Gewundert hat es wohl niemanden, als die Nachricht erschien, dass Joachim Gauck den Point-Alpha-Preis erhalten soll. Eher machte sich Verwunderung breit: Hat er den nicht schon längst? Wenn nicht er, wer sonst? Und doch ist es ein Wunder, dass Sie, sehr geehrter Herr Bundespräsident, hier heute in unserer Mitte sitzen. Wie wird ein ehemaliger Jugendpfarrer aus Rostock-Evershagen, der auf der Halbinsel Fischland in Mecklenburg als Sohn eines Kapitäns und einer Bürofachfrau in der Diktatur aufgewachsen ist, erst Chef einer Bundesbehörde, die seinen Namen tragen sollte, und später auch noch Bundespräsident eines wiedervereinten Deutschlands?
Lieber Joachim Gauck, es ist ein langer ungewöhnlicher Weg, den Sie bisher gegangen sind. Wer Sie ein Stück des Weges begleiten durfte, ist reich beschenkt worden. Sie waren immer mehr als nur der eine. Sie waren Aufarbeiter und Erinnerer, Zuhörer und Lernender, Provokateur und Mahner, Seelsorger und Psychologe, Prediger und Lehrer. Und Sie haben in ganz wunderbarer Weise dem Politischen ein menschliches Antlitz verliehen. Wenn ich im Folgenden versuche, einigen Facetten Ihrer besonderen Persönlichkeit ein wenig nachzuspüren, tue ich dies in ehrlicher Bewunderung und tief empfundener Dankbarkeit. Was für ein Leben!
Beginnen wir mit Joachim Gauck als Aufarbeiter und Erinnerer. Beide Handlungsperspektiven sind eng verwoben mit seiner eigenen Biographie. Als Joachim Gauck 11 Jahre alt war, das war 1951, wird sein Vater nach Sibirien verschleppt, die Familie bleibt lange im Ungewissen über sein Schicksal, und erst vier Jahre später wird der Vater begnadigt und kehrt zurück zur Familie. Viele Kinder wuchsen in den 1950er Jahren in Deutschland ohne Vater auf. Bei Joachim Gauck führt diese einschneidende Erfahrung, die er der sowjetischen Besatzungsmacht zu verdanken hatte, zu früher Distanz und Ablehnung des DDR-Unrechtsstaates.
Er studiert Theologie und wird Pfarrer, zunächst in Lüssow (Kreis Güstrow), dann ab 1971 im Plattenbauviertel Rostock-Evershagen. Die Stasi ist bereits auf ihn aufmerksam geworden und überwacht ihn von nun an. Keine einfachen Zeiten! In den Jahren 1989/1990 engagiert er sich stark in der kirchlichen und politischen Protestbewegung in Mecklenburg. Gauck leitet wöchentliche Gottesdienste mit anschließender Großdemonstration in Rostock. Er wird Mitglied und Sprecher des Neuen Forum Rostock und erlebt die Friedliche Revolution als Initialzündung für sein späteres politisches Wirken. Nun nimmt sein Leben auch politisch Fahrt auf:
Als Sonderbeauftragter ist er aber mehr als der Leiter einer zentralen Behörde, er wird die Personifizierung der Aufarbeitung der DDR-Vergangenheit, kaum jemand bemühte sich je um die korrekte Bezeichnung dieser Behörde, auch die Kurzform „Stasi-Unterlagen-Behörde“ verwendete eigentlich niemand. Alle sagten „Gauck-Behörde“ - viele auch nach Ende seiner zehnjährigen Amtszeit im Jahre 2000.
Joachim Gauck selbst bleibt aber nicht nur diesem einen Thema verhaftet. Der Mann, der so untrennbar mit der DDR-Aufarbeitung verbunden ist, wird im Jahr 2003 als Nachfolger von Hans-Jochen Vogel und Hans Koschnick Vorsitzender des überparteilichen Vereins „Gegen Vergessen - Für Demokratie“. Auch in dieser Funktion, die er immerhin neun Jahre bekleidet, setzt er sich unermüdlich für die Auseinandersetzung mit dem Unrecht der DDR-Diktatur ein.
Gleichzeitig betont er die Notwendigkeit, aus der Beschäftigung mit der eigenen Geschichte Lehren für die Gegenwart und Zukunft zu ziehen. Konsequent geißelt er den aufkeimenden Rechtsextremismus.
Joachim Gauck steigt tief in diese Themen ein und setzt sich als Vorsitzender wirkungsvoll für die Opfer im „Erinnerungsschatten“ ein, zum Beispiel für die Opfer von „NS-Euthanasie und Zwangssterilisierung“, für Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter, für Opfer der Wehrmachtsjustiz, für sowjetische Kriegsgefangene.
Aus dem Aufarbeiter wird immer stärker ein Erinnerer, eine Berufung, die er später ins Amt des Bundespräsidenten mitnimmt. Dort haben wir Joachim Gauck 2013 als ersten führenden deutschen Politiker beim Gedenken im französischen Dorf Oradour-sur-Glane erlebt, in dem 1944 die SS-Division „Das Reich“ 642 Menschen ermordete, darunter viele Frauen und Kinder. Ein Jahr später bittet er als Staatsoberhaupt Griechenland um Verzeihung für die deutschen Kriegsverbrechen und besucht das Dorf Lyngiades, in dem die Wehrmacht mehr als 80 Menschen ermordete. Und die Menschen um ihn herum spüren: Das sind nicht nur Gesten und Symbole bundesrepublikanischer Erinnerungskultur; hier ringt ein Mensch mit der Geschichte seines Volkes.
Joachim Gauck wäre nicht so glaubhaft, wenn er nicht die Gabe des Zuhörens und stetigen Lernens hätte. Wer ihn einmal während einer Publikumsveranstaltung erlebt hat, vielleicht auf einer seiner Lesungen nach Erscheinen der Autobiografie „Winter im Sommer, Frühling im Herbst“ (2009), weiß um die besondere Verbindung, die zwischen ihm und den Menschen spontan entstehen kann. Er lässt die Menschen an seinem Innenleben teilhaben, setzt sich ihnen aus, zeigt Verletzbarkeit. Aber er nimmt auch selbst Anteil, lässt sich berühren von den Schicksalen anderer. Und je mehr er eintaucht in diese vielen unterschiedlichen Geschichten der Menschen öffnet er sich anderen Sichtweisen auf die Welt.
So zum Beispiel auch bei der zentralen Frage des Zusammenlebens in der Einwanderungsgesellschaft. Von Anfang an war es ihm sehr wichtig, sowohl die Schwierigkeiten als auch die Chancen zu benennen, die mit Migration verbunden sind. Nur so sei es möglich, ein stabiles neues „deutsches Wir“ formen zu können. Joachim Gauck gehörte zu den wenigen, die im Krisenjahr 2015 sowohl jenen aus dem Herzen sprach, die den ankommenden geflüchteten Menschen mit großer Offenheit und Hilfsbereitschaft begegneten, als auch denjenigen, die sich Sorgen machten, ob Deutschland diese Migrationswelle bewältigen würde, als er sagte:
„Das ist unser Dilemma: Wir wollen helfen. Unser Herz ist weit. Aber unsere Möglichkeiten sind endlich.“
Diese Fähigkeit, die Widersprüche und Zumutungen des Alltags aufzunehmen und konstruktiv zu verarbeiten, würdigte bei seinem Abschied als Bundespräsident der Leiter des katholischen Büros in Berlin, Prälat Dr. Karl Jüsten, mit – wie ich finde sehr zutreffenden – Worten: „Er war vor allen Dingen ein guter Zuhörer. Er hat sich auf die Menschen eingelassen und er war wirklich ein Bundespräsident für alle Deutschen. […] Das zeichnet vielleicht auch den Christenmenschen aus, der aus seiner inneren Haltung des Glaubens heraus tolerant sein kann, auch gegenüber den Andersgläubigen und aus dieser Haltung heraus auch offen sein kann für Andere. Diese Offenheit war vielleicht seine größte Stärke.“
Jedoch: Bei einigen von Ihnen wird sicherlich noch ein anderes Bild des Bundespräsidenten a.D. Joachim Gauck präsent sein, eines, das nicht selten für Kontroversen und Debatten gesorgt hat. Denn Joachim Gauck ist auch ein Provokateur und Mahner.
