Der ehemalige Wehrmachtsoffizier und spätere Sozialgerichtspräsdient Heinz Drossel rettete während des Zweiten Weltkriegs sowjetische Kriegsgefangene und jüdische Mitbürger, darunter seine spätere Ehefrau Marianne. Er wurde dafür als „Gerechter unter den Völkern“ ausgezeichnet. Die „Spiegel“-Redakteurin Katharina Stegelmann hat nun die bewegende Biographie eines stillen Helden vorgelegt, die vor allem auf dessen schriftlichen Erinnerungen sowie auf Gesprächen mit Drossel und seinen Weggefährten basiert.
Die Szenerie aus dem Jahr 1942, die Stegelmann im ersten Kapitel unter dem Titel „Eine schicksalhafte Begegnung“ beschreibt, könnte einem Kitsch-Roman entnommen sein, wüsste man nicht um den Wahrheitsgehalt der Begegnung zwischen Heinz und Marianne. Der Wehrmachtsoffizier befindet sich in Berlin auf Fronturlaub, als er an der Jungfernbrücke eine junge Frau in letzter Sekunde davon abhält, in den Freitod zu gehen. Die Jüdin Marianne Hirschfeld ist als alleinerziehende Mutter zweier Kinder in völliger Verzweiflung. Drossel kümmert sich um sie und hilft ihr, unterzutauchen, nichts ahnend, dass sie nach dem Krieg seine Ehefrau werden wird. Auch im weiteren Verlauf streut die Autorin immer wieder Episoden des weiteren Schicksals von Marianne ein, die schließlich zu den etwa 1.700 Juden in Berlin zählt, die mit dem Leben davon gekommen sind, wenn auch meistens nur mit schweren Traumatisierungen.
Heinz Drossel werden in seinem katholischen Elternhaus von Kindheit an Werte vermittelt, die ihm zeit seines Lebens Maßstab sind. Der Vater ist von Beginn an entschiedener Gegner der Nationalsozialisten. Die Worte, die ihm sein Vater zur Kommunion mit auf den Weg gibt, werden zum Lebensmotto und geben auch Stegelmanns Buch den Titel: „Bleib immer ein Mensch, mein Junge, und anständig, auch in schweren Zeiten, und selbst dann, wenn es Opfer von Dir fordern sollte.“
Schon als junger Mensch bildet sich Heinz Drossels widerständige Haltung zu den Nationalsozialisten heraus. So wird er 1939 zum Wehrdienst eingezogen, obwohl er sich diesem durch Antritt eines Rechts-Referendariats hätte entziehen können. Seine Weigerung, einer Gliederung der NSDAP beizutreten, verhindert diese Möglichkeit. Und so durchläuft Drossel eine typische Wehrmachts-Karriere, ohne seine Grundsätze zu verraten. Erlebnisse an der Ostfront führen dazu, dass aus Ablehnung gegen das NS-Regime Hass wird. In Lettland erfährt er die unvorstellbare Grausamkeit eines Erschießungskommandos. Als Drossel einen gefangenen russischen Kommissar laufen lässt, erkennt er, „was alles möglich sein könnte bei dem Versuch, Mensch zu bleiben in diesem unmenschlichen Krieg.“
Heinz Drossel entkommt dem mörderischen Kessel von Demjansk, kehrt nach Deutschland zurück und wird in Potsdam zum Offizier ausgebildet. Bei der Verabschiedung im Sportpalast erlebt er den „Führer“ aus nächster Nähe und überzeugt sich davon, dass Deutschland „von einem Irren regiert wird.“ Drossel kommt nach einem zwischenzeitlichen Aufenthalt in Frankreich erneut an die Ostfront, wo die Rote Armee immer näher rückt. Bis zum Ende des Kriegs erlebt er, wie die Nationalsozialisten mit vermeintlichen Deserteuren umgehen. Zwei deutsche Landser werden von einem Sonderkommendo umgebracht und müssen zuvor ihr eigenes Grab schaufeln. Weil er nicht helfen kann, glaubt Drossel, versagt zu haben. Wenig später entgeht er selbst der Erschießung durch SS-Leute und gerät schließlich in Kriegsgefangenschaft. Wiederum hat er Glück, von einem Kriegsgefangenenlager in der Oberlausitz aus nicht in ein sibirisches Arbeitslager geschickt zu werden. Als er im Herbst 1945 zu seinen Eltern zurückkehrt, erkennt ihn die eigene Mutter nicht wieder, die ihrem Mann zuruft: „Komm doch mal, Paul, da steht ein ganz zerlumpter Soldat, vielleicht weiß der was von Heinz.“
Während des Kriegs hatte Drossel sich auch für die jüdische Familie Hass, die sich in der Gartenlaube seiner Eltern verstecken musste, eingesetzt. In der Wohnung dieser Menschen, die nicht zuletzt durch die Hilfe der Drossels überlebt hatten, trifft Heinz nach dem Krieg Marianne wieder – die Frau, die sich nur dank seines beherzten Einsatzes drei Jahre zuvor nicht von der Jungfernbrücke gestürzt hatte. Heinz und Marianne werden ein Paar und heiraten kurz darauf. Das Schicksal ist der Familie Drossel aber auch weiterhin nicht gut gesonnen. Vater Paul wird zwar zunächst für die LDPD Bürgermeister in einem Dorf in der Nähe von Königs Wusterhausen (SBZ), wird dann aber für drei Jahre durch eine Intrige der Kommunisten ins Zuchthaus gesteckt. Das junge Paar führt ein Leben in bitterer Armut. Sie erleben die Berliner Blockade von 1948/49; Versuche, nach Südamerika oder in die USA auszuwandern, scheitern.
