"Wie kam denn der Kai nur aus der Kiste? Missing Links in der Demokratiegeschichte"

Artikel von Wolfgang Braun in Zeitschrift erschienen

Denn eben wo Begriffe fehlen,
Da stellt ein Wort zur rechten Zeit sich ein.
Mit Worten läßt sich trefflich streiten,
Mit Worten ein System bereiten,
An Worte läßt sich trefflich glauben,
Von einem Wort läßt sich kein Jota rauben.

Johann Wolfgang von Goethe

 

Inhalt

Das Demokratieprinzip

Demokratiemetaphorik und Demokratiegeschichte

Geschichte des Staates, des Raumes und der Bevölkerung

Demokratiegeschichte zuförderst als begriffliche Anstrengung

Bedeutung der „Begriffshuberei“ für das „Hier und Jetzt“

 

Diejenigen, die noch einen klassischen Geschichtsunterricht genossen haben, kennen die – anders ist es kaum zu bezeichnen – übliche Vermittlung des Schlüsselbegriffes der politischen Nachkriegsgeschichte, des Wörtchen „Demokratie“. Bei der Behandlung der antiken Geschichte, so kurz vor den peleponnesischen Kriegen wird die attische Demokratie mit der weitgehend desinteressierten Schülerschaft durchgegangen – deren Versatzstücke werden auch heute wieder in der breiteren Öffentlichkeit in reichlich veränderter Form und Anordnung legitimatorisch plaziert. Dann geschah lange, lange gar nichts in dieser Hinsicht und wie Kai aus der Kiste taucht diese „Demokratie“ dann je nach zeitlicher und räumlicher Abgrenzung im 18., 19. oder 20. Jahrhundert wieder aus der Versenkung auf.

Das Demokratieprinzip

Die eigentliche Fragestellung wird dabei in der immer unterstellten Fortschrittsgeschichte nicht aufgeworfen: Wieso kamen nach wieviel tausend Jahren dokumentierbarer menschlicher Geschichte auf einmal ganz viele Völkerschaften in ganz kurzer Zeit auf eine Idee, die kurz zuvor nur erstaunte Verblüffung oder brüllendes Gelächter ausgelöst hätte, nämlich die gesamten Untertanen, auch noch beiderlei Geschlechts, an der Organisation der Herrschaft zu beteiligen?1 Nicht nur dies, sondern diese sogar als Quelle der Staatsmacht zu fassen:

Das Recht der Bürger, in Freiheit und Gleichheit durch Wahlen und Abstimmungen die öffentliche Gewalt personell und sachlich zu bestimmen, ist der elementare Bestandteil des Demokratieprinzips. Der Anspruch auf freie und gleiche Teilhabe an der öffentlichen Gewalt ist in der Würde des Menschen (Art. 1 Abs. 1 GG) verankert. Er gehört zu den durch Art. 20 Abs. 1 und Abs. 2 GG in Verbindung mit Art. 79 Abs. 3 GG als unveränderbar festgelegten Grundsätzen des deutschen Verfassungsrechts.2

Die grundsätzliche Bedeutung dieser für Deutschland rechtsgültigen Abgrenzung zwischen einer vollgültigen Umsetzung des Demokratieprinzipes und diversen denkbaren Vorstufen wird deutlich, werden die damit einhergehenden Zeitachsen benannt: Demokratie ist im Weltmaßstab (frühestens) mit dem Aufbau von demokratischen Staaten in Westeuropa nach dem Zweiten Weltkrieg von einer wirklichen Bedeutung. Denn selbst für die Führungsmacht des Westens stellt Hannes Stein, ein Welt-Korrespondent, unter bewusster oder bloß faktischer Verwendung dieses Maßstabes fest, die Demokratie existiere in den Vereinigten Staaten von Amerika seit 56 Jahren, nämlich der bundesstaatlichen Durchsetzung des seit 1871 formell bestehenden Wahlrechtes für Schwarze – damals für Männer versteht sich3.

