Deutsche Geschichte im Vergrößerungsglas

Auf dem Weg zu einem Jahreskalender der politischen Bildung - von Wolfgang Braun

Der 9. November ist nicht irgendein Tag in der deutschen Geschichte – diese Aussage scheint eine Plattitüde zu sein. Vor zwei Tagen wurde im Rathaus und am Denkmal am Rabbiner-Neumark-Weg an die Ereignisse im Jahr 1938 erinnert. Nur damit wird man der Bedeutung des 9. Novembers nicht gerecht, man kommt ihr vielleicht nahe. Denn an keinem anderen Tag im Jahr lässt sich neuere deutsche Geschichte so im Zeitraffer darstellen wie an diesem. Nicht zuletzt, weil dieser Tag auch ein gewählter Zeitpunkt von symbolischer Bedeutung war.

In der Abfolge: 1848 Erschießung des sächsischen Abgeordneten der Frankfurter Nationalversammlung Robert Blum in Wien. 1918 Ausrufung der Republik in Berlin. 1923 Putschversuch von Monarchisten und Nationalsozialisten in München, „Marsch auf die Feldherrenhalle“. 1938 Pogrome gegen die Juden im gesamten „Großdeutschen Reich“. Und als Nachklang: Öffnung der Berliner Mauer am 9. November 1989 – 51 Jahre nach den Pogromen, 44 Jahre nach dem Untergang des Deutschen Reiches.

Geschichte im Vergrößerungsglas – und doch kaum vermittelbar, wie wir täglich sehen. Die Pointierung des 9. Novembers als Gedenktag für die verfolgten deutschen Juden hebt auf den ersten Blick die Niederlage der Nationalsozialisten hervor – ist aber auch, und dies wird zumeist übersehen, ein später indirekter Triumph derselben: Die verhasste Republik der „Novemberverbrecher“ mit den Farben „Schwarz-Rot-Senf“ ist in der immer noch präsenten Erinnerung der Deutschen auf dem „Müllhaufen der Geschichte“ gelandet – und auch nach dem Kriege dort geblieben. So lieblos, um nicht zu sagen: verächtlich, sind z.B. die Franzosen mit ihren gescheiterten Freiheitsbewegungen nie umgegangen. Nicht nur von dem einen Rande, auch von dem anderen her: „Republik das ist nicht viel! Sozialismus ist das Ziel!“ Der 9. November 1989 unterstreicht die bekannte Alltagsweisheit: Manchmal ist weniger mehr.

Der Reihe historischer Daten und Ereignisse lässt sich jedoch entnehmen, warum sich in der Bundesrepublik Deutschland trotz einer unbestreitbaren Erfolgsgeschichte nie eine Staatsbürgerkultur, die auch nur ansatzweise mit der anderer Staaten mithalten könnte, gebildet hatte. Traumatisiert – im übertragenen Sinne – von einer Niederlage, die keine andere europäische Nation erleiden musste, aufs Mark durchs Handeln der eigenen Seite selbst als Nazi-Gegner geschändet, hatten alle gemeinsam verloren.

Klotzen, nicht kleckern!

Licht und Schatten lässt sich an diesem Tag der deutschen Geschichte vermitteln – Identifikationen sind in diesem Lande jedoch anders zu stiften. Sie setzen ausnahmslos an der Nachkriegsgeschichte an, zu gründlich war der geschichtliche Bruch mit den beiden Eckdaten 30. Januar 1933 und 8. Mai 1945 geraten.

Diese Integrationsleistung zu vollziehen ist letztlich die Kernaufgabe einer aufbauend orientierend gehaltenen politischen Bildungsarbeit, gerade hier in Duisburg. Zu integrieren sind hierbei nicht nur die diversen, zudem krass gegenläufigen in die tausende gehenden Migrationshintergründe, zu integrieren sind nicht zuletzt die Deutschen selbst.

Im Grundsatz sind die Überlegungen nicht neu, sie werden seit Jahren vertreten. Neu ist jedoch der Verlust von Schamschwellen, siehe nur die Ankündigung sattsam bekannter Kräfte, hier in der Stadt am 9. November 2013 „Deutsches“ oder was dafür gehalten wird, wieder „würdigen“ zu wollen. Diesen Milieus ist zu verdeutlichen: Deutsche im Sinne des Grundgesetzes müssen beileibe nicht deutscher Abstammung sein – was immer diese auch sein mag.

Die erforderliche Breite und Tiefe kann nur durch eine Gemeinschaftsanstrengung erreicht werden. Konzentration der Kräfte in Raum und Zeit wurde dafür einmal gesagt. Ein Jahreskalender der politischen Bildung und ein Minimum an praktischer Koordination würden hier in Duisburg schon einen gewaltigen Sprung nach vorne ermöglichen.

Ein geeigneter und umsetzbarer Vorschlag für Duisburg wird in Kürze von der Vereinigung „Gegen Vergessen – Für Demokratie e.V.“ vorgelegt. Die Eckpunkte sind jetzt schon bekannt und gehen auf eine jahrelange Vorarbeit zurück: Eine „Woche des Gedenkens“ um den 27. Januar kann auf die jährliche Gedenkveranstaltung am Tage selbst und den Mahn- und Gedenkgottesdienst am 30. Januar aufbauen. Europawochen wurden im Vorjahr zwar erstmals auf Initiative anderer durchgeführt, eine Ankerveranstaltung war aber der jährliche Abend „Europa feiert! Feiert Europa!“. Er war auf Initiative der Vereinigung hin entstanden. Zu berücksichtigen wären im Entwurf zumindest zwei weitere Schlüsseldaten: Der 23. Mai, der Verfassungstag, in Duisburg seit 2007 begangen mit dem „Fest der Freiheit“, und der 10. Dezember, der Tag der Menschenrechte.

Wichtig bleibt jedoch: Das Primat des bürgerschaftlichen, oder für den der mag: zivilgesellschaftlichen, Engagements sollte immer deutlich bleiben. Sicherlich werden einige Jahre der (Weiter)- Entwicklung und „Einbürgerung“ erforderlich sein, um die gewünschte Breite und Tiefe zu erreichen. Die Zeit wäre gut eingesetzt.

Der Artikel erschien redaktionell überarbeitet und gekürzt in der Rheinischen Post Duisburg am 9.11.2013.

http://www.rp-online.de/nrw/staedte/duisburg/geschichte-im-vergroesserungsglas-aid-1.3802218