Im schönsten Hörsaal der TU Darmstadt, im Maschinenbauhaus, kehrt langsam Ruhe ein. Über 350 Schülerinnen und Schüler, Studierende, Gäste und Akteure sitzen gespannt auf ihren Plätzen und warten auf den Beginn der Veranstaltung. Schülerinnen und Schüler sowie Studierende aus ganz Darmstadt haben sich zusammengefunden, um an die Novemberpogrome von 1938 zu erinnern. An diesem 16. November 2018 werden auch die Ergebnisse des interdisziplinären Erinnerungsprojektes präsentiert, das Schulen aus Darmstadt und Umgebung, das Zentrum für Lehrerbildung an der TU Darmstadt und das Studienseminar Gymnasium erarbeitet haben.
Neben Christine Preuß, Leiterin des Zentrums für Lehrerbildung, Jochen Partsch, Oberbürgermeister von Darmstadt, und Ralph Bruder, Hauptamtlicher Vizepräsident der TU für Studium, Lehre und wissenschaftlichen Nachwuchs, sprach auch Daniel Neumann zu uns, der Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde Darmstadt. Seine Rede war besonders bewegend. Er betonte, wie wichtig es sei, sich zu erinnern, ging dabei aber auch auf die Gegenwart ein: Auch heute gibt es rassistische und antisemitische Überbegriffe. Daniel Neumann bat darum, dass wir uns als neue Generation auf das konzentrieren, was uns verbindet. Und Gerechtigkeit fordern, wenn etwas falsch ist.
Zu den vorgestellten Projekten zählte ein Vorhaben, bei dem Schülerinnen und Schüler der Arheilger Stadtteilschule im Archiv der örtlichen Zeitung Berichte über die Novemberpogrome in der Vergangenheit untersuchten und verglichen. Dabei erhielten sie Unterstützung von Mentoren der TU Darmstadt. Neuntklässler der Stadtteilschule Arheilgen präsentierten zwei Denkmalentwürfe, die sie im Kunstunterricht, verbunden mit dem Fach Geschichte, erarbeitet hatten. Eine andere Schülergruppe der Stadtteilschule setzte sich mit historischen Gedenkreden auseinander und hatte die Aufgabe eine eigene für die Gedenkfeier zu schreiben.
Am Darmstädter Ludwig-Georgs-Gymnasium untersuchten Schülerinnen und Schüler die Situation der jüdischen Schulmitglieder zur Zeit der Pogrome. Außerdem beschäftigte sich die Lerngruppe mit dem Leben von Karl Plagge, der im Jahr 1916 an ihrer Schule sein Abitur abgelegt hatte. Plagge hatte von 1897 bis 1957 gelebt und im Nationalsozialismus etwa 250 ihm zugewiesene Zwangsarbeiter vor der Ermordung im Ghetto Vilnius gerettet. Im Jahr 2004 wurde er postum als Gerechter unter den Völkern geehrt.
Langfristige Vorbereitungen
Um einen solchen Gedenktag zu planen, braucht es Zeit und das Engagement vieler Menschen. Die Idee hatte der Lehrer und Universitätslehrbeauftragte Dr. Bertram Noback bereits im Januar 2016. Die konkreten Planungen begannen im August 2017, zunächst in einer kleinen Arbeitsgruppe. Mitwirkende aus Universität, Schulen und verschiedenen Organisationen überlegten, wie der Gedenktag mit unterschiedlichen Akteuren gestaltet werden könnte. Die RAG Südhessen von Gegen Vergessen - Für Demokratie e.V. war von Anfang an Kooperationspartner des Projekts. Mehrere Vereinsmitglieder haben sich in unterschiedlicher Weise an der Programmgestaltung und -umsetzung beteiligt.
