„Shoah par balles“: Der vergessene Holocaust

Ein Jahr Friedensarbeit bei „Yahad – In-Unum“


Inzwischen liegt mein Jahr Friedensarbeit mit der Aktion Sühnezeichen/Friedensdienste e.V.  bei „Yahad in Unum“ in Paris schon einige Zeit zurück. Schon die Vorbereitungen waren nicht einfach. Es war nicht gerade leicht,15 Personen aus meinem Freundes- und Verwandtenkreis davon zu überzeugen, meinem Spenderkreis beizutreten und eine einmalige Zahlung von 120 Euro zu leisten. “Wir haben schon genug gesühnt”, “Man muss ja nicht unbedingt ins Ausland”, oder ähnliches hat es von manchen Seiten her geheißen.

Angekommen bin ich letztendlich doch und ich habe mich schnell zurechtgefunden in den zwei riesigen Altbaubüros des zehnten Arrondissements von Yahad – In Unum. Ukrainer, Russen, Weißrussen, Polen, Franzosen und Deutsche arbeiten hier im Auftrag der katholischen Bischofskonferenz mit dem Beauftragten für die Beziehungen zum Judentum, Patrick Desbois.

Etwa 2,5 Millionen Opfer von Massakern der Einsatzkommandos an Juden im Osten

Die Aufgabe ist die Erforschung des Holocausts im Osten. Ein “vergessener Holocaust”, wie er hier zuweilen genannt wird und dieser Ausdruck hat seine Berechtigung. Trotz ausgeprägtem geschichtlichen Interesse und Geschichtsleistungskurs war er auch mir nicht bekannt. Im Unterricht stand immer der Holocaust der Konzentrationslager, wie er z.B. in Auschwitz oder Treblinka stattfand, im Vordergrund. Die Franzosen nennen diesen Holocaus  “Shoah par balles”. Das bedeutet “Shoah durch Gewehrkugeln”. Er forderte in weniger als drei Jahren um die 2,5 Millionen Todesopfer. Die Menschen wurden erschossen oder in umgebauten LKW vergast von gerade einmal 3000 Mann der Einsatzgruppen. Das waren deutsche Männer der Waffen-SS, des Sicherheitsdienstes, der Kripo, der Gestapo, der Hilfspolizei und der Ordnungspolizei.
Es gibt viele Konzentrationslager und auch viele Gedenkstätten, die daran arbeiten, die schrecklichen Verbrechen des NS-Regimes nicht in Vergessenheit geraten zu lassen. Meist jedoch erinnern sie an die Massaker in den Konzentrationslagern.
Was jedoch bleibt von den 2,5 Millionen Juden aus Ostpolen, der Ukraine, Weißrusslands oder sogar Russlands? Auf weiter Steppe liegen sie verscharrt mit einer Kugel im Kopf und es gibt nicht einmal eine Gedenktafel an ihren unzähligen Massengräbern.

Mühsame Aufklärungsarbeit nach 70 Jahren in der Ukraine, Weißrussland, Russland und Ostpolen

Die Organisation “Yahad - In Unum” arbeitet daran, dass dieser Verbrechen erinnert wird oder erst einmal ein Ort des Trauerns und der Erinnerung geschaffen wird. Von Übersetzern, Archivaren, Historikern und Freiwilligen wie mir werden die Archive aus Deutschland und der ehemaligen UdSSR durchkämmt nach Informationen zu den im Osten stattgefundenen Massakern. Es sind nicht die Namen der Täter, der Mittäter oder Mitwisser, die wir suchen, es sind die Orte, wo die Massaker stattfanden.

Bis zu 15 mal im Jahr fährt ein Team, ausgestattet mit Kameras und Tonbandgeräten,  in vorher ausgewählte Gebiete und befragt die alten Menschen nach dem, was während der detuschen Besatzung in ihren Dörfern und Städten mit den Juden passiert ist. Die Feldforscher haben auch die Auswertungen der Archive  dabei, die im Institut Yahad – In Unum in Paris bearbeitet und übersetzt wurden.

„Es hat ja vorher niemand danach gefragt“

Das Ziel besteht darin, so viele Augenzeugen wie möglich zu befragen. Doch die Zeit ist knapp. Da die Ereignisse schon fast 70 Jahre zurückliegen, wird es immer schwieriger, Menschen zu finden, die Massenerschießungen von Juden oder auch Sinti und Roma noch selbst mit angesehen haben. Viele Zeugen, die nun reden, wurden von Einsatzkommandos oder der örtlichen Polizei dazu gezwungen, bei den grausamen Exekutionen zu helfen: Sie mussten Gruben ausheben oder zuschütten, die Kleider der Ermordeten  sortieren oder zwischen den Erschießungen die Menschen bewachen, die kurz vorher noch ihre Nachbarn gewesen waren.
Viele reden vor der Kamera das erste Mal über diese Geschehnisse. Auf die Frage: “Warum erst jetzt?”, antworten die meisten: “Es hat ja vorher niemand danach gefragt!”. Die Berichte der alten Menschen sind oft erschreckend detailliert und nicht wenige brechen während des Interviews in Tränen aus.

300 Massengräber gefunden – auch im Baltikum wird jetzt nach Orten der Verbrechen gesucht

Über tausend Zeugenaussagen wurden auf Video aufgenommen und an die 300  Massengräber gefunden. Doch der Präsident Patrick Desbois möchte nicht ruhen, bis möglichst alle Massengräber lokalisiert worden sind.

Die ersten Nachforschungen gab es 2004 im Oblast Wolhynien in der Ukraine. Bis heute wurde die Arbeit auf drei weitere Länder ausgeweitet und die Staaten des Baltikums sollen noch folgen. Das Projekt wächst und wächst und es wird überlegt, eine Zweigstelle in Berlin zu eröffnen, um die Arbeit mit den deutschen Archivakten zu intensivieren.
Die Bundesrepublik beteiligt sich finanziell und ist seit dem letzten Jahr  einer der wichtigsten Sponsoren der Organisation. Von wesentlicher Bedeutung ist auch die Zusammenarbeit des Projekts mit dem US Holocaust Memorial Museum und der Universität Paris Sorbonne, die bei der Arbeit von „Yahad - In Unum“ mit Sachverständnis und Geldmitteln zur Seite stehen. Diese Zusammenarbeit hat im Oktober 2009 ein Recherche-Zentrum hervorgebracht, indem Interessierte selbst in den Archiven Nachforschungen anstellen können und Einsicht in die Videozeugenaufnahmen bekommen.

Doch es gibt noch immer viel zu tun.

Was meine Arbeit bei Yahad – In Unum für mich so interessant macht, ist die Möglichkeit als Deutscher eine etwas unbekannte Facette des Holocausts gemeinsam mit Menschen der „Opferstaaten“ in Paris aufzuarbeiten. Eine seltene Mischung, das muss ich schon zugeben, aber umso spannender.

Paul Reckmann studiert deutsch-französisches Recht an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg.