 und der Erinnerungsreise 2010 lagen Initiative und Organisationsarbeit bei der Bundesgeschäftsstelle des Volksbundes. Mit Magdeburg ergriff jetzt erstmalig eine Mitgliedsstadt die Initiative für die Gemeinschaft des Deutschen Riga-Komitees. Das verdient besondere Anerkennung. Zu wünsche wäre, wenn andere Mitgliedsstädte beizeiten den Ball aufnehmen würden – zum Beispiel im Spätsommer/Herbst 2014, wenn die Auflösung der Rigaer Lager 70 Jahre zurückliegt.

Workcamp in Riga im August 2012
In der lettischen Hauptstadt Riga traf ich im August auf deutsche und lettische Jugendliche, die dort in einem 14-tägigen Workcamp des Volksbundes Deutsche Kriegsgräberfürsorge/Landesverband Bremen Gräber von Naziopfern und Soldaten pflegten. Der Bremer Landesverband führt in Lettland Workcamps seit inzwischen 20 Jahren durch. Dass die Bundeswehr dies durch Stellung von Bus und Fahrer sowie Sonderurlaub für einen Teamer unterstützt, ist anerkennenswert. (www.volksbund.de/bremen/bremen-jugendarbeit.html )
Anlass meines inzwischen ca. 15. Rigabesuches seit 1989 waren die Dreharbeiten für die Dokumentation „Verschollen in Riga – Die Deportationen ins ´Reichsjudenghetto`“, Buch und Regie Jürgen Hobrecht, Produktion Polis Film. Unterstützt wird das Projekt u.a. von etlichen Städten des Deutschen Riga-Komitees, dem Volksbund und insbesondere dem Landschaftsverband Westfalen-Lippe. 1991 hatte ich Jürgen bei einem ersten Dokumentarfilm über die Deportation der westfälischen Juden nach Riga unterstützt. Damals begleiteten wir Frau O. und Herrn A., die 1941 von Osnabrück aus nach Riga verschleppt worden waren und nach 50 Jahren erstmalig an die düsteren Orte ihrer Jugend zurückkehrten – zum Beispiel die damalige Bielefelder Straße zwischen Leipziger und Kölner Straße.
Mit dem einheimischen Kameramann Sascha und dem Tonmann Artur, zwei sehr professionellen, einsatzfreudigen und fröhlichen jungen Männern, begleiteten wir nun zwanzig Jugendliche zu den verschiedenen Orten des Naziterrors in Riga: Rangierbahnhof Skirotava, ehemaliges Ghetto, Gedenkstätten Rumbula und Salaspils. Im Wald von Bikernieki erinnern 55 Massengräber und eine eindringliche, vom Volksbund 2001 errichtete Gedenkstätte an die weit über 30.000 hier ermordeten Menschen, darunter Tausende aus Deutschland. Hier interviewte ich acht der Jugendlichen, die sehr offen, lebhaft und überzeugend über ihre Beweggründe und Eindrücke sprachen. Ausführliche Interviews führte der Filmautor auch mit Dr. Alexander Bergmann, 87 Jahre, langjähriger Vorsitzender des Vereins der ehemaligen jüdischen Ghetto- und KZ-Häftlinge Lettlands, und Margers Vestermanis, 87 Jahre, Begründer und langjähriger Direktor des Museums „Juden in Lettland“. (www.jewishmuseum.lv) Hier begegnete ich auch Mitchell Lieber aus Chicago, der vor mehr als zehn Jahren die Seite www.rumbula.org aufgebaut hat und nun an dem Filmprojekt „Rumbula`s Echo“ über die Ermordung der Rigaer Juden arbeitet. (www.rumbulasecho.org )