Zunächst galt es, Schulen und Studierende zu finden, die mitmachen würden. Dabei sollten die Studierenden den Projektgruppen als Mentoren zur Seite stehen. Alle weiterführenden Schulen Darmstadts wurden im Mai 2018 über das Projekt informiert und einzelne, interessierte Lehrkräfte meldeten sich für konkrete Projekte. Im Juni begann die Auswahl der Studierenden, die ab August – in der vorlesungsfreien Zeit – eine Übung besuchten, das in Kooperation mit dem Zentrum für Lehrerbildung der TU Darmstadt durchgeführt wurde. Viele kamen aus Lehramtsstudiengängen, einige aus dem Bereich Geschichte, manche auch aus anderen Fachrichtungen. Alle besuchten eine Einführung in die Geschichte der Erinnerungskultur, gestützt auf den Aufsatz „Erziehung nach Auschwitz“ von Theodor Adorno aus dem Jahr 1966. Dann wurden sie den Projekten in den Schulen zugeteilt. Diese begannen zwischen September und November 2018 ihre Arbeit. Insgesamt nahmen fünf Schulen aus dem Stadtgebiet Darmstadt sowie eine Schule aus dem Landkreis Darmstadt-Dieburg mit insgesamt 14 Projekten am Gedenktag teil. Eine weitere Kooperation gab es mit dem Studienseminar für Gymnasien in Darmstadt. Hier machten sich mehr als 25 Lehrkräfte im Vorbereitungsdienst (LiV) Gedanken darüber, wie sie das Projekt in ihre Schulen tragen und welche Projekte auch außerhalb des Gedenktages durchgeführt werden könnten.
Die konkrete Planung des Gedenktages verantwortete eine weitere Arbeitsgruppe aus sechs Schülerinnen und Schülern, drei Studierenden und zwei LiVs, die sich ab September um Werbung, Ablauf und Moderation des Gedenktages kümmerte. Ein erheblicher Aufwand, der sich lohnte. Die intensive interdisziplinäre Arbeit sensibilisierte die Beteiligten für dieses Thema. Alle Gruppen zogen das gleiche Fazit: Die Novemberpogrome waren ein grausames und unmenschliches Ereignis, an das man sich erinnern muss, um denselben Fehler nicht noch einmal zu machen.
Wie Daniel Neumann in seiner Rede betonte, ist Antisemitismus nicht nur ein Thema der Vergangenheit, sondern leider auch eines in der Gegenwart. Durch Sensibilisierung und Aufklärung kann erreicht werden, dass mehr Menschen aufstehen und sich dagegen zur Wehr setzen.
Pionierarbeit geleistet
Das Besondere und Neue an diesem Projekt waren seine interdisziplinäre Ausrichtung und die enge Kooperation verschiedener Organisationen und Institutionen, insbesondere die zwischen den Schulen und den beiden für die Lehrerausbildung zuständigen Einrichtungen in Darmstadt.
Das Ziel war es, das Thema Novemberpogrome in einem fächerübergreifenden Projekt so zu beleuchten, dass die verschiedenen fachlichen Blickwinkel zur Geltung kommen. So gab es klassisch geschichtswissenschaftlich ausgerichtete Projekte wie die Archivrecherche und kreativ-ästhetische Zugänge wie das Projekt des Darstellenden Spiels oder den oben erwähnten Denkmalwettbewerb.
Für das Gelingen dieses Tages war die enge Zusammenarbeit von Studierenden der TU Darmstadt mit den Schulen zentral. Die Studierenden agierten als Mentoren und begleiteten die Schülerinnen und Schüler während der Projektarbeitsphase. Theoretische und praktisch-methodische Kompetenzen erwarben sie im Rahmen einer interdisziplinär ausgerichteten Übung, die Dr. Bertram Noback am Institut für Geschichte der TU Darmstadt durchführte. Eine Form der Kooperation, die ein Ansatz für die künftige Erinnerungsarbeit sein könnte. Hier wurde in Darmstadt Pionierarbeit geleistet.
Jutta Smirnov ist Schülerin am Ludwig-Georgs-Gymnasium in Darmstadt, Leonie Otters ist Studentin der TU Darmstadt, Marcel Hanitzsch ist Lehrkraft im Vorbereitungsdienst am Ludwig-Georgs-Gymnasium in Darmstadt.
Erschienen in: Zeitschrift Gegen Vergessen - Für Demokratie Ausgabe 99/2019