Demokratische Beteiligungsformen auf dem Prüfstand - Workshop in Kassel

Die Botschaft der Veranstaltung in Kassel war vorab klar: Die Bürger in Deutschland sollen besser an Entscheidungen beteiligt und gleichzeitig dazu angeregt werden, sich auf gesellschaftlicher Ebene mehr einzubringen. Denn die derzeitige Krise in der Demokratie, die zum großen Teil auf Politikverdrossenheit gründet , ist keine bloße Behauptung. Darin waren sich die meisten Teilnehmerinnen und Teilnehmer des hochrangig besetzten Workshops „Demokratische Beteiligungsformen auf dem Prüfstand“ in der Kasseler Volkshochschule am 23. Und 24. September einig.

Da Wissenschaftler wie Professor Dr. Frank Decker von der Uni Bonn und Professor Dr. Bernd Faulenbach von der Uni Bochum  diese Wahrnehmung  zudem mit eindrücklichen Zahlen belegen konnten, lag auch die Forderung der früheren liberalen Politikerin Hildegard Hamm-Brücher nach einer durchdachten „Demokratiepolitik“ nahe.  

Doch wie genau eine solche demokratiepolitische Agenda aussehen kann, die nicht gleichzeitig das gesamte politische System der Bundesrepublik ins Wanken bringt, war weniger eindeutig. Die vom Bündnis für Demokratie und Toleranz und von Gegen Vergessen – Für Demokratie e.V  ausgerichtete Tagung ging in diesen Fragen bis ins Detail. Und da, das beobachtete nicht nur der ehemalige Bundestagsabgeordnete Winfried Nachtwei, liegt oft der Teufel.

Direkte Demokratie als Chance oder Risiko

Ein wichtiges und heikles Thema etwa ist die mögliche Ausweitung direkter Demokratie – also von Volksbegehren und -entscheiden  –  auf die Bundesebene. Während die ehemalige Familienministerin Renate Schmidt vehement dafür kämpft und fragte, warum sich Politiker eigentlich für so viel kompetenter hielten als die übrigen Bürger, dass sie diese Möglichkeit nicht bereit halten, bemerkte Professor Decker, dass Volksentscheide sich mit dem dualen parlamentarischen Prinzip von Regierung und Opposition an sich widersprächen. Er hatte stattdessen die Idee, Ministerpräsidenten künftig direkt wählen zu lassen und damit auf Länderebene ein Präsidialsystem zu installieren. Und Prof. Faulenbach gab zu bedenken, dass ein Mehr an direkter Demokratie nicht automatisch ein Mehr an Teilhabe bedeuten müsse.

In der betreffenden Arbeitsgruppe erntete allerdings auch ein Schülervertreter viel Zustimmung, als er anmerkte, dass geringe Beteiligung allein kein Argument gegen Volksabstimmungen sei. „Die Akzeptanz der Entscheidungen ist schon groß, wenn man selbst die Möglichkeit zur Beteiligung daran hat.“  Es wurde aber auch dort festgehalten, dass Bürger- und Volksentscheide nur Sinn machen könnten, wenn die Initiative von unten ausgehen kann und der Kreis der Abstimmungsberechtigten so definiert wird, dass nicht nur die von Sachentscheidungen direkt Betroffenen eine Stimme haben. Zudem müsse die Begrenzung der Fragen, über die es Entscheide geben darf, scharf umrissen sein. Der ehemalige Regierende Bürgermeister von Berlin Eberhard Diepgen brachte es mit einem Beispiel auf den Punkt: „Es darf kein Bürgerbegehren über den Standort eines Heimes für geistig Behinderte geben.“ 

Einig war man sich, dass Bürger in Planungsverfahren früher gefragt werden müssten. Diepgen fasste die Beiträge der Arbeitsgruppenmitglieder zusammen: Die Sachverhalte sollten verständlicher gemacht und ins Netz gestellt werden und  Betroffene müssten früher und mit mehr Zeit Möglichkeiten für Einwände bekommen, auch weil dies oft mehr Zeit spare, als wenn nachher demonstriert, geschlichtet und geklagt werde.  Winfried Nachtwei  ergänzte allerdings, dass Initiativen oft erst griffen, „wenn Betroffenheit da ist und etwas passiert“, also am Ende der Entscheidungsprozesse.  Zudem wurde mehr Einfluss der Bürger auf die personelle Zusammensetzung der Parlamente befürwortet. In den Bundesländern, in denen bei Wahlen  schon länger Stimmen gebündelt und gesplittet werden können, habe sich dies bewährt, auch wenn die komplexen Stimmzettel zunächst verwirren könnten.

