Spurensuche. Lokal- und Regionalgeschichte als Migrationsgeschichte. Ein Workshop im Rahmen des Schwerpunktprojektes „Praktische Geschichtsvermittlung in der Einwanderungsgesellschaft“

von Ruth Wunnicke

Zu allen Zeiten verließen Menschen immer wieder ihre ursprüngliche Heimat. Und auch Deutschland ist schon lange ein Ein- und Auswanderungsland. Die Migrationsgeschichte hat in der deutschen Geschichts- und Sozialwissenschaft noch keine lange Tradition und erst seit wenigen Jahren finden Migrations- und Herkunftsgeschichte Eingang in die historisch-politische Bildung in Schulen und außerschulischen Bildungseinrichtungen. Eine Vermittlungsmethode dabei ist die sogenannte Spurensuche, d.h., das lokale Umfeld wird nach Spuren unterschiedlicher Wanderungsbewegungen untersucht. Die Beschäftigung mit dem eigenen unmittelbaren Lebensraum bietet Jugendlichen einen niedrigschwelligen, lebensweltlichen Zugang zur Geschichte und lädt dazu ein, sich mit Fragen nach der eigenen Herkunft und Identität zu beschäftigen.

Im September 2011 lud Gegen Vergessen – Für Demokratie e.V. gemeinsam mit Herrn Dr. Manfred Grieger, Leiter der Historischen Kommunikation der VW AG, und der Bundeszentrale für politische Bildung Multiplikatorinnen und Multiplikatoren der historisch-politischen Bildung zu einem anderthalbtägigen Workshop nach Wolfsburg ein. In diesem Workshop wurde das Format der Spurensuche zur Vermittlung lokaler Migrationsgeschichte analysiert, diskutiert und bewertet.

Die junge Geschichte der Stadt Wolfsburg ist geprägt von sehr unterschiedlichen Migrationsbewegungen: italienische „Schwarzhemden“ als Leiharbeiter, Zwangsarbeiter, Flüchtlinge und Vertriebene, „Gastarbeiter“ verschiedener Nationen, Aussiedler und Spätaussiedler. 35 Nationen leben heute in Wolfsburg, wovon die Italiener mit über 5.000 Menschen die größte Bevölkerungsgruppe vor Menschen aus Polen und der Türkei sind. Mehr als 17.000 Aussiedler, Angehörige der deutschen Minderheiten vor allem aus Polen, Rumänien und der UdSSR, kamen in den letzten 30 Jahren nach Wolfsburg und blieben mehrheitlich in der Stadt.

Mit Angehörigen verschiedener Gruppen, die in Wolfsburg einen ersten Zugang zum Thema Migration darstellen können, trafen sich die Teilnehmer des Workshops zu Gesprächen: Mit dem Bund der Vertriebenen, der Ortsgruppe Wolfsburg der Landsmannschaft der Deutschen aus Russland e. V., der Liberalen Jüdischen Gemeinde Wolfsburg, dem Centro Italiano. Da viele Spurensuchen auch auf solche Gruppen stoßen, sollte hinterfragt werden, was sie zu solchen Projekten beitragen können. Außerdem präsentierte das Stadtarchiv Wolfsburg sein pädagogisches Angebot für Schüler zur Erforschung der Migrationsgeschichte der Stadt.  

Die Teilnehmer des Workshops waren sich einig darin, dass Spurensuche Jugendlichen die Vielfalt von Lebenswelten aufzeigen und ihnen helfen kann, gewisse Klischees zu durchbrechen. Es sollte jedoch nicht erwartet werden, Jugendliche mittels der Auseinandersetzung mit Migrationsgeschichte zu mehr Toleranz zu erziehen.

Die Teilnehmer des Workshops diskutierten und entwickelten Empfehlungen für eine Spurensuche zur Migrationsgeschichte, die sowohl in Städten als auch im ländlichen Raum angewandt werden kann. Empfohlen wurden entsprechende Orte, Institutionen und Personen/Zeitzeugen, die zur lokalen Spurensuche und als Kooperationspartner herangezogen werden können. Die Methoden und Herangehensweisen sind dabei vielfältig. Von einer vorbereiteten Recherche im lokalen Archiv über Interviews, der Suche nach Gegenständen der Migrationsgeschichten, Besuchen in Religionsgemeinschaften bis hin zur freien Fotodokumentation im lokalen Umfeld ist vieles möglich. Entscheidend ist jedoch, den Lehrern und Multiplikatoren die Scheu vor diesem zeitlich aufwändigen Projekt zu nehmen. Dabei spielt die Anbindung an Lehrpläne und Rahmenprogramme außerschulischer Bildungseinrichtungen, wie Erinnerungsorte oder Volkshochschulen, eine entscheidende Rolle.

