Kreisau heute

von Annemarie Franke

Kreisau heute ist ein lebendiger Ort, der Menschen verschiedenster Herkunft und Interessen aus ganz unterschiedlichen Beweggründen anzieht. Kreisau heute ist ein kleines polnisches Dorf in der Wojewodschaft Niederschlesien, 60km südöstlich der Landeshauptstadt Breslau am Fuße des Eulengebirges gelegen. Kreisau heute heißt Krzyżowa und beherbergt im früheren Gutshof der Familie von Moltke eine moderne Begegnungsstätte mit 180 Übernachtungsplätzen, die von der Stiftung Kreisau für Europäische Verständigung getragen und geführt wird.  

Der Gutshof der Familie von Moltke teilte nach dem Krieg das Schicksal der meisten deutschen Großgrundbesitze, die nach 1945 zum neuen Westpolen unter kommunistischer Herrschaft gehörten: Der Hof wurde in einen staatlichen Landwirtschaftsbetrieb nach sowjetischem Vorbild umgewandelt. Das dafür geltende Kürzel „PGR“ wird in Polen mit einem durch die sozialistische Misswirtschaft herunter gekommenen und unproduktiven Betrieb assoziiert. Einen solchen Eindruck muss Kreisau auf seine Besucher in den 70er und 80er Jahren gemacht haben. Bereits damals bestand aber Interesse, diesen symbolischen Ort für die deutsch-polnische Verständigung nutzbar zu machen. Doch bis in die späten 80er Jahre scheiterten alle Initiativen, ob von deutscher oder polnischer, gesellschaftlicher oder staatlicher Seite. Nicht einmal eine Gedenktafel durfte an den früheren Besitzer und die Widerstandstätigkeit des Kreisauer Kreises erinnern.

Im Sommer 1989 bildete sich eine Initiative von Polen, Deutschen aus Ost und West, Niederländern und Amerikanern, die mitten im Aufbruch der Völker Mitteleuropas den Wiederaufbau des Gutes als europäische Begegnungsstätte planten. Sie sahen in den Themen dieses Aufbruchs – Opposition, Widerstand, der Wille und der Mut, die Zukunft in die eigene Hand zu nehmen – die Verbindung zu der Widerstandstradition des Ortes. Ihr Engagement war die Voraussetzung für die Wahl dieses Ortes für die historische „Versöhnungsmesse“ im November 1989. Die damaligen Regierungschefs von Deutschland und Polen, Helmut Kohl und Tadeusz Mazowiecki, bekräftigten in Kreisau den politischen Willen, die deutsch-polnischen Beziehungen auf eine gutnachbarschaftliche Grundlage zu stellen. Ein Beispiel dieser neuen Zusammenarbeit wurde der durch Regierungsgelder unterstützte Aufbau der Kreisauer Jugendbegegnungsstätte, die 9 Jahre später unter erneuter Beteiligung hoher Regierungsvertreter feierlich eröffnet wurde. 

Das Thema Widerstand ist für Deutsche und Polen mit sehr unterschiedlichen Erfahrungen verbunden. Der deutsche Widerstand gegen den Nationalsozialismus ist in Polen nach wie vor ein wenig bekanntes Phänomen und natürlich überwiegen in der Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg für Polen andere Bilder der Deutschen als die der mutigen Gegner des Regimes. Dennoch zieht Kreisau polnische Schulklassen an, die sich gerade hier mit ihren deutschen Partnerschulen treffen wollen. Diese Brückenfunktion erfüllt Kreisau dank seiner doppelten Symbolik: Einmal steht Kreisau für die deutsche Vergangenheit und damit für das Erbe des demokratisch und europäisch denkenden und planenden Kreisauer Kreises. Zum anderen aber steht Krzyzowa für das Jahr des politischen Umbruchs in Europa, und für die Begegnung Tadeusz Mazowieckis und Helmut Kohls im November 1989. Dieses Treffen, kurz nach dem Fall der Mauer und wenige Monate nach dem Wahlsieg der „Solidarnosc“ im noch kommunistischen Polen, hat im polnischen Bewusstsein eine viel größere Bedeutung als im deutschen. Es markiert einen Punkt auf dem Weg der „Rückkehr Polens nach Europa“, sprich der Befreiung aus der sowjetischen Machtsphäre, und der Integration in die transatlantischen und westeuropäischen Strukturen. Das Foto der beiden Regierungschefs, die sich als Zeichen des Friedens während der Messe vor der Kulisse des verfallenen Kreisauer Schlosses umarmen, ist Teil der polnischen politischen Ikonographie.

Dank dieser doppelten Bedeutung des Ortes, die Deutsche und Polen jeweils unterschiedlich gewichten, entsteht eine Spannung, die Dialog und Austausch fördert.  

Mehr als die Hälfte aller Gäste in Kreisau sind Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene, die meisten von ihnen kommen aus Polen und Deutschland. Doch Kreisau heute ist nicht nur eine deutsch-polnische Begegnungsstätte, sondern lädt Teilnehmer/innen und Partner aus allen europäischen Ländern und darüber hinaus ein. Im Sommer finden internationale Kunstworkshops mit Teilnehmer/innen aus bis zu 10 verschiedenen Ländern statt, Seminare zur Simulation des Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag ziehen Studierende und politisch interessierte Schüler/innen aus den verschiedensten Ländern und in unterschiedlichsten Konstellationen an, kommenden Januar (2012) zum Beispiel aus Deutschland, Polen, der Türkei, Portugal und Ungarn und bei der Version für Studierende werden sogar Teilnehmer aus Afghanistan erwartet.

Manche Angebote, wie Fortbildungen für LehrerInnen oder das jährlich stattfindende ost-westeuropäische Gedenkstättenseminar, richten sich auch exklusiv an Erwachsene. Und dann gibt es auch noch die intergenerativen Projekte, mit Teilnehmern zwischen 15 und über 80 Jahren. Bunt, divers und grenzüberschreitend, das ist Kreisau heute.

 

Annemarie Franke ist Leiterin der Gedenkstätte und Mitglied des Vorstands der Stiftung Kreisau für Europäische Verständigung.

 

Informationen zu den Programm- und Tagungsangeboten der Stiftung Kreisau, sowie Berichte und Fotos von vergangenen Veranstaltungen: http://www.krzyzowa.org.pl/

 

Postanschrift: Fundacja Krzyzowa dla Porozumienia Europejskiego

Krzyzowa 7, PL-58-112 Grodziszcze.

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