Die Piraten als neues Phänomen

Fast alle Referenten  der Tagung hat der Erfolg der Piraten-Partei bei der jüngsten Wahl in Berlin aufhorchen lassen. Ist sie eine reine Protestpartei ohne Zukunft oder hat sie ähnliche Potentiale wie die Grünen vor 30 Jahren? Joachim Gauck fand es in seinem Eingangsvortrag eindrucksvoll, dass sie es geschafft hat, viele Nichtwähler zu aktivieren und an die Wahlurne zu bringen. Unternehmensberater und Netzaktivist Christoph Giesa wies darauf hin, dass die Piraten für Offenheit und Transparenz stünden und dabei genau das verkörperten, was bei anderen Parteien vermisst werde. Giesa: „Die Wähler der Piraten sind nicht vor allem links oder chaotisch, es sind oft gut ausgebildete, gut verdienende Leute.“  Professor Decker konnte ergänzen, dass abweichendes Wahlverhalten allgemein stark zugenommen hat, also kleine und Kleinstparteien insgesamt viel mehr Wähler bekommen als vor 20 Jahren. Außerdem, so wusste Prof. Faulenbach, hat sich die Form von Engagement verändert: mehr punktuell auf eine Sache bezogen und zeitlich begrenzter als früher.

Entwicklungen, auf die Parteien reagieren müssen. Cornelia Schmalz-Jacobsen wies zum Beispiel darauf hin, dass Parteimitglieder es auf Kreisebene interessierten „Neuen“ oft schwer machten, Fuß zu fassen:  „Sie kommen als Freunde und gehen als Fremde.“  Dies  wurde von den jüngeren Mitgliedern in der Arbeitsgruppe  „Parteien – Grundpfeiler der Demokratie oder Auslaufmodell?“  bestätigt. Gleichzeitig wurde gesagt: „Ich würde so gerne Mitglied in einer Partei werden, aber ich habe große Schwierigkeiten mich zu entscheiden, weil ich in den unterschiedlichen Politikfeldern mal der einen und mal der anderen Partei zuneige.“

Auf den ersten Blick könnte die mittlerweile große Ähnlichkeit der Volksparteien  auch dafür sprechen, dass die gesellschaftlichen Verhältnisse sich auf einem hohen Zufriedenheitsniveau eingependelt haben. Auf den zweiten Blick hat es eine fatale Auswirkung auf das Wahlverhalten. Nach dem Motto: „Wenn es eh egal ist, wen ich wähle, brauche ich gar nicht zu wählen.“ Dazu kommt ein Gefühl von Ohnmacht, weil es den Parteien immer weniger gelänge, ihre Inhalte und Unterschiede zu kommunizieren. 

Wie sage ich es dem Bürger?