Er ist bekannt für deutliche Worte, für Zuspitzungen, ja sogar für verbale Attacken. In seiner ersten Rede als Bundespräsident schleuderte er den wieder erstarkten Rechtsextremisten in unserem Land den danach vielzitierten Satz entgegen: „Euer Hass ist unser Ansporn!“. Einige Zeit später musste sich das Bundesverfassungsgericht intensiv mit der Frage beschäftigen, ob ein Bundespräsident Demokratiefeinde als „Spinner“ bezeichnen darf. Wieder einmal hatte Joachim Gauck provoziert. Er tut dies nicht aus Übermut oder um Menschen zu kränken, sondern weil er Menschen aus der Reserve locken will. Der österreichische „Standard“ hat einmal formuliert, Gauck versuche „verschiedenste gesellschaftliche Gruppen […] aus ihrer ideologischen Vermauerung“ zu stemmen, indem er, je nach Gesprächspartner, einen Standpunkt einnimmt, der dem ihrem Paroli bietet.
Joachim Gauck fordert heraus, um Debatten aus ihren eingefahrenen Linien zu befreien und demokratische Aushandlungen lebendig zu gestalten. Solche Auseinandersetzungen müssen selbstverständlich Grenzen haben. Streit und Konflikte gehören aber zu einer lebendigen Demokratie. Und so steht hinter dem herausfordernden Stil von Joachim Gauck immer eine klare Absicht: Die Demokratie und ihre Werte zu verteidigen, aus der Geschichte tatsächlich Konsequenzen zu ziehen, Handeln zu reflektieren und auch zu verändern, wenn es sich als notwendig erweist. In seinem Buch „Toleranz: einfach schwer“ schreibt er:
„Eine offene Gesellschaft braucht das Engagement aller Demokraten unabhängig von ihrer Herkunft, ihrem Glauben oder anderen Besonderheiten. Sie braucht eine starke Mitte, Menschen, die sich einer fundamentalistischen Intoleranz ebenso widersetzen wie einer allzu nachsichtigen Toleranz und auf den gleichen demokratischen Rechten für alle beharren.“
Wie weitsichtig Gaucks Mahnungen waren, zeigt sich etwa an seiner Rede auf der Münchener Sicherheitskonferenz – er war der erste Bundespräsident, der 2014 in dieser Funktion dort sprach. Er forderte damals, Deutschland müsse mehr Verantwortung übernehmen, auch militärisch. Das brachte ihm viel Kritik ein, heute wirken mache Passagen seiner Rede eher wie eine Prophezeiung. So heißt es dort: „Politiker müssen immer verantworten können, was sie tun. Sie müssen aber auch die Folgen dessen tragen, was sie unterlassen. Auch wer nicht handelt, übernimmt Verantwortung. Es ist trügerisch sich vorzustellen, Deutschland sei geschützt vor den Verwerfungen unserer Zeit - wie eine Insel. Denn Deutschland ist so tief verwoben mit der Welt wie wenige andere Staaten. Somit profitiert Deutschland besonders von der offenen Ordnung der Welt. Und es ist anfällig für Störungen im System. Eben deshalb können die Folgen des Unterlassens ebenso gravierend wie die Folgen des Eingreifens sein - manchmal sogar gravierender.“
Ähnlich klar waren seine Worte zur Krise in der Ukraine in seiner Danziger Rede zum 75. Jahrestages des deutschen Überfalls auf Polen:
„Die Geschichte lehrt uns, dass territoriale Zugeständnisse den Appetit von Aggressoren oft nur vergrößern. Die Geschichte lehrt uns auch, dass aus unkontrollierter Eskalation eine Dynamik entstehen kann, die sich irgendwann der Steuerung entzieht. Und deshalb strebt Deutschland – wie die ganze Europäische Union – nach einer deeskalierenden Außen- und Sicherheitspolitik, die Prinzipienfestigkeit und Kompromissfähigkeit, Entschiedenheit und Elastizität miteinander verbindet – und die imstande ist, einer Aggression Einhalt zu gebieten ohne politische Auswege zu verstellen.“
Für seine Haltung ist er 2017 übrigens mit dem Ukrainischen Orden der Freiheit ausgezeichnet worden.
