Demokratiegeschichte vermitteln unter den Bedingungen der Einwanderungsgesellschaft

Ein Lehrer-Workshop in der Stiftung Reichspräsident-Friedrich-Ebert-Gedenkstätte Heidelberg

Ruth Wunnicke

„Meinungsfreiheit geht jeden an, egal woher er kommt“ sagt Carlos Barrasa, Studienrat für Politik, Sozialwissenschaften und Spanisch am Einstein-Gymnasium Sankt Augustin.  Gemeinsam mit Lehrerinnen und Lehrern diskutiert er einen Unterrichtsbaustein zum Thema Meinungsfreiheit. Am Beispiel der DDR-Oppositionsgruppe „Initiative Frieden und Menschenrechte“ und ihrer illegalen Zeitschrift „grenzfall“ soll jungen Menschen die Bedeutung von Samisdat, Netzwerken und Meinungsfreiheit  nahegebracht werden. Herr Barrasa und seine Kollegen, die an verschiedenen Schultypen unterrichten, überlegen, wie diese Begriffe mit der heutigen Lebenswelt der Jugendlichen verbunden werden können, um Schülern einen individuellen Zugang zum Thema zu ermöglichen. Es fallen Begriffe wie Arabischer Frühling, Soziale Medien, Clique, Familie. Karikaturen werden auf ihre Einsatzmöglichkeit im Unterricht geprüft, Zeitungsausschnitte diskutiert und wieder verworfen, die Möglichkeit, eine eigene Zeitung zu schreiben, wird erwägt. In einem sind sich die Lehrer einig: Mit diesem Unterrichtsbaustein darf nicht nur die Bedeutung von Meinungsfreiheit für die Gesellschaft und die Demokratie verdeutlicht werden, sondern auch, dass Meinungsfreiheit geschützt werden muss  und wo ihre Grenzen liegen. Zur selben Zeit diskutiert eine weitere Gruppe Lehrer  im Nachbarraum einen Arbeitsbaustein über Ernst Reuters Kandidatur zum Berliner Oberbürgermeister 1946.

Demokratiegeschichte vermitteln unter den Bedingungen der Einwanderungsgesellschaft war Thema eines Lehrer-Workshops vom 25.-26.11.2011 in der Heidelberger Stiftung Reichspräsident-Friedrich-Ebert-Gedenkstätte.  Im Rahmen der Entwicklung der Materialiensammlung zur Praktischen Geschichtsvermittlung in der Einwanderungsgesellschaft  und der Bundeszentrale für politische Bildung zu diesem Workshop ein. Der Workshop diente der Erprobung von Unterrichtsbausteinen, die dahingehend bewertet wurden, ob sie zur Vermittlung von Demokratiegeschichte in heterogenen Gruppen geeignet sind. Die Bausteine beruhen sowohl auf Beispielen der Zeitgeschichte, geben aber auch Anleitungen für Projekte wie z.B. die lokale Erforschung von Demokratiegeschichte.

Eine Fülle von Symptomen lassen sich für eine wachsende Distanz zwischen der etablierten Politik und vielen Menschen in Deutschland feststellen. Immer weniger Menschen machen von Ihrem Wahlrecht Gebrauch, viele sind mit „den Politikern“ unzufrieden und gehen auf Distanz zur parlamentarischen Demokratie. Auch unter Jugendlichen sind Politikferne und Politikverdrossenheit weit verbreitet. Schulen und außerschulische Bildungseinrichtungen müssen sich diesem Problem stellen. Dabei stehen sie vor der Herausforderung, mit Gruppen zu arbeiten, in denen familiäre Erfahrungen und Lebensumstände der Jugendlichen sehr unterschiedlich sein können. Während beispielsweise für Jugendliche mit deutscher Staatsangehörigkeit die Möglichkeiten der gesellschaftlichen Partizipation wie das Wahlrecht mit Vollendung des 18. Lebensjahres klar gegeben sind, verhält es sich für Kinder von in Deutschland lebenden Ausländern, die oft schon über mehrere Generationen in Deutschland leben, anders. Sie stoßen immer wieder an Grenzen. Die Familien mancher Jugendlicher kommen aus Ländern, in denen sie die Bedingungen einer demokratischen Rechtsordnung nicht kennenlernen konnten. Aufgabe der Lehrer und Multiplikatoren ist es, diesen unter verschiedensten Umständen heranwachsenden Jugendlichen Felder zu eröffnen, in denen sie sich ihrer gesellschaftlichen Handlungsmöglichkeiten bewusst werden können.

Dass die Vermittlung von Demokratiegeschichte in der Migrationsgesellschaft  auch im Friedrich-Ebert-Haus eine immer größere Rolle spiele, betont Dr. Michael Braun, zuständig für die politisch-historische Bildungsarbeit der Stiftung Reichspräsident-Friedrich-Ebert-Gedenkstätte. „Die Museumspädagoginnen und -pädagogen des Friedrich-Ebert-Hauses bieten immer wieder neue pädagogische Konzepte und Formate für die Bedürfnisse heterogener Gruppen.“

Zurück in der Kleingruppe. Die Lehrerinnen und Lehrer diskutieren eine Karikatur. Sie entwickeln vielfältige Möglichkeiten, die Abbildung im Unterricht einzusetzen. Die Diskussion macht deutlich, dass schon eine einzige Karikatur – wenn sie gut eingesetzt wird – alle Mitglieder einer Klasse ansprechen kann und eine ganze Unterrichtsstunde füllt.

Ruth Wunnicke ist wissenschaftliche Mitarbeiterin von Gegen Vergessen – Für Demokratie e.V. im Projekt „Praktische Geschichtsvermittlung in der Einwanderungsgesellschaft“.