Gedenkstätte Hadamar

Die NS-Euthanasie-Verbrechen gehen auf eine Verfügung Hitlers zurück, die er auf den 1. September 1939 rückdatierte, den Überfall der deutschen Wehrmacht auf Polen und damit den Beginn des Zweiten Weltkriegs. Sie ist die einzige erhaltene schriftliche Anordnung Hitlers für einen Massenmord. Die so genannte erste Phase des Krankenmords ist bekannt geworden unter der Bezeichnung "Aktion T4", benannt nach einer eigens eingerichteten Organisationszentrale in der Berliner Tiergartenstr. 4. Anhand von Meldebögen, die an die Heil- und Pflegeanstalten verschickt wurden, wählten ärztliche "Gutachter" die Patienten zur Tötung aus. Wichtigstes Selektionskriterium war die mangelnde Arbeitsfähigkeit.

Die für den Tod bestimmten Patienten wurden ab Januar 1940 in sechs von der „T4“-Zentrale eingerichtete Tötungsanstalten transportiert. Wenige Stunden nach ihrer Ankunft starben sie in einer als Duschraum getarnten Gaskammer. Ihre Leichen wurden sofort an Ort und Stelle in Krematorien verbrannt. Die Angehörigen erhielten Benachrichtigungen und Sterbeurkunden mit falschen Sterbedaten. Nach Protestpredigten des Bischofs von Münster, Clemens August Graf von Galen, ließ Hitler die Gasmorde am 24. August 1941 einstellen. Bis dahin waren insgesamt 70.000 Menschen in den Gaskammern gestorben.

Der Stopp der Gasmorde bedeutete aber nicht das Ende der "Euthanasie"-Verbrechen. Die Morde wurden in einer anschließenden so genannten zweiten Phase nicht mehr in ausschließlicher Verantwortung der „T4“-Zentrale in Berlin, sondern häufig in Verantwortung regionaler Instanzen durchgeführt. Dabei wurden die Patienten mit Hilfe von überdosierten Medikamenten und Hungerkost in einer Vielzahl von Heil- und Pflegeanstalten getötet. Diese „dezentrale Euthanasie“ dauerte bis Kriegsende.

Tötungsanstalt Hadamar
Die 1906 gegründete Landesheilanstalt Hadamar wurde als letzte der „T4“-Tötungsanstalten in Betrieb genommen, nachdem Ende 1940 die Gaskammer, der Sektionsraum und zwei Verbrennungsöfen im Keller der Anstalt eingebaut worden waren.

Die Gasmorde begannen in Hadamar am 13. Januar 1941. An diesem Tag fuhren zum ersten Mal die grauen Busse mit den verhangenen Scheiben durch Hadamar. Sie fuhren den Mönchberg hinauf, um das damalige Hauptgebäude herum, hinein in die neu errichtete große hölzerne Garage im Innenhof. Unter dem Vorwand, sich duschen zu müssen, wurden die Patienten in den Vergasungsraum im Keller geführt und ermordet. Anschließend wurden ihre Leichen sofort in den Krematorien des Nachbarraums verbrannt. Innerhalb weniger Stunden waren alle Spuren der dreißig Menschen dieses ersten Transports beseitigt – als hätte es sie niemals gegeben, als seien sie niemals geboren worden. Der dunkle Rauch, der am 13. Januar 1941 erstmals vom Anstaltsgebäude in den Himmel aufstieg, und der Geruch von verbranntem Fleisch signalisierten den Beginn des Massenmords in Hadamar.

Die Patienten wurden über so genannte "Zwischenanstalten" von 79 Anstalten in den heutigen Bundesländern Baden-Württemberg, Hessen, Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen, Rheinland-Pfalz und Saarland nach Hadamar deportiert. Außerdem dienten zusätzlich die beiden Anstalten Düsseldorf-Grafenberg und Heppenheim als so genannte "Sammelanstalten" für 328 jüdische Patienten, die im Februar 1941 in einer eigenen Aktion nach Hadamar transportiert wurden. Insgesamt wurden zwischen dem 13. Januar und dem 24. August 1941 rund 10.000 Männer, Frauen und Kinder ermordet.