Das politische Gespür von Joachim Gauck basiert nicht so sehr auf der nüchternen Analyse der Lage, sondern auf einem tieferen Verständnis des Menschen. Er ist zugleich Seelsorger und Psychologe.
Wir haben viele Momente erlebt, in denen Joachim Gauck Menschen, die Trost brauchten, mit einer selbstverständlichen Geste umarmt hat. Ob es Opfer von Rassismus oder Holocaustüberlebende waren, DDR-Opfer oder zuletzt der ukrainische Botschafter Andrij Melnyk bei der Sondersitzung des Bundestages am 27. Februar. Dafür ist er nicht selten kritisiert worden; solche emotionalen Gesten seien mit dem Amt des Bundespräsidenten nur schwer vereinbar. Aber da kann und will Joachim Gauck nicht aus seiner Haut. Er weiß, dass die Menschen Trost und Zuspruch bei ihm suchen.
Eine Mitarbeiterin der Geschäftsstelle des Vereins „Gegen Vergessen – Für Demokratie“ hat mir berichtet, dass in seiner Zeit als Vorsitzender immer wieder Menschen anriefen, die Opfer der DDR-Diktatur geworden waren und seine Unterstützung suchten. Von dem Hinweis, Joachim Gauck sei nicht mehr Leiter der Gauck-Behörde und in seinen Möglichkeiten zu helfen beschränkt, ließen sie sich häufig nicht irritieren. Nicht selten kam die Antwort: „Aber er ist doch auch Pfarrer“.
Und tatsächlich: In seinem feinfühligen Bemühen um gesellschaftlichen Ausgleich wurde und wird Joachim Gauck nicht nur von den Medien als „Seelsorger des Volkes“ oder „Seelsorger der Freiheit“ wahrgenommen. Seine Worte berühren die Seele und dringen in Tiefenschichten vor, über die wir nur ungern oder gar nicht nachdenken. Dabei geht es ihm nicht nur um Kritik und Denkanstöße, sondern auch um Ermunterung und Zuversicht, etwa wenn er feststellt:
„... außerdem unterschätzen wir oft auch die Schritte nach vorn, die wir schon geschafft haben. Als Bundespräsident habe ich gesagt: ‚Ihr dürft glauben, was ihr selbst geschaffen habt.‘ Das war auch in den protestantischen Kreisen, in denen ich groß geworden bin, schwierig. Das klingt ja schon fast nach Stolz, und das ist für viele schon gleichbedeutend mit Übermut. Aber dürfen wir, die wir die Demokratie gestaltet haben, nicht doch voller Stolz und Dankbarkeit auch einmal sagen: ‚Toll, was uns gelungen ist‘? Wo ist eine Nation, wenn sie sich nicht zutraut, stolz auf das zu sein, was sie an Gutem geschaffen hat? Wann haben wir je einen so stabilen Rechtsstaat, eine breit akzeptierte Demokratie, einen solchen Wohlstand, eine so solide soziale Ordnung und kulturelle Weite gehabt?"
Gauck wirbt und plädiert für Freiheit als Verantwortung. Eine Verantwortung, die wir uns trauen sollen zu übernehmen. Dazu gehört für ihn auch das Plädoyer gegen die Angst und für den Mut zur Freiheit. Die Erfahrung der ehemaligen Bürgerinnen und Bürger der DDR nach der Friedlichen Revolution fasst er so zusammen:
„Da war es, dieses merkwürdige Unvermögen, aktiv zu werden, wenn aus der Sehnsucht nach Freiheit die Gestaltung von Freiheit wird, wenn wir Freiheit von etwas schon erleben durften, aber die Freiheit zu etwas noch nicht können. […] Zu üben ist also nicht eine Fähigkeit, die wir mühsam studieren müssen, zu üben ist die Bereitschaft, Ja zu sagen zu den vorfindlichen Möglichkeiten der Gestaltung und Mitgestaltung. Dieses Verhältnis zu der u Wirklichkeit dürfen wir als Verantwortung bezeichnen. Ich habe mir angewöhnt, die Freiheit der Erwachsenen; ‚Verantwortung‘ zu nennen."