Drossel muss erleben, wie erfolgreich in Deutschland vergessen und verdrängt wird und die Täter Karriere machen. Das unter Adenauer beschlossene „Straffreiheitsgesetz“ befreit zahllose NS-Verbrecher von der Strafverfolgung. Anfang der 50er Jahre beginnt er eine Ausbildung als Rechtsreferendar, und nachdem er sein 2. Staatsexamen ablegt, erfährt er, dass sein neuer Vorgesetzter ein ehemaliges NSDAP-Mitglied ist. Auch bei den weiteren beruflichen Stationen muss er feststellen, dass die alten Seilschaften weiterhin funktionieren. Aus dieser Zeit resultiert ein Selbstmordversuch. Auch Marianne muss in ihren Bestrebungen nach Anerkennung und Entschädigung als Opfer des Nationalsozialismus eine zwei Jahrzehnte andauernde entwürdigende Behandlung durch deutsche Behörden erleiden. Dokumente dazu hat die Autorin im Anhang zusammengetragen.
Zu Beginn der 60er Jahre kehren Heinz und Marianne Drossel Berlin den Rücken, nicht zuletzt aufgrund der starken Durchsetzung der Berliner Justiz mit Altnazis. In Freiburg wird Drossel Präsident des Sozialgerichts. Bis zu Mariannes Tod 1981 wird über die Vergangenheit nicht mehr viel gesprochen, zu sehr lasten die traumatischen Erlebnisse auf ihr.
Der 4. Mai ist für Heinz Drossel ein Schicksalstag, markiert dieser Tag nicht nur die Eheschließung mit Marianne im Jahr 1946, sondern genau ein Jahr zuvor entging er seiner Hinrichtung durch die SS nur knapp. 55 Jahre nach diesem Ereignis wird eine Ehrung, am 4. Mai 2000, zu einem späten Wendepunkt in seinem Leben. Die israelische Gedenkstätte Yad Vashem zeichnet Drossel für seinen Einsatz während des Kriegs als „Gerechter unter den Völkern“ aus. Als der Historiker Wolfram Wette auf die Geschichte aufmerksam wird, und unter Mithilfe von weiteren Menschen wie Reinhard Egge vom Verein „Gegen Vergessen – Für Demokratie“, in dem Heinz Drossel Ehrenmitglied wird, widmet er sich in den letzten Jahren seines Lebens vor allem der Erinnerungsarbeit mit Schülern. Hier blüht er förmlich auf, und so findet der stille Held zum Schluss doch noch die verdiente Anerkennung.
„Bleib immer ein Mensch“ ist das sehr realitätsnahe Porträt einer eindrucksvollen Persönlichkeit mit Zivilcourage. Heinz Drossel war ein Mensch, der sich, obwohl Teil eines totalitären Systems, Handlungsspielräume geschaffen hat. Dass auch in Diktaturen vielfältige Formen des Widerstands möglich sind, ist eine zentrale Erkenntnis in Katharina Stegelmanns spannender Biographie.
Katharina Stegelmann: „Bleib immer ein Mensch. Heinz Drossel. Ein stiller Held 1916-2008“
Aufbau Verlag, Berlin 2013