Um Kommunikation ging es auch in einem weiteren Workshop zum Thema „Wie sage ich es dem Bürger“. Die Rolle der Medien und die Art der Vermittlung von Politikinhalten standen im Mittelpunkt. Andreas Oppermann, Ressortleiter der Märkischen Oderzeitung in Frankfurt, hat ein Credo: „Wer Politikinhalte durchsetzen will, muss von Anfang an ehrlich sagen, worum es geht. Werden Sachverhalte verschwiegen, wird das am Ende fast immer bestraft.“  Oppermann zählte zudem die Anzeigenkrise der regionalen Tageszeitungen zu den Gründen dafür, dass den Bürgern in vielen Regionen nicht mehr klar erklärt werde, welche Dinge wo und von wem entschieden werden. Die stark ausgedünnten Lokalredaktionen und der Trend vieler Zeitungen, die überregionale Berichterstattung auszulagern oder mit den Redaktionen anderer Zeitungen zusammenzulegen, führe dazu, dass die Verzahnung von lokaler, regionaler, nationaler und europäischer Ebene nicht mehr aufbereitet werde. Es werde dringend nötig, Informationen wieder professionell gefiltert zur Verfügung zu stellen und dabei auch die gängigen Online-Medien, Portale und Netzwerke zu beachten. Als Skandal wurde gewertet, dass dünn besiedelte Regionen teilweise noch immer von einer schnellen Internetverbindung abgekoppelt sind und sich so erst recht abgehängt fühlen müssten.

An einem ähnlichen Punkt setzte auch Dr. Serge Embacher vom Bundesnetzwerk Bürgerschaftliches Engagement an. Seine These: Solange man die sozialen Verwerfungen in der Gesellschaft, die immer größer werden, nicht in den Griff bekommt, werden sich Menschen, die sich abgehängt fühlen, auch mit neuen rechtlichen Möglichkeiten nicht zur Teilhabe bewegen lassen.  Im Workshop „Wer soll mitmachen? Über die Ausweitung demokratischer Teilhabe“wurde immerhin festgestellt, dass es trotz gegenteiliger öffentlicher Wahrnehmung ein hohes Maß an ehrenamtlichem Engagement gibt. Manchmal fehle es am Wissen darüber, wie etwa Anträge geschrieben und  Geld akquiriert wird, aber auch hier habe sich in den letzten Jahren viel getan. Beispielsweise wurde in Weimar eine „Ehrenamtsberatung“ eingerichtet und in  Berlin gebe es ein  „Handbuch für Partizipation“. Um Reibungsverluste und Dopplungen zu vermeiden, sei hier jedoch ein „Integrationslotse“ für Aktivitäten der Bürgerschaft empfehlenswert.

Das Wahlrecht ausweiten

Problematisch wurde die starke Trennung von freiwilligem Engagement und „Berufspolitik“ genannt. Ehrenamtliche würden sich so nicht ermutigt fühlen, in die Politik einzusteigen. Hinsichtlich des  Wahlrechts bestand Konsens, dass Ausländern mit einem verfestigten Aufenthalt das aktive kommunale Wahlrecht eingeräumt werden sollte. Die Herabsetzung des Wahlalters auf 16 Jahre wurde mehrheitlich befürwortet, jedoch nur, wenn die politische Bildung in und außerhalb der Schule einen viel größeren Stellenwert erfahre als bislang. Das „Kinderwahlrecht“ wurde sowohl aus Gründen der Verfassung als auch wegen praktischer Hürden in der Umsetzung verworfen.

Ein riesiges Bündel an Beobachtungen, Ideen, Bedenken und Grenzen hat sich den Teilnehmern der Tagung aufgetan – unmöglich, hier Patentrezepte zu entwickeln. Doch der Auftrag der Mitgliederversammlung 2010 von Gegen Vergessen – Für Demokratie e.V. bleibt richtig und wichtig, sich zu diesem Themenfeld zu positionieren und Handlungsempfehlungen an die politischen Entscheidungsträger zu übermitteln. Insofern ist es Ziel,  bis zur Mitgliederversammlung am 29. Oktober ein Papier zur Verabschiedung zu  entwickeln, das auf den Erkenntnissen des Kasseler Workshops  basiert und möglichst konkrete Vorstellungen weiterträgt.

Der Vorsitzende von Gegen Vergessen– Für Demokratie e.V. Joachim Gauck  wies in seiner unvergleichlich humorvollen Art darauf hin, dass es sich mit der Demokratie nicht anders verhalte als mit einem geliebten Partner. Ein Idealbild werde man bei beiden nie verwirklicht sehen. Am Ende lebe man immer nur mit einem „Mängelwesen“, wie man selbst eines ist – und muss sich damit arrangieren.