NS-„Euthanasie“-Morde stärker ins Bewusstsein bringen

Euthanasie ist ein schönfärbender Begriff für die systematische und grausame Tötung von Menschen mit Behinderung und psychischen Erkrankungen. Sie wurden zu Zehntausenden durch Gas, Verhungern oder Experimente umgebracht, weil sie nicht den irrsinnigen rassehygienischen Vorstellungen der Nationalsozialisten entsprachen. Mit der Einteilung in lebensunwertes und lebenswertes Leben brachen die Nationalsozialisten alle Prinzipien von Humanität und Menschenrechtsethik.

In einer Bürovilla in der Berliner Tiergartenstraße 4 wurden die Tötungsaktionen – T-4-Aktion genannt – ab 1941 zentral organisiert. Heute befindet sich an diesem Ort eine in den Boden gelassene Gedenkplatte sowie eine den Opfern der NS-„Euthanasie“-Morde gewidmete Plastik des Künstlers Richard Sera. Eine Informationstafel klärt über die „T-4-Aktion“auf.

Es ist gut, dass der Beauftragte der Bundesregierung für die Belange von Menschen mit Behinderung Hubert Hüppe zum Holocaust-Gedenktag eine Kranzniederlegung am T-4-Mahnmal initiiert hat. Dieses Gedenken hat 2011 bereits zum zweiten Mal stattgefunden.

70 Jahre nach diesen grausamen Verbrechen wollen die Abgeordneten des Deutschen Bundestages den Euthanasie-Gedenkort als historischen Ort sichtbarer machen und an die Opfer würdevoll erinnern. Das bereits bestehende Denkmal aufzuwerten und ihm im Zuge einer Umgestaltung des Geländes um das Berliner Kulturforum eine besondere Rolle zukommen zu lassen, ist Ziel der fraktionsübergreifenden Initiative von CDU/CSU, FDP, SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN.

Weil es unsere Pflicht ist, die „Euthanasiemorde“, Zwangsterilisationen und die so genannte „Kinder-Euthanasie“ in unserer Erinnerung zu halten, sind Forschung und Aufarbeitung notwendig und kontinuierlich zu fördern. Nur die Auseinandersetzung mit diesem dunklen Kapitel deutscher Geschichte kann dabei helfen, für die Zukunft zu lernen. Insbesondere junge Menschen sollen wissen, wozu Menschen fähig gewesen sind und wohin menschenverachtende Ideologien führen können.

Aber es kommt nicht nur auf das Erinnern an. Entscheidend ist, wie wir heute mit Menschen mit Behinderung zusammen leben. Noch bis in die 70er Jahre des letzten Jahrhunderts wurde Behinderung und Beeinträchtigung als persönliches und funktionales Defizit verstanden. Erst die 2009 von Deutschland ratifizierte UN-Behindertenrechtskonvention versteht Behinderung als Form menschlichen Lebens. Das in der Konvention verwendete Schlagwort „Inklusion“ kennzeichnet ein Umdenken, wonach nicht der Mensch mit Behinderung sich an die Gesellschaft anzupassen hat, sondern die Gesellschaft Bedingungen herstellt, die Behinderung nicht zur Benachteiligung werden lässt.
Jeder Bürger kann etwas dafür tun, dass Menschen mit Behinderung nicht an den Rand gedrängt werden, sondern ganz selbstverständlich dazu gehören. Die UN-Behindertenrechtskonvention stärkt die Rechte von 9,6 Millionen Menschen mit Behinderung in unserem Land. Ihre Umsetzung ist wichtig, um in allen Lebensbereichen Teilhabe zu ermöglichen.
Integrative Kindertagesstätten sind eine gute Einrichtung und erfreuen sich bei Eltern und Kindern großer Beliebtheit. Das gemeinsame Spielen und Lernen von behinderten und nichtbehinderten Kindern lässt es erst gar nicht zu Stigmatisierungen kommen. Kinder lernen: Menschen mit Behinderungen sind nicht anders, sie haben nur andere Bedürfnisse. Wachsen behinderte und nichtbehinderte Kinder getrennt voneinander auf, wird ein Aufeinanderzugehen im Erwachsenenalter schwieriger. Menschen mit Behinderungen werden dann oft als fremd wahrgenommen.
Verschiedenheit und Vielfalt wird als Bereicherung erlebt, wenn sie zum Alltag gehört. Auch Vorbehalte und Berührungsängste im Arbeitsleben gegenüber Menschen mit Behinderung sind geringer, wenn Firmenkollegen bereits im Kindergarten und in der Schule Kontakt zu Menschen mit Behinderungen hatten.
Menschliche Vielfalt prägt unsere Gesellschaft. Wir führen Diskussionen über Integration, Migration, Gleichberechtigung und Inklusion. In unserer Lebenswelt stehen unterschiedliche Lebensstile und Lebensauffassungen nebeneinander. Das ist ein Wert an sich. Dennoch richtet sich der Blick vieler immer noch mehr auf das Trennende und nicht das Verbindende. Das muss uns allen Ansporn sein.
Die grausamen Verbrechen an Menschen mit Behinderung haben Auswirkungen bis heute. Erst jetzt leben immer mehr alte Menschen mit Behinderung unter uns. Ihnen auch im Alter ein würdevolles und selbst bestimmtes Leben zu ermöglichen, muss uns aller Anstrengung wert sein. Viele hoch betagte Mütter und Väter leben in Sorge, was aus ihrer Tochter oder ihrem Sohn wird, sollten sie sich einmal nicht mehr kümmern können. Um diese Lebenslagen zu wissen und sie gemeinsam zu meistern, gehört zu den gegenwärtig wichtigen Fragen.
Mit ihrem gemeinsamen Antrag „Gedenkort für die Opfer der NS-„Euthanasie“-Morde“ machen die Mitglieder des Deutschen Bundestages deutlich, dass das Erinnern an die Verbrechen der Nationalsozialisten gegen Menschen mit Behinderungen und psychischen Erkrankungen nicht aufhören darf.

Gabriele Molitor MdB ist behindertenpolitische Sprecherin der FDP-Bundestagsfraktion und Mitglied von Gegen Vergessen – Für Demokratie e.V.