Nach einer Pause von einem Jahr wurden die gezielten Tötungen in Hadamar wieder aufgenommen. Zwischen August 1942 und Kriegsende starben noch einmal 4.500 Menschen. Sie stammten überwiegend aus Anstalten in den heutigen Bundesländern Baden-Württemberg, Brandenburg, Bremen, Hamburg, Hessen, Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen und Sachsen, außerdem aus dem Elsaß. Die Leichen wurden nicht mehr eingeäschert, sondern auf einem 1942 eigens angelegten Anstaltsfriedhof in Massengräbern ohne Sarg verscharrt.

Gedenkstätte Hadamar
Das Gedenken an die Opfer der NS-Euthanasie-Verbrechen hat in Hadamar eine lange Tradition. 1953 wurde im Haupteingang der damaligen Landesheilanstalt Hadamar ein Relief zum Gedenken an die insgesamt rund 15 000 Opfer enthüllt. Es war das erste NS-Euthanasie-Mahnmal in Deutschland. 1964 wurde der Anstaltsfriedhof in eine parkähnliche Gedenklandschaft umgewandelt. Die historischen Kellerräume wurden 1983 auf die Initiative einer studentischen Gruppe geöffnet, die dort eine erste Ausstellung zeigte. Dies war die Geburtsstunde der Gedenkstätte Hadamar. Der Landeswohlfahrtsverband Hessen (LWV) übernahm ihre Trägerschaft und stattete sie bis 1991 mit Film- und Seminarräumen, Archiv, Bibliothek, Büros und einer neu konzipierten Dauerausstellung aus.

Die Gedenkstätte Hadamar nimmt eine Sonderstellung ein, nicht nur unter den Gedenkstätten der Bundesrepublik im Allgemeinen, sondern auch unter den sechs NS-Euthanasie-Gedenkstätten im Besonderen. Der erste Kriegsverbrecherprozess nach dem Krieg wurde gegen das Personal der Tötungsanstalt Hadamar vor einem amerikanischen Militärgericht 1945 in Wiesbaden geführt. Mit ihm wurden die NS-Euthanasie-Verbrechen erstmals weltweit bekannt. Seitdem steht der Name Hadamar für den NS-Krankenmord wie Auschwitz für den Holocaust. Die Gedenkstätte hat einen einzigartigen Bestand an Quellen aus der Zeit des Krankenmords, darunter über 3.500 Patientenakten. Daher verfügt sie als einzige der NS-Euthanasie-Gedenkstätten über eine Datenbank, die alle in Hadamar ermordeten Opfer umfasst. Dies hat zur Folge, dass zahlreiche Anfragen zu Opferschicksalen, vor allem auch von Angehörigen, an die Gedenkstätte gerichtet werden. Kennzeichnend für die Gedenkstätte Hadamar ist das Ensemble von drei historischen Elementen: den Räumen der ehemaligen Tötungsanlage im Keller, der ehemaligen „T4“-Busgarage als einzigem noch erhaltenen Bauwerk seiner Art und dem Anstaltsfriedhof. 2010 wurde die Gedenkstätte Hadamar als zu schützendes Kulturdenkmal von nationalem Rang gemäß Haager Konvention von 1954 anerkannt.

Wandel
Die Gedenkstätte Hadamar wurde inzwischen von insgesamt rund 250.000 Menschen, überwiegend Schüler/innen und junge Erwachsene, aufgesucht. Das pädagogische Angebot reicht von Führungen über Studientage, mehrtägigen Seminaren und Präsentationen von Wanderausstellungen bis zu Gedenkfeiern und kulturellen Veranstaltungen.