Demokratiemetaphorik und Demokratiegeschichte

Derart grundsätzliche begriffliche Abgrenzungen werfen erst einmal keine sonderlichen Probleme für eine tägliche Arbeit in diesem Themenbereich mit vorrangig örtlichen und regionalen Bezügen auf, da reicht eine eher metaphorische Verwendung des Wörtchens „Demokratie“ durchaus hin. So hatte die Regionale Arbeitsgruppe Rhein-Ruhr West schon auf einem Abend zur Würdigung der demokratischen Revolutionen von 1848/49 im März 2008 – nach einem Vorlauf von zwei Jahren – für ein Gottfried-Könzgen-Archiv zur Geschichte der (Duisburger) Demokratie geworben4. Da eine solche örtliche Einrichtung kaum die Aufgaben der vom Bundestag 2021 neu beschlossenen Stiftung „Orte der Demokratiegeschichte“ übernehmen könnte, wäre die wirkliche Aufgabe eines solchen Archives das Nachzeichnen der Entwicklung gesellschaftlicher Organisationen und demokratischer Strömungen und des Aufbaus und der Entwicklung entsprechender Milieus in Duisburg und Umgebung gewesen – und die Auseinandersetzungen mit den unterschiedlichen Gegnern der Demokratie in den jeweiligen geschichtlichen Epochen. Einzuflechten wären zudem in Grundzügen die jeweiligen staatlichen Rahmenbedingungen, genannt seien nur das Wahl- und das nicht zu trennende Niederlassungsrecht. Demokratiegeschichte hätte sich strukturell vor allem um die Frage nach dem „hin zur Demokratie“ gehandelt, nicht um die andere Frage, der Geschichte der etablierten Demokratie, des Wie von Demokratie.

Unterstellt wurde bei diesen ersten Überlegungen innerlich ein Rahmen, wie er in der Rede von Horst Köhler am 8. Mai 2005 angerissen wurde. Unter dem Titel "Begabung zur Freiheit" führte er zu dem geschichtlichen Erbe, auf das nach der realen und moralischen Katastrophe des Nationalsozialismus zurückgegriffen werden konnte, aus:

Die Väter und Mütter des Grundgesetzes konnten für diesen Neubeginn an viel Gutes anknüpfen: an Denker der Aufklärung wie Lessing und Kant, an die Ideen der Freiheitskämpfer von 1848 und an die Paulskirchenverfassung, an die Entwicklung des Rechts im 19. Jahrhundert und an das Gedankengut der deutschen Arbeiter­bewegung, an die jahrhunderte alte demogfenberg bis Julius Leber, von Hans und Sophie Scholl bis Dietrich Bonhoeffer.5

Prinzipiell ist diese Listung fast identisch mit der thematischen Ausrichtung der in Gründung befindlichen Bundesstiftung „Orte der Demokratiegeschichte“:

Grundsätzlich stehen dabei national hervorgehobene und gesamtgesellschaftlich relevante Projekte im Fokus. Demokratiegeschichte beschränkt sich nicht auf den parlamentarisch-politischen Raum, sondern umfasst auch die schrittweise Ausweitung demokratischer Ordnungsvorstellungen auf andere gesellschaftliche Bereiche. Sie umspannt dabei primär die Zeit von den demokratischen Bestrebungen in Deutschland im Gefolge der Französischen Revolution über den Vormärz, die Revolution von 1848/49, die Kämpfe für eine demokratische Ordnung in Deutschland im Kaiserreich, die Revolution 1918 und die Weimarer Republik 1919 bis 1933, die auf Einführung demokratischer Strukturen zielenden Widerstandsbewegungen gegen den Nationalsozialismus, auch aus dem Exil heraus, den demokratischen Neubeginn in der Bundesrepublik Deutschland nach 1945 im europäischen Kontext, die zahlreichen gesellschaftlichen Bewegungen zur Ausgestaltung der demokratischen Ordnung in der Bundesrepublik, die Widerstands- und Oppositionsbewegungen in der ehemaligen DDR sowie die Friedliche Revolution 1989/90 mit dem Fall der Berliner Mauer bis hin zur Wiedervereinigung am 3. Oktober 1990.6

Unterschiedlich ist in den beiden Texten im Wesentlichen der fehlende Bezug Horst Köhlers7 auf die Französische Revolution einerseits, andererseits sein ausdrücklicher Rekurs auf die „jahrhundertealte demokratische Kultur der Städte“. Nun geht es an dieser Stelle nicht darum, in Zweifel zu setzen, dass der mit der Bundesstiftung gesetzte zeitliche Rahmen den Vorzug der Praktikabilität hat, es wird nämlich ein klarer Schnitt gezogen zwischen dem Zeitraum vor der Auflösung des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation von 1806 und der sich anschließenden Periode, die mit der Gründung des Deutschen Reiches von 1871 abschloss. Die beiden „Deutschland“ 8 in ihrer Unterschiedlichkeit durch Ausschluss des ersteren berücksichtigt, bleibt aber die entscheidende, eingangs aufgeworfene Frage offen: Wie und wann entstanden die entscheidenden Rechtsvorstellungen für die Organisierung einer Demokratie und setzten sich zudem auch noch durch?

In dieser Hinsicht werden die beiden auf den ersten Blick nachrangigen Abweichungen – ein lokales Projekt in Duisburg hätte sich im Kleinen weitgehend im thematischen Rahmen der Bundesvorgaben bewegt – jedoch fundamental: Mit dem Bezug auf die Französische Revolution für die Aufgaben der Bundesstiftung wird ein anderer Raumbezug gesetzt als in der Köhler-Rede von 2005, mit dessen Bezug auf die Instanz der freien Reichsstädte eine abweichende Zeitachse – bis zurück in das Mittelalter.

Kombiniert man diese beiden Elemente – und hierzu regt die Duisburger Lokalgeschichte geradezu an, wurden doch im Mittelalter, in der Phase der freien Reichsstadt, die beiden ehrenamtlichen Bürgermeister mit dem lateinischen Titel „Consules“ genannt – dann ist wohl ein Pfad beschritten, der mit einer Vielzahl einzelner Schritte die Beantwortung der Eingangsfrage ermöglichen kann: Wie kam der Kai aus der Kiste oder halt die „Demokratie“ in die Welt.

Wobei noch einige Fragen zuvor zu stellen wären: Wie kam der Kai in die Kiste und wie hat er sich in der Kiste eingerichtet? Wie konnte Kai, wenn er nicht als eine Idee im Plato’schen Sinne gedacht wird, die ihre Existenz jenseits der Realität hat, fast 2000 Jahre überdauern? Oder gab es nie einen Kai, der in die Kiste kam und dann auch nicht heraus? Handelt es sich bei der Verwendung des Wörtchens „Demokratie“ letztlich um Namensgleichheiten, nicht mehr. Positiv gewendet: Sollte sich – und sei es nur aufgrund von Namensgleichheiten – Zusammenhänge vermuten lassen, wären die Überlieferungsstränge nachzuweisen oder zumindest glaubhaft zu machen.

Geschichte des Staates, des Raumes und der Bevölkerung

Diesen Fragen näher nachzugehen, bedeutet für einen Deutschen oder für die deutsche Öffentlichkeit in toto im Wesentlichen die Zumutung, sich aus der beengten Wahrnehmung der eigenen Geschichte im Korsett aus Reformation in der frühen Neuzeit und Nationalstaatsbildung des 19. Jahrhundert zu befreien. Es ist zu diesem Zwecke – wie von Horst Köhler unterstellt – nur wieder zu entdecken, dass dem Deutschen (Wilhelminischen) Reich mehr als 1000 Jahre vorausgingen, in dem über das karolingische Reich hinweg vermittels des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation der Subkontinent Europa unter Einschluss der Nachbarstaaten ein gemeinsamer, wenn auch nicht einheitlicher politischer Raum war. Von beidem – der Geschichte der Staaten und seiner (Teil-)Räume – wäre noch einmal die Geschichte der jeweiligen Bevölkerung, ihrer Zusammensetzung und ihrer inneren Entwicklung zu unterscheiden.

