Sei wachsam, Starnberg! Todesmarsch-Gedenken

von Michael Stürzer, Starnberger Merkur

Rund 60 Teilnehmer haben bei einer Gedenkfeier des Todesmarsch vor 68 Jahren durch Starnberg gedacht. Durch NSU-Prozess hatte die von Rainer Hange organisierte Feier besondere Aktualität.

Starnberg – „Ich kann das Klopfen der Holzschuhe noch heute hören. Und jedes Mal, als wir einen neuen Knall hörten, wussten wir: Es ist wieder einer umgefallen.“ Abba Noar (85) hat es erlebt – das Grauen des menschenverachtenden Terrors der Nazis. Der gebürtige Litauer hat den Todesmarsch 1945 vom KZ Dachau durch Starnberg Richtung Süden überlebt, und er berichtet davon. Jeden Tag, geht in Schulen, spricht mit Jugendlichen. Abba Noar braucht keine Gedenkfeiern, keine Mahnmale oder Geschichtsbücher. „Ich brauche mich nicht zu erinnern, weil ich es nicht vergessen habe.“ Die Masse der Menschen heute kann nur erinnert werden, sie hat es nicht erlebt – für sie sind Gedenkfeiern wie jene am Samstagnachmittag am Starnberger Landratsamt.

An die 60 waren es, die sich um das Pilgrim-Mahnmal vor dem Landratsamt versammelten. Und alle bekamen in gewisserWeise ein Musterbeispiel der Notwendigkeit vor Augen geführt: Als sich die Teilnehmer um das Mahnmal am Radweg versammelten, kam ein Radfahrer daher, schimpfte aus der Ferne und bremste nicht einmal. Auf einen Hinweis zum Anlass rief der Mann nur „Das ist mir Banane“ und brauste davon. „Das zeigt die Intoleranz in der Gesellschaft“, kommentierte Landrat Karl Roth betroffen.

Cornelia Schmalz-Jacobsen, Schirmherrin und stellvertretende Vorsitzende des Vereins „Gegen das Vergessen – für Demokratie“, attestierte eine absolute Fassungslosigkeit angesichts des Todesmarschs, eines Tiefpunkts menschlicher Grausamkeit. Erziehung oder Religion böten keine „Garantie für bedingungslosen Anstand und Immunität gegen das Böse“, doch könne man diesen üben. Im Alltag beispielsweise, wenn Schüler oder Kollegen gemobbt oder diskriminiert werden. Anlass genug ist eine Zahl: Seit 1990 hätten mehr als 150 Menschen durch rechte Gewalt ihr Leben verloren.

Einen Appell an die Verantwortung jedes Einzelnen stellte Bundesjustizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger in den Mittelpunkt. Rassismus, Fremdenfeindlichkeit und Antisemitismus würden von einigen wenigen betrieben, in Texten und Programmen, aber auch mit Gewalt. Wachsamkeit sei auch, aber nicht nur Aufgabe des Staates – es bedürfe eines jeden in der Gesellschaft. Versäumnisse dürfe man nicht unter den Teppich kehren, denn „alles kommt wieder hervor“. Beim NSU habe es staatlicherseits „Defizite in einer Dimension gegeben, die wir uns alle nicht vorstellen konnten“.

„Unrecht ist am Anfang nicht immer leicht zu erkennen“, sagte Landrat Roth und hob wie alle Redner die Bedeutung des Erinnerns hervor. Bürgermeister Ferdinand Pfaffinger sieht in den Opfern der Nazi-Herrschaft eine Mahnung, dass Wachsamkeit in der Alltäglichkeit beginnen muss. Starnbergs evangelischer Pfarrer Hans-Martin Schroeder hatte ein Gedicht des Lyrikers Erich Fried herausgesucht, das unter dem Titel „Gründe“ Ausreden für Untätigkeiten und Wegschauen auflistet. Die evangelischen Gemeinden am Starnberger See schauen nicht weg: Sie engagierten sich auf Initiative der Tutzinger Pfarrerin Ulrike Aldebert gegen ein rechtes Bildungszentrum in Oberfranken.

Alessandra und Barbara von der Mittelschule Starnberg berichteten von ihrem Schüleraustausch mit dem italienischen Marzabotto, in dem deutsche Soldaten im Krieg ein Massaker verübt hatten. Hannah von Czettritz vom Gymnasium Starnberg, die für eine Aktion gegen Rechts vom Bundesjustizministerium ausgezeichnet worden war (wir berichteten), mahnte, „zu hinterfragen und sich nicht mitreißen zu lassen“. Sie schloss in ihr Gedenken jene ein, die im Dritten Reich Widerstand geleistethatten. Veronika Pfefferer-Kraft und Rudolf Thomann vom katholischen Kirchenvorstand lasen ein christliches Gebet, Judith Baumann aus Niederpöcking ein jüdisches. Musikalisch wurde die Feier von Stefan Komarek umrahmt.

Alle anderen Radfahrer achteten übrigens die Gedenkfeier, fuhren langsam oder stiegen ab. Zu verdanken hat Starnberg das Gedenken Rainer Hange und seiner Bürgerinitiative, dessen Engagement von allen gewürdigt wurde. Er will nicht aufhören und verabschiedete die Teilnehmer mit „vielleicht bis zum nächsten Jahr“.

Angemerkt: Wo bleibt der Aufstand?
Die Mordserie des NSU beweist, dass Abba Noar mit seinen Warnungen Recht hat. „Antisemitismus ist nicht vergangen“, sagt er. Ausländerfeindlichkeit ist nicht vergangen. Gedenkfeiern wie jene am Samstag sind dringender denn je, und sie reichen längst nicht. Gerade 60 Menschen haben teilgenommen, darunter auffällig wenige Politiker. SPD und Grüne waren vertreten, die FDP sowieso – namhafte Vertreter anderer Parteien suchte man vergebens. Ein Aufstand der Anständigen, wie es Gerhard Schröder einst nannte, sieht anders aus.
Der tut Not in heutiger Zeit. Die Blindheit der Behörden beim NSU weist auf fatale Gedankenlosigkeit hin, weil es zuvor keinen rechten Terror dieser Prägung gab. Sich in Sicherheit zu wiegen, ist bequem und gefährlich. Der Landkreis hat auch keine auffällige rechtsextreme Szene, und auch keine linksextreme – kein Grund, sich zurückzulehnen. Arbeitskreise, Aktionen in Schulen und dergleichen sind richtig, nur muss jeder Einzelne die Augen offenhalten. Am Samstag hätte er erfahren können, warum.

Der Artikel erschien am 29. April 2013 im Starnberger Merkur. Abdruck mit freundliCher Genehmigung der Redaktion
http://www.merkur-online.de/lokales/starnberg/gedenken-todesmarsch-durch-starnberg-signal-gegen-intoleranz-gewalt-2877001.html

Download der Redebeiträge:

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Rainer Hange

Cornelia Schmalz-Jacobsen

Hannah Czettritz