Jüdisches Reichenbach – Jewish Rychbach - Zydowski Dzierżoniów 1945 – 1948

Ein Gedenkstättenprojekt der Stiftung Kreisau für Europäische Verständigung

von Dominik Kretschmann

Reichenbach, Rychbach, Dzierżoniów, innerhalb von nur 12 Monaten, von Mai 1945 bis Mai 1946 hatte das kleine Städtchen von 30.000 Einwohnern drei verschiedene Namen. Während das für Orte in den nach dem Krieg zu Polen kommenden West- und Nordgebieten, den „Wiedergewonnen Gebieten“, nicht außergewöhnlich ist, ist die jüdische Nachkriegsgeschichte des nur 10 km östlich von Kreisau gelegenen Ortes genau das: Außergewöhnlich und deshalb auch ein Schwerpunkt in der Arbeit der Gedenkstätte der Stiftung Kreisau für Europäische Verständigung.

Von Beginn an wurde die Gedenkstätte als Ort konzipiert, der sich nicht auf die Auseinandersetzung mit dem Zweiten Weltkrieg, insbesondere dem deutschen zivilen Widerstand und dem polnischen Kampf mit der deutschen Okkupation, beschränkt, sondern auch die Regionalgeschichte Niederschlesiens und insbesondere der unmittelbaren Umgebung Kreisaus in den Blick nimmt.

Zu dieser unmittelbaren Umgebung gehört auch Dzierżoniów, dass in den ersten Jahren nach Kriegsende noch einen, allerdings inoffiziellen Namen hatte: Polnisches Jerusalem.

Während zu Beginn des 20. Jahrhunderts nur eine kleine, keine 50 Mitglieder zählende jüdische Gemeinde in Reichenbach und der vergleichsweise großen Synagoge zu Hause war, lebten ab Mai 1945 bald mehrere tausend und auf dem Höhepunkt der Entwicklung über 18.000 nun polnische Juden in dem Städtchen. In Rychbach / Dzierżoniów nahm das jüdische Komitee von Niederschlesien seinen Sitz, hier wurde auch das erste jüdische Theater Polens nach dem Krieg eröffnet. Zahlreiche kulturelle und soziale Institutionen, Sportvereine und Parteien bilden eine außerordentlich lebendige und heterogene jüdische Gemeinschaft.

Die ersten Juden, die im Mai 1945 in Reichenbach leben, sind Überlebende aus Konzentrationslagern. Ausgehend vom Lager Groß Rosen hatten über 100 Außenlager Niederschlesien wie ein Netz überzogen. Zwei davon gab es in unmittelbarer Nähe von Reichenbach. In der Stadt gab es praktisch keine Kriegszerstörungen, auch die Fabriken des Ortes sind noch intakt. Und auch eine der nur drei in Niederschlesien unzerstört gebliebenen Synagogen findet sich dort. So bleiben hier mehr Überlebende, als in anderen Städtchen, andere kommen hinzu, die auf der Suche nach Verwandten oder Freunden in die Stadt gekommen sind. Es wird ein jüdisches Komitee gegründet und als ein Woiwodschaftskomitee gegründet werden soll, werden die Vertreter der lokalen Komitees nach Rychbach eingeladen. Der erste Vorsitzende des niederschlesischen Komitees, Jakub Egit, verfolgt die Vision einer jüdischen Siedlung in Niederschlesien.

Als dann 1946 im Zuge der Repatriierung genannten Zwangsumsiedlung von Polen aus den ehemaligen polnischen Ostgebieten nach Westen auch über 100.000 polnische Juden nach Westen wandern müssen, wird dieser Teil der polnischen Migranten planmäßig nach Niederschlesien geleitet, darauf einigen sich das gesamtpolnische jüdische Komitee in Warschau und die polnische Regierung. Und so wird Niederschlesien endgültig zum Zentrum des polnischen Judentums und Rychbach, ab Mai 46 Dzierżoniów, ist seine Hauptstadt.

Dieser weithin unbekannte Teil der niederschlesischen Geschichte steht im Zentrum des Projekts, das wir 2010 in Zusammenarbeit mit der Kreisau Initiative Berlin und der Stiftung Beiteinu Chaj 2004 begonnen haben. In einem ersten Schritt wurde mit Studierenden aus Deutschland, Polen und Israel während eines Seminars eine Ausstellung konzipiert, die inzwischen an verschiedenen Orten in Deutschland und Polen gezeigt worden ist. Während des Seminars lautete die Leitfrage: Was wird von diesem besonderen Abschnitt in der Geschichte des Städtchens noch erinnert, individuell und kollektiv. Was berichten Menschen, die damals dort lebten, als Juden oder Nichtjuden, Polen oder Deutsche und welche Spuren lassen sich heute noch finden, welche Orte in Dzierżoniów erzählen die Geschichte.

Der nächste Schritt des Projekts ist bereits geplant: Das Ende der jüdischen Blütezeit von Dzierżoniów hängt eng mit der massiven Emigration nach Palästina und später Israel zusammen. Eine Emigration, der zeitweise die polnischen Grenzen offen standen, meist jedoch nicht. Die Routen über die grüne Grenze führten für zehntausende Menschen durch das Eulengebirge in die Tschechoslowakei und dann weiter. Diesen Routen wollen wir nachgehen. Ganz wörtlich und im übertragenen Sinne.

 

Dominik Kretschmann ist Bildungsreferent in der Gedenkstätte der Stiftung Kreisau für Europäische Verständigung