Werden diese drei Ebenen in ihrem Wechselspiel zusammengedacht, lösen sich viele Unterschiede, die als politisch-ideologische Gegensätze gedacht werden könnten, in die jeweiligen Lebenshintergründe auf. Im konkreten Fall auf den bessarabiendeutschen Hintergrund der Eltern Horst Köhlers. Aber auch die historischen Wirkungen einzelner Prozesse und Protagonisten lassen sich deutlicher hervorheben, erinnert sei an die Fourty-Eighters in den USA und ihr Engagement auf Seiten der Union im amerikanischen Bürgerkrieg – neben Carl Schurz wäre wohl an dieser Stelle „Fetzenpeter“ Osterhaus, der 1917 in Duisburg starb, zu erwähnen.

Beginnt auf dieser Basis die Suche sind zügig Erstergebnisse zu erwarten. Mental wäre als Voraussetzung jedoch der innere Schritt von einem perzeptionellem Nationalismus, nicht zu verwechseln mit einem praktischen, hin zu einem Europäismus in der Perspektive zu gehen. Diese wäre wiederum weder zu verwechseln mit einem praktischen Eurozentrismus oder praktischer Gleichgültigkeit zu den Nationalinteressen9 der Deutschen von heute, noch würde dies weitere Schritte ausschließen, die die europäische Perspektive in den weiteren Rahmen der Welt einordnen.

Wie immer zu Beginn stellt sich die Frage, wo sinnvollerweise zu suchen sei – und da bleibt sich einzugestehen, dass die Gebiete, die heute Deutschland genannt werden, zwar tragende Pfeiler eines europäischen Reiches der Mitte waren, aber bezogen auf die Entwicklungsdynamik des Gesamtgefüges lagen sie jahrhundertelang überwiegend eher am Rande. Die Musik spielte woanders, gerade wenn die heute dominanten Vorstellungen von Innovationskraft und Modernisierung als Maßstab genommen werden. Bis zur Verlagerung der Handelsrouten im Zuge der Entdeckung der Seewege nach Asien und den Amerikas war dies der Mittelmeerraum, danach waren es die am Atlantik gelegenen Seefahrernationen: Spanien, Portugal, die Niederlande, England und Frankreich.

Demokratiegeschichte zuförderst als begriffliche Anstrengung

Zuvor wurde unterschieden zwischen der Geschichte hin zur Demokratie und der Geschichte des Wie der Demokratie – beides unterstellt einen wie auch gearteten Begriff derselben. Irgendwelche Beteiligungsformen wie auch immer definierter Personengruppen (heute Teilhabe genannt) konstituieren noch keine Demokratie, diese sind über alle Zeiten und in allen Herrschaftsformen nachweisbar. Für die Demokratie wäre zumindest der Ausweis eines bestimmten demos, eines Staatsvolkes, einzufordern, seine gestaltende Kraft für den Verband nachzuweisen – und je nach dessen Fassung wäre mit dessen Existenz jedoch noch lange nicht das eingangs zitierte Demokratieprinzip realisiert. So hatte bekanntermaßen in Athen etwa 15% der Gesamtbevölkerung aktives Wahlrecht, ein noch geringerer ein gestuftes passives.

Diese Abgrenzung gilt erst recht für die „jahrhunderte alte demokratische Tradition“ der Städte. Die häufig zu findende Patrizierherrschaft mit popularen Elementen (Beteiligung von Zünften und Gilden) mag zwar die Einführung einer Demokratie erleichtern, konstituiert diese aber noch nicht. Auf diesem Wege ist auch nicht eine zustande gekommen. Eher vergleichbar sind diese kombinierten Herrschaftsformen in einzelnen Städten mit der Palette von Anstrengungen, eine Bindung der Zentralgewalt an den Willen eines Teils der Beherrschten zu erwirken, von der Magna Charta in England, über die sogenannten „Adelsrepubliken“ im Königreich Polen und Litauen bzw. im Königreich Böhmen, selbiges Teil des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation.