Orte wie z.B. Friedhöfe, Denkmäler, Straßenzüge, Läden und Restaurants und Institutionen wie z.B. Archive, Museen, Ortsfeuerwachen, Migranten- und Religionsgemeinschaften und Heimatstuben bieten für die lokale Spurensuche wichtige Anhaltspunkte. Durch den historischen Ansatz bei der Spurensuche können die Veränderungen von Orten oder Institutionen untersucht und Einflüsse durch Migration sichtbar gemacht werden. Einzelne Stadtarchive haben sich bereits auf das Thema Migrationsgeschichte eingelassen und bieten pädagogische Programme für Schulen an. Lehrer und Multiplikatoren können sich in ihrem Umfeld feste Orte oder Kooperationspartner in Institutionen suchen. Vor allem in der Zusammenarbeit mit Institutionen sollte bedacht werden, dass sie, ähnlich wie Zeitzeugen, bestimmte Narrative weitergeben, die kritisch hinterfragt werden müssen. Doch nicht immer muss bei der Spurensuche die Arbeit mit Orten und Institutionen sinnvoll sein. Jugendliche haben durchaus einen eigenen Blick auf das Thema Migration, wenn Sie beispielweise mit einem Fotoapparat unterwegs sind: Plakate, Graffiti und Straßenszenen können viel über Migration erzählen und als Einstieg in eine Spurensuche genutzt werden.

Die Arbeit mit Zeitzeugen ist für die Spurensuche zur Migrationsgeschichte unerlässlich. Zeitzeugen können über Religionsgemeinschaften, Migrantenvereine oder anderweitige ortsansässige Gruppen, wie z.B. die Feuerwehr oder Karnevalsvereine, gewonnen werden. Gleichwohl muss die Zusammenarbeit mit Zeitzeugen gut vor- und nachbereitet werden. Zeitzeugenberichte bedürfen einer besonderen Reflexion, denn sie geben eine private, oft von fremden Erinnerungen und Deutungsversuchen überlagerte Perspektive auf die Geschehnisse wieder. Dieser biographische Zugang stellt Schüler und Lehrer vor die Aufgabe, von der individuellen Ebene des Zeitzeugen wieder zurück zur allgemeinen Ebene zu gelangen und den Zeitzeugen als historische Quelle zu verstehen. Lehrer sollten daher ihre Schüler zuvor mit der Methode der Oral History vertraut machen.

Insbesondere für die Erforschung der Migrationsgeschichte ist besondere Sorgfalt im Umgang mit Zeitzeugen geboten, denn nicht alle Zuwanderungsgruppen, die per definitionem als Migranten gelten, wollen als solche verstanden werden, wie z.B. Mitglieder des Bundes der Vertriebenen oder Spätaussiedler. Oftmals liegt der Grund in der negativen Konnotation der Begriffe „Migrant“ und „Menschen mit Migrationshintergrund“. Dabei spricht das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge von Migration „wenn eine Person ihren Lebensmittelpunkt räumlich verlegt. Von internationaler Migration spricht man dann, wenn dies über Staatsgrenzen hinweg geschieht." Demnach ist nahezu jeder Mensch ein Migrant. Selbst wer von Mecklenburg nach Bayern zieht, gilt als Binnenmigrant. Enger gefasst ist der Begriff „Menschen mit Migrationshintergrund“. Dabei ist „Migrationshintergrund“ ein Ordnungskriterium der deutschen amtlichen Statistik zur Beschreibung „einer Bevölkerungsgruppe, die aus seit 1950 eingewanderten Personen und deren Nachkommen besteht“. Geprägt wurde der Begriff erst in den 1990er Jahren. Er war eine Reaktion auf den Umstand, dass aus den postkommunistischen Staaten vermehrt Aussiedler nach Deutschland kamen, die zwar eine deutsche Volkszugehörigkeit hatten, aber ähnliche Probleme bewältigen mussten wie andere Zuwanderergruppen auch. Im Alltag und in den Medien hat sich der Begriff „Migrationshintergrund“ durchgesetzt, wird aber immer wieder unkorrekt als Synonym für „Ausländer“ oder „Migrant“ benutzt.

Während in den alten Bundesländern Museen und Archive zunehmend die lokale Migrationsgeschichte in den Focus nehmen – derzeit vor dem Hintergrund der Anwerbeabkommen –, herrscht in den neuen Bundesländern noch Unsicherheit. Vertriebenenverbände waren in der DDR verboten und bieten heute kaum Anknüpfungspunkte. Informationen zu diesem Thema lassen sich u.a. im Schlesischen Museum Görlitz oder im Pommerschen Landesmuseum Greifswald finden. Ebenso bieten Familiengeschichten einen guten Ansatz. Vertragsarbeiter in der DDR, u.a. aus Asien und Afrika, gingen nach einer bestimmten Zeit zurück in ihre Heimatländer. Doch auch sogenannte temporäre Migranten haben Spuren hinterlassen, die untersucht werden sollten. In Stadt- und Werksarchiven können teilweise noch Unterlagen oder Fotoalben Auskunft über Vertragsarbeiter geben. Geeignete Zeitzeugen sind jene einstigen Vertragsarbeiter, die nach 1989 in der Bundesrepublik blieben.

 

Ruth Wunnicke ist wissenschaftliche Mitarbeiterin von Gegen Vergessen – Für Demokratie e.V. im Projekt „Praktische Geschichtsvermittlung in der Einwanderungsgesellschaft