Gerade mit seinem Ausloten der mentalen Verfasstheit unserer Gesellschaft schafft er eine Grundlage des gegenseitigen Verständnisses von Ost- und Westdeutschland sowie von Ost- und Westeuropa.
Ein starkes Motiv ist bei Joachim Gaucks Freiheitsbegriff auch die Überwindung von Angst und ihre Umwandlung in Mut:
„Ich weiß, wovon ich rede. Aber so paradox es klingt: Angst existiert auch in Freiheit. Unsere Psyche entdeckt in der Freiheit Unheimliches, Überforderndes, Verlassenheit, sicher auch und in all dem Abgetrenntheit von Gott. Es ist jedenfalls bemerkenswert, dass gerade in der politischen Moderne, gerade also, wenn nach unzähligen Generationen Freiheit eine ganz konkrete Lebensmöglichkeit geworden ist, dass gerade in dieser Phase Freiheit den Neu-Befreiten wie eine Zumutung erscheint. […] In Freiheit bekommen wir es mit der Angst zu tun, nicht weil wir nichts tun können, sondern weil wir so vieles tun könnten, weil wir so viele Möglichkeiten haben, eben auch das Richtige oder das Falsche zu tun, vor allem aber, weil wir selber in Verantwortung stehen für uns und alles, was in unserer Macht steht.“
Am Anfang seiner Amtszeit fremdelte er etwas mit dem Verhältnis von Freiheit und Recht; zu häufig hatte er Juristen in der DDR als Mitläufer oder Mitglieder des Unterdrückungsapparats erlebt. Während seiner Amtszeit als Bundespräsident fasste er aber mehr und mehr Zutrauen zur deutschen Justiz und ihrer Unabhängigkeit. Viele nachdenkliche Gespräche sind mir aus dieser Zeit in Erinnerung geblieben. Joachim Gauck wurde ein wirklicher Freund des Bundesverfassungsgerichts und hat seine Bedeutung für den Schutz der Freiheit und des Rechts beredt in die Öffentlichkeit getragen.
An dieser Stelle müssen wir über Gaucks Sprache sprechen. Und damit meine ich nicht nur, dass Joachim Gauck ein brillanter Redner ist, der nicht ohne Grund den Cicero-Redner-Preis verliehen bekommen hat. Wie kaum ein anderer Politiker versteht er es, sich sprachlich darauf einzustellen, mit welchen Adressaten er es gerade zu tun hat. Das beginnt schon damit, dass er, wenn er zum Beispiel mit Schülerinnen und Schülern spricht, sie nicht immer mit „Guten Morgen“ begrüßt, sondern gern auch mit einem herausfordernden „Na Ihr!“
Und das ist keine Anbiederung, das ist Joachim Gauck.
Joachim Gauck hat die Fähigkeit, für jede Altersklasse und jeden Bildungshintergrund die richtige intellektuelle Flughöhe zu finden. Vermutlich auch ein Relikt aus seiner Zeit als Gemeindepfarrer. Dabei kombiniert er in seinen Vorträgen stets geschickt Geschichten und Erinnerungen, die aus dem einfachen Alltagsleben oder seinem eigenen Erfahren stammen. Jeder Zuhörer findet hier Anknüpfungspunkte. Seine Reden sind mehr Dialog als Ansprache. Er berührt die Zuhörer und wird von ihnen berührt. Joachim Gauck ist ein Menschenfänger, der sich selbst fangen lässt.
Und diese Gaben stellte er stets in den Dienst der Sache, als Lehrer und Prediger für die Demokratie und für die Freiheit.