Da ist der paradoxe Beitrag des Ancien Regime in Frankreich bei der Einberufung der Generalstände von 1789 – durch die spätere rebellische Wendung, nämlich die Konstituierung des 3. Standes zur Nationalversammlung – schon von weit höherem Gewicht: Die Generalstände beruhten schon auf etwas wie einem allgemeinen, wenn auch nicht gleichen Stimmrecht. Insofern ist die weitgehend übliche Grenzziehung mit den Vorgängen ab 1789 schon mit gutem Sinn gewählt, nur wird diese dadurch relativiert, dass schon 1791 das allgemeine Wahlrecht für die beabsichtigte konstitutionelle Monarchie von der Nationalversammlung wieder abgeschafft wurde. Das Demokratieprinzip war halt nicht sonderlich verinnerlicht.

Für den Zeitraum ab 1789 wird jedoch eine Problematik aufgeworfen, die tatsächlich menschheitsgeschichtlich neuartig war und mit der Deklaration der Menschen- und Bürgerrechte zwar nicht erstmals, sondern kurz zuvor schon in den 13 rebellischen Kolonien in Nordamerika aufgeworfen wurde, die Fundierung der Herrschaft aus dem Willen der Beherrschten in einem weitläufigen Territorialstaat, nicht in einem kleinen Gebiet, wo möglich sogar auf einer Insel.

Die zuvor schon diskutierten freien Reichsstädte mit ihren erweiterten Mitwirkungsmöglichkeiten sind im deutschen Reichsgebiet in den weitergehenden Territorialzusammenhang eingebunden, in Reichsitalien hatten sie als Repubblica einen weitergehenden Entfaltungsspielraum gegenüber den Territorialherren, denen sie aber bis auf wenige Ausnahmen nicht dauerhaft gewachsen waren. Im prominentesten Fall, der Republik Florenz, schwingen sich die faktischen Stadtherren, die Medici, im Zuge der Renaissance zu den neuen Territorialfürsten auf.

Das der Antike jedoch zeitlich nächstliegende und zugleich langandauerndste, daher durchaus vergleichbar mit der Römischen Republik oder dem Byzantinischen Reich, Beispiel für die Entwicklungsmöglichkeiten einer einzelstädtischen Republik ist Venedig (8./9. Jahrhundert bis 1797), in seiner Zeit eine Großmacht im Mittelmeerraum. Die Bedeutung der Repubblica Serenissima für die Tradierung republikanischen Denkens findet sich dabei weniger in den einzelnen Bestimmungen ihrer Verfassung, als in ihrer grundsätzlichen Konstruktion: Legitimatorische Basis ist die Vollversammlung der volljährigen männlichen Mitglieder einer festgelegten Gruppe von Familien, aus deren Kreis die Schlüsselpositionen durch Wahl besetzt wurden. Darüber erhob sich ein ausgefeilter Staatsapparat mit Zügen einer Geheimdienstdiktatur. Aufgrund der Bedeutung dieses Staates wurde praktisch demonstriert, dass zu den unterschiedlichen Varianten monarchischer Territorialherrschaft, also der Erbfolge als Sukzessionsprinzip, praktikable Alternativen Bestand und Bedeutung haben konnten 10.

Schon die bisherigen, kursorischen Erörterungen verdeutlichen aber, dass es im Wesentlichen eine begriffliche Anstrengung ist bzw. sein wird, die einzelnen Elemente, die Eingang in einen Demokratiebegriff auf Basis des Demokratieprinzipes finden müssen, sachlich zuzuordnen und so den bloß metaphorischen Gebrauch zu verlassen. Bloß durch geschichtliche „Erzählungen“, so sagt man wohl heute, wird dies nicht zu leisten sein und die begrifflichen Abgrenzungen in der Jurisprudenz dürften diesbezüglich den günstigsten Einstieg – im Zusammenspiel mit dem historischen Material – ermöglichen.

