So endete das Leben eines jüdischen Ehepaares: Am 18. August 1942 erreichte Meier und Elise Grünbaum die behördliche Anordnung zur „Abwanderung“. Mit einem Großtransport wurden die Eheleute nach Theresienstadt gebracht, wo Meier schon am 3. September wegen „Darmkatarrh und Herzschwäche“ starb –
wie die Naziärzte dies gerne schrieben. Für Elise hatte das schmachvolle Leben seinen Sinn verloren. Sie setzte ihrem Leben selbst ein Ende.
Die Autorin Inge Geiler las anlässlich des Gedenktags zur Reichspogromnacht aus ihrem Werk „Wie ein Schatten sind unsere Tage“. Es geht um die Geschichte der weitverzweigten Familie Grünbaum, aber auch um die Beschreibung eines für viele Menschen grausamen Alltages während der NS-Zeit. 100 Gäste nahmen auf Einladung der Vereine Memor und Gegen Vergessen – Für Demokratie e.V. sowie weiterer Partner an der Lesung teil. Vor den Zuhörern im Gymnasium Gernsheim (Kreis Groß-Gerau), meist Schülern, sagte die Autorin, ihr Buch sei auch als Signal an die junge Generation zu verstehen: „Es ist eine Aufforderung zu höchster Wachsamkeit und Zivilcourage, Stellung zu beziehen gegen Intoleranz, Hass, Gewalt, Gedankenlosigkeit und gefährliche Parolen.“
Über Elise Grünbaum sagt sie in ihrem Buch: „Mit ihrem selbstbestimmten Tod bewahrte sich diese mutige, starke Frau einen letzten Rest ihrer menschlichen Würde.“
Ein Zufall lieferte den Anstoß für das 500-Seiten-Werk: Bei Renovierungsarbeiten in ihrem Wohnzimmer entdeckte Inge Geiler in einer Wandverkleidung ein Bündel Papiere – lose Zettel, Fotografien, Zeitungen, Postkarten, dazu 44 an das Ehepaar gerichtete Briefe. „Leute ich bin zu unglücklich, ich wollte, ich wäre nicht zur Welt gekommen“, las sie auf einem der Papierfetzen. Auf einem anderen stand: „Leute was soll ich nur machen, ich bin völlig wertlos, wertlos.“ Es ist die verzweifelte Klage eines zutiefst gedemütigten, entrechteten und seiner Würde beraubten Menschen.
20 Jahre lang fand die 1933 in Mainz geborene Frankfurterin nicht den Mut, das Thema anzugehen. Gespräche und die Bekanntschaft mit dem Verlegerpaar Schöffling gaben den Anstoß: Inge Geiler recherchierte, setzte Stück für Stück das Bild einer großen Familie zusammen. Dabei kamen ihr Erinnerungen aus der Kindheit in den Kopf: „Mama, was tragen die für komische Broschen?“ Etwa sechs Jahre alt war Inge, als ihr Männer, Frauen und Kinder mit Judenstern begegneten. „Das sind ganz arme Menschen, ich erkläre es dir später einmal.“
Jetzt war es an Inge Geiler, zu erklären, was damals war – und was wieder passieren könnte, wenn keine Achtsamkeit herrscht und Wähler in Deutschland sich politisch nach rechts orientieren. So stellte die Autorin vor den Zuhörern dar, welchen Erschwernissen und Demütigungen die Menschen jüdischen Glaubens ausgesetzt waren: Boykott der Geschäfte, Entfernung von Juden aus Wirtschaft und öffentlichem Dienst, Auferlegung einer Reichsfluchtsteuer, Aberkennung der Reichsbürgerschaft, Verbot der Telefonbenutzung, Ungültigkeitserklärung der Führerscheine, Ausschluss jüdischer Kinder von deutschen Schulen. Der Abbruch persönlichen Verkehrs mit Juden wurde zur „moralischen und völkischen Pflicht“.
Dann das Fanal der Pogromnacht vom 9. zum 10. November 1938. Inge Geiler schilderte den ungezügelten Hass nationalsozialistischer Horden und das Wüten der „Volksmassen“. Max Stein, Neffe der Grünbaums, wurde nahezu totgeprügelt, seine Wohnung kurz und klein geschlagen. Das 80-jährige Ehepaar Grünbaum war derweil nach Frankfurt am Main gezogen, von wo aus es schließlich ins KZ deportiert wurde.
Gräber haben Meier und Elise Grünbaum nicht. Neben Inge Geilers Buch erinnern Stolpersteine in Wiesbaden an sie und die Gedenkstätte Neuer Börneplatz in Frankfurt. Das Buch endet mit einem Kaddisch: „Oh, Herr der Barmherzigkeit, nimm sie in den Schutz der Fittiche der Ewigkeit und mögen ihre Seelen aufgenommen werden im Bund des Lebens […] mit allen frommen Männern und Frauen, denen Seligkeit zuteil geworden ist im Garten Eden.“
Hans Josef Becker ist Mitglied des Vereins Memor Gernsheim und regelmäßiger Kooperationspartner der RAG Rhein-Main.
Erschienen in: Zeitschrift Gegen Vergessen - Für Demokratie Ausgabe 99/2019