Sein viel zu früh verstorbener Biograf Johann Legner bringt das auf den Punkt:
„Gauck war ein Meister des wohlgesetzten Wortes geworden. Er konnte wie kein anderer die Schrecken der kommunistischen Gewaltherrschaft und ihre lang wirkenden Folgen beschreiben. Er konnte damit um Geduld und Anerkennung für seine Ostdeutschen Landsleute werben. Er konnte die Wahlerfolge der PDS genau so erklären wie die Versäumnisse der Bundesrepublik bei der Aufarbeitung der Nazi-Zeit. Er konnte gleichermaßen in der Lage sein, die aus seiner Sicht revolutionären Errungenschaften des Herbstes `89 zu preisen sowie die deutsche Tradition der Unterwerfung unter einen Obrigkeitsstaat zu geißeln."
Aufarbeiter und Erinnerer, Zuhörer und Lernender, Provokateur und Mahner, Seelsorger und Psychologe, Lehrer und Prediger. Es sind viele Facetten, die Joachim Gauck ausmachen und seine großen Verdienste für unser Land begründen.
Doch diese vielfältigen Facetten können nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Erfahrung der Friedlichen Revolution ein zentraler Moment bleibt, der sein Leben überstrahlt. Als 50-Jähriger in der Mitte seines Lebens darf er zum ersten Mal wählen. Joachim Gauck hat einmal den Satz: „Wir sind das Volk“ als schönsten Satz der deutschen Politikgeschichte bezeichnet. Und wenn er das sagt, ist klar, diesen Satz, diese Erfahrung lässt er sich nicht mehr nehmen, auch nicht von Rechtspopulisten und Querdenkern, die ihn für ihre Zwecke missbrauchen.
Denn dieser Satz drückt vieles von dem aus, was Joachim Gauck uns heute noch lehrt: Angst zu überwinden, Mut zu zeigen, tätig zu werden, Verantwortung zu übernehmen, Freiheit nicht nur als Freiheit von etwas, sondern auch als Freiheit für etwas zu verstehen. Dieses Verständnis gilt es gerade nach den Jahren der Pandemie und in einer wenig friedvollen Welt zu beherzigen.
Man kann aber keine Laudatio auf Joachim Gauck aus Anlass der Verleihung des Point-Alpha-Preises halten, ohne seine Rede vom 9. November 1999 zu zitieren, in der er die damalige Gefühlslage vieler Ostdeutscher in seiner Art perfekt einfing:
„Nach der Einheit waren wir wieder Lehrlinge. Viele fühlten sich fremd im eigenen Land. Sicher erklärt sich ihre Bitterkeit auch aus neu erfahrener Hilflosigkeit und Enttäuschung. Sie hatten vom Paradies geträumt und wachten in Nordrhein-Westfalen auf.“
Dieser Satz wurde zum geflügelten Wort, und er zeugt hinter seinem Witz auch von den vielen Verletzungen und Enttäuschungen im neuen geeinten Deutschland. Aber er birgt zugleich die Lösung in sich. Denn: auch in Nordrhein-Westfalen lässt es sich sehr gut leben, wie der Ostwestfale Andreas Voßkuhle weiß. Dafür braucht es jedoch wie überall den mutigen Dialog über Schwierigkeiten und Unterschiede, das Bewusstsein, Erreichtes wertzuschätzen, und den Willen zu Teilhabe und Veränderung und schließlich: die entschlossene Verteidigung der Demokratie und des Rechtsstaates, beides haben sich die Menschen in der DDR 1989 friedlich erkämpft und uns dadurch allen die Einheit geschenkt.
Sehr geehrter Herr Bundespräsident a.D., lieber Joachim Gauck!
Sie stehen mit Ihrer ganzen Persönlichkeit für diesen wohl glücklichsten Moment in der deutschen Geschichte. Wir verdanken Ihnen viel und wir danken Ihnen von ganzem Herzen für Ihren Einsatz für unser Land. Die Verleihung des Point-Alpha-Preises soll Sie und uns daran immer wieder erinnern. Was für ein schöner Tag!
Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Andreas Voßkuhle
Vorsitzender von Gegen Vergessen – Für Demokratie e.V.
16.06.2022