Bedeutung der „Begriffshuberei“ für das „Hier und Jetzt“

Die alltagspraktische Bedeutung grundsätzlicher Erörterungen am historischen Beispiel lässt sich zu Abschluss an zwei, zwar nur noch verschwommen erinnerlichen, aber zumindest im Grundsatz bekannten Beispielen illustrieren. Das Erste wäre die bekannte Übung, in den sogenannten „Volksdemokratien“, den „Souverän“ antreten zu lassen und alternativlos die vorgegebenen Einheitslisten zu bestätigen, also das Wahlrecht in eine Zustimmungspflicht zu verwandeln. Das Andere wären die – durchaus in Rekurs auf Athens „direkte Demokratie“ denkbaren – Arbeiter- und Soldatenräte, für die im Ausgangspunkt keine Gewaltenteilung vorgesehen war und die als Legitima-tionsbasis – im Sinne einer „eigentlichen Demokratie“ im Unterschied zur bloß repräsentativen – für eine sich konstituierende Diktatur einer Partei eingesetzt wurden.

Klare Abgrenzungen und Einordnungen ermöglichen dann, die heutigen Verwendungen, vor allem die opportunistischen Etikettierungen zu denen das Wörtchen „Demokratie“ zunehmend in der öffentlichen Debatte eingesetzt wird, hinter sich zu lassen. War in den 0er Jahren das Adjektiv „populistisch“ eine Art Dislike, so ist zurzeit „demokratisch“ das Like in der Debatte. Dabei wird bei der allgemeinen Verwendung der Vokabel faktisch eine Gefahr, der Zerfall des Demokratieprinzipes im Bewusstsein von großen Bevölkerungsgruppen, billigend in Kauf genommen. So häufen sich Stellungnahmen, in denen die Repräsentanz des Volkes11 durch den gewählten Abgeordneten nicht mehr unterschieden wird von der Repräsentanz einer wie auch definierten Gruppe.12

Die alltägliche Zerrüttung grundsätzlicher Rechtsbegriffe13 hat eine Quelle in der politischen Realität, die in ihrer Bedeutung zumeist kaum zur Kenntnis genommen wird, nämlich das dilemmatische Verhältnis von nationalen Parlamenten und Europäischem Parlament. Wird die Formulierung von Hannes Stein aufgegriffen, in den USA seien demokratische Verhältnisse erst vor 56 Jahren eingekehrt, wäre das Europäische Parlament im Kern zwar die demokratische Legitimation des Staatsverbundes, aber als in sich vordemokratische Institution bezogen auf einen Einzelstaat. Ursächlich für diese Verortung ist, dass das EP aufgrund des starken Gefälles des Gewichts der einzelnen Stimme an der Urne von bis zu 1 zu 12, die erforderlichen Repräsentationskriterien für die jeweiligen ersten Parlamentskammern auf nationaler Ebene nicht erfüllt:

Gemessen an verfassungsstaatlichen Erfordernissen fehlt es der Europäischen Union auch nach Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon an einem durch gleiche Wahl aller Unionsbürger zustande gekommenen politischen Entscheidungsorgan mit der Fähigkeit zur einheitlichen Repräsentation des Volkswillens. Es fehlt, damit zusammenhängend, zudem an einem System der Herrschaftsorganisation, in dem ein europäischer Mehrheitswille die Regierungsbildung so trägt, dass er auf freie und gleiche Wahlentscheidungen zurückreicht und ein echter und für die Bürger transparenter Wettstreit zwischen Regierung und Opposition entstehen kann. Das Europäische Parlament ist auch nach der Neuformulierung in Art. 14 Abs. 2 EUV-Lissabon und entgegen dem Anspruch, den Art. 10 Abs. 1 EUV-Lissabon nach seinem Wortlaut zu erheben scheint, kein Repräsentationsorgan eines souveränen europäischen Volkes. Dies spiegelt sich darin, dass es als Vertretung der Völker in den jeweils zugewiesenen nationalen Kontingenten von Abgeordneten nicht als Vertretung der Unionsbürger als ununterschiedene Einheit nach dem Prinzip der Wahlgleichheit angelegt ist.14