Die Gedenkstätte ist seit zehn Jahren einem starken Wandel unterworfen. Sie entwickelt sich von einer regional konzipierten zu einer national und international ausgerichteten Gedenkstätte. Die Besucherzahlen sind zwischen 2007 und 2009 um 25 Prozent von 14.000 auf 18.000 gestiegen. Inzwischen reist nur die Hälfte der Besucher aus Hessen an. Ein neues Aufgabengebiet stellen die Anfragen von Angehörigen und Erinnerungsinitiativen nach Opferschicksalen dar. Sie erhöhten sich zwischen 2009 und 2010 von 200 auf 300. Die Anfragen kommen aus der ganzen Bundesrepublik, z. T. auch aus dem Ausland. Die Gedenkstätte berät zudem seit einigen Jahren auf nationaler, manchmal auch internationaler Ebene Gedenkstätten-, Museums- und Ausstellungsprojekte zum Thema NS-Krankenmord. 2007 erreichte die Gedenkstätte im engen Zusammenwirken mit dem Standesamt der Stadt Hadamar und dem Hessischen Innenministerium, dass Angehörigen auf Wunsch eine Sterbeurkunde mit korrekten Sterbedaten ausgestellt werden kann.

Auch im pädagogischen Bereich hat sich die Gedenkstätte fortentwickelt. Wegen der wachsenden Zahl von Gruppen wurde ein Besucherdienst eingerichtet. Ihm gehören ca. 25 ehrenamtliche Begleiter an, die der Gedenkstätte vom Verein zur Förderung der Gedenkstätte Hadamar zur Verfügung gestellt werden. Als besonderer Schwerpunkt pädagogischer Arbeit der Gedenkstätte hat sich in den letzten Jahren die Betreuung neuer Zielgruppen herausgebildet: Kinder ab dem zehnten Lebensjahr, Menschen mit geistigen Behinderungen und Angehörige der ermordeten Opfer. Jede dieser Besuchergruppen erfordert die Entwicklung speziell für sie ausgerichteter Betreuungskonzepte. Inzwischen wurden Besuchskonzepte für Menschen mit geistiger Behinderung und für Kinder erstellt. Sie wurden ebenso publiziert wie Begleit- und Unterrichtsmaterialien.

Herausforderungen für die Zukunft
Die wachsende Zahl an Besuchern und die steigende Zahl von Anfragen, so erfreulich sie an sich sind, bringen die Gedenkstätte in Bedrängnis. Denn personell ist sie immer noch als regionale Gedenkstätte ausgerichtet. Dies bedeutet, dass sie die an sie herangetragenen Aufgaben nicht mehr im erforderlichen Maße erfüllen kann. Ein Beispiel: Weil im Jahre 2009 mit 18.000 Besuchern Personal- und Raumkapazitäten überschritten wurden, musste im Folgejahr die Besucherzahl beschränkt werden. Wären nicht über 100 Gruppen mit ca. 3.500 Besuchern Absagen erteilt worden, wäre 2010 die Zahl von 20.000 Besuchern erreicht worden. Ein anderes Beispiel: Die für die Forschung und die pädagogische Arbeit notwendige systematische Auswertung von Archivmaterialien und anderen Unterlagen zur Erstellung von Dokumentationen musste bisher unterbleiben.

Die Weiterentwicklung der Gedenkstätte, d. h. vor allem die Erfüllung der an sie herangetragenen Anforderungen, hängt davon ab, inwieweit sie in der Lage sein wird, ihr Personal aufzustocken. Wegen des Kostenvolumens und der reichsweiten Dimension der in Hadamar verübten NS-Euthanasie-Verbrechen ist eine Einbindung des Bundes in die Förderung der Gedenkstätte erstrebenswert.

Hadamar ist ein Ort des Gedenkens, an dem auch die Erteilung von Auskünften über Opferschicksale und die Betreuung von Angehörigen sehr wichtig ist. Die Gedenkstätte ist auch ein Ort der historisch-politischen Bildung, an dem die unterschiedlichen Besuchergruppen mit differenzierten pädagogischen Mitteln über die NS-Euthanasie-Verbrechen und ihre Opfer informiert werden. Zudem ist Hadamar ein Ort, an dem, ausgehend vom NS-Krankenmord, die Fragen von Menschenrechten und Menschenwürde in der Gegenwart thematisiert werden. Es ist zu wünschen, dass die Gedenkstätte Hadamar auch in Zukunft diesen Ansprüchen gerecht werden kann.

Georg Lilienthal ist Leiter der Gedenkstätte Hadamar und Mitglied von Gegen Vergessen – Für Demokratie e.V.