Auch diesbezüglich gilt, was zuvor an den historischen Beispielen schon angeschnitten wurde, Klarheit in den Begriffen ist für jede politische Bildungsarbeit erforderlich. Auch für alle diejenigen, die sich die Vereinigten Staaten von Europa wünschen, sollte gelten, dass die Errungenschaften des Demokratieprinzips nicht auf dem Altar einer geopolitischen Option geopfert werden – im Eifer des Gefechts eventuell nicht nur das Prinzip, sondern die ganze Demokratie 15.

Die für den absehbaren Zeitraum erforderliche Fähigkeit den nationalen Rahmen, für uns die Bundesrepublik Deutschland, in seinem rechtlichen Prius gemäß des Demokratieprinzips zu schützen, ohne die Möglichkeiten zur Europäischen Integration zu verschütten oder zu blockieren, wären argumentativ zu vermitteln.

 

1 Bezogen auf die unterschiedlichen Formen der persönlichen Unfreiheit, vor allem Leibeigenschaft und Sklaverei, die rechtlich von der ILO heute gleichgestellt sind, ist in Erinnerung zu rufen, dass deren Abschaffung in beiden Fällen erst im 19. Jahrhundert richtig Fahrt gewann, obwohl sich erste Anläufe bis in das 15. Jahrhundert zurückverfolgen lassen.

2 BVerfG, Urteil des Zweiten Senats vom 30. Juni 2009, Absatz 211 (sogenannter Lissabon-Entscheid)

3 Hannes Stein, Der feine Unterschied zwischen Republik und Demokratie, 03.04.2021

4 Auch wenn keine Umsetzung dieses Konzeptes erfolgen konnte, die Orientierung wurde nach Maßgabe der eigenen Möglichkeiten weiterverfolgt. So wurden in den Jahren 2013 / 14 in der Rheinischen Duisburg in zwei Staffeln insgesamt neun Porträts unter dem Serientitel „Bedeutende Duisburger Demokraten“ veröffentlicht, einige wurden für das damalige „Fest der Freiheit zum Verfassungstag“ erstellt. Auch der Bezug zur 1848er-Revolution blieb gewahrt, 2018 wurde das runde Jubiläum wieder begangen.

5 Rede von Bundespräsident Horst Köhler bei der Gedenkveranstaltung im Plenarsaal des Deutschen Bundestages zum 60. Jahrestag des Endes des Zweiten Weltkrieges in Europa, Abschnitt: III.

6 Rahmenkonzept zur Weiterentwicklung der Orte der Demokratiegeschichte, S. 5

7 Die Nichterwähnung der Weimarer Republik sollte nicht auf die Folie „konservative Rücksichtnahme“ gegenüber den Altvorderen gespannt werden, dagegen spricht schon die nicht eingeschränkte Erwähnung der Arbeiterbewegung. Einerseits entspricht sie dem Anlass und dem Rahmen der Rede (8. Mai 1945 und 8. Mai 2005), andererseits spiegelt sie den damaligen parteiübergreifenden Komment. Auf „Weimar“ kam niemand, auf keiner Seite gerne zu sprechen. So kann die Ausgestaltung des 90jährigen Jahrestages der Novemberrevolution im Rückblick nur als schäbig bezeichnet werden. Eine Änderung zum Positiven brachte erst das Jahr 2018, erkennbar ein Verdienst des Bundespräsidenten Frank Walter Steinmeier – akkordiert von einer ganzen Reihe neuerer historischer Publikationen.

8 Bei einem Blick auf die Fachdebatte ist der Einwand denkbar, dass die gegen die Verwendung des Wörtchens „Deutschland“ der Einwand geltend gemacht werden könnte, bei dieser Einordnung handele es sich um einen Anachronismus, vor dem 19. Jahrhundert von einem Deutschland zu reden, gäbe keinen Sinn. Dem dürfte so sein, nur handelt es sich um einen Anachronismus mit geschichtlicher Wucht in eben diesem 19. Jahrhundert. Ein Nachklang dieser Wucht ist heute noch zu spüren, in Erinnerung gerufen seien die Kyffhäuser-Treffen von Björn Höcke.

9 Damit keine unangebrachten Befürchtungen geweckt werden: „…die Völker - das heißt die staatsangehörigen Bürger –“ BVerfG, a.a.O., Absatz 229

10 Siehe auch Arne Karsten, Geschichte Venedigs, München 2012 / Für die schnelle Gegenprüfung, bei den bekannten Grenzen täglich änderbarer lexikalischer Quellen, können auch die Wikipedia-Artikel herangezogen werden: Republik Venedig, Wirtschaftsgeschichte Venedigs, Verfassung Venedigs, Rat der 10, Arsenal Venedig, Buchdruck in Venedig

11 Siehe Fußnote 9.

12 Bezogen auf den aktuellen Schlüsselbegriff in der Auseinandersetzung, das Wörtchen „Zukunft“ kann dabei nachgesetzt werden, dass die Masse der Sci-Fi-Literatur aus den 40er und 50er Jahren, deren damalige technologischen Phantasien zur Zeit von den Unternehmen des Tech-Sektors 1 zu 1 abgearbeitet werden, im Kern fast nur neo-feudale oder neo-aristokratische Gesellschaftskonzepte beinhalteten bzw. propagierten. Der bekannteste Fall dürfte die Star Wars-Saga sein, vom Prinzip unterschieden sich die einzelnen Entwürfe diesbezüglich kaum. Dies ist bezogen auf die Zukunft der Demokratie fast bedrohlicher als die von Zeit zu Zeit Aufmerksamkeit an sich ziehenden rechtspopulistischen Organisationsversuche mit eher antiquierten Bezügen.

13 So lässt sich schon seit längerem beobachten, dass die Worte Menschenrechte, Bürgerrechte und Grundrechte mehr oder weniger wahllos verwandt werden, weil sie im Alltagsbewusstsein, auch der sog. bildungsnahen Schichten keinerlei gesonderten Mitteilungswert mehr oben. Nicht zuletzt deshalb wurde in Duisburg schon 2008 – die Möglichkeiten einer örtlichen Gruppe sind halt sehr beschränkt – von einer jungen Juristin bei einer Schulveranstaltung ein diesbezüglicher Vortrag gehalten. Letztlich ist auch die unerwartet erfolgreiche Demokratiedeckelaktion (Gesamtauflage seit 2014 ca. 100.000 Ex.) mit den Vier Freiheiten des Franklin D. Roosevelt einzuordnen, nämlich Förderung des Rechtsbewusstseins – in der breiten Öffentlichkeit, auch mit unorthodoxen Mitteln.

14 BVerfG, a.a.O., Absatz 280

15 Stillschweigend wurde der Unterschied zwischen nationaler und europäischer Ebene im Duisburger Veranstaltungsprogramm immer berücksichtigt, so wurden mit einem Abstand von nur 14 Tagen jahrelang ein Fest zum Verfassungstag und zum Europatag veranstaltet, zugegebenermaßen ein ziemlicher Kraftakt. Dem Charakter beider Tage entsprechend wurden auch die Veranstaltungen angelegt, in dem einen Fall als „Gehstruktur“ zur Demokratiewerbung, in dem anderen Fall als „Kommstruktur“ für die europaorientierten Mittelschichtler.

Dieser Artikel ist in gekürzter Fassung in der Zeitschrift "Gegen Vergessen - Für Demokratie", Ausgabe 108, erschienen. Die Zeitschrift finden Sie hier.

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