Schriftstellerin und Journalistin Inge Deutschkron stirbt im Alter von 99 Jahren in Berlin

Ein Nachruf von Vorstandsmitglied Paul Nemitz

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Wir trauern um die jüdische deutsche Schriftstellerin und Journalistin Inge Deutschkron, die sich zeitlebens gegen das Vergessen des Holocausts und gegen Antisemitismus und Rechtsextremismus in Deutschland einsetzte. Heute, am 09. März, ist sie in ihrer Heimatstadt Berlin gestorben.

"Ein langes Leben des Kampfes für Gerechtigkeit und gegen antisemitische und rechtsextreme Tendenzen in unserer Gesellschaft ist zu Ende gegangen. Berlin und die Bundesrepublik Deutschland haben diesem unermüdlichen Kämpfer für die Erinnerung an die Verbrechen des nationalsozialistischen Deutschlands viel zu verdanken. Wir verlieren einen kämpferischen Freund", erklärte André Schmitz, ehemaliger Kulturstaatssekretär von Berlin, Vorsitzender der Inge Deutschkron Stiftung und Freund des Leo Baeck Instituts.

Inge Deutschkron wurde am 23. August 1922 in Finsterwalde geboren. Als Jüdin überlebte sie die Schrecken des Nationalsozialismus und setzte sich zeitlebens für die Aufarbeitung der Verbrechen der NS-Zeit ein. Sie machte aber auch deutlich, dass die Menschen auch in dieser Zeit eine Wahl hatten. Und sie hörte nie auf, von den vielen Menschen und Familien in und um Berlin zu erzählen, die sie und ihre Mutter vor der Verfolgung durch die Nazis versteckten.

Im Jahr 1933 erfährt Inge Deutschkron von ihrer Mutter Ella, dass sie Jüdin ist. Ihre Mutter sagt: "Lass dir nichts gefallen, wehre dich!" Inge Deutschkron ist zu diesem Zeitpunkt zehn Jahre alt. Diese Anweisung ihrer Mutter wird zu ihrem Lebensmotto. Ihr Kampfgeist hilft ihr, der mörderischen Zwangsarbeit bei der IG Farben zu entkommen und einen Platz in der Bürsten- und Besenwerkstatt von Otto Weidt zu finden. Sie und ihre Mutter überleben in der Illegalität in zehn verschiedenen Verstecken in Berlin. Ohne ihren Vater Martin, einen sozialdemokratischen Lehrer, der zwar noch rechtzeitig emigrieren konnte, aber nur allein.

1945/46, nach dem Krieg, arbeitet Inge Deutschkron als Sekretärin in der Zentralverwaltung für Volksbildung in der sowjetisch besetzten Zone. Sie stimmt gegen die Zwangsvereinigung von SPD und KPD zur einzigen ostdeutschen Partei SED und entgeht der drohenden Verhaftung, indem sie schließlich mit ihrer Mutter nach Großbritannien emigrieren kann. Nach acht Jahren in Großbritannien reist Inge Deutschkron allein durch Indien, Birma, Nepal und Israel. Sie finanziert sich mit Reiseberichten und Vorträgen. 1955 kehrt sie nach Deutschland in die westdeutsche Hauptstadt Bonn zurück, wo sie im Generalsekretariat der Arbeiterwohlfahrt und als Journalistin arbeitet. Sie trifft auf ehemalige NS-Funktionäre in vielen hohen Staatsämtern, Behörden und Institutionen und auf eine Bevölkerung, die sich nicht mit der jüngsten Geschichte auseinandersetzen will. In dieser Zeit lernt Inge auch meine Mutter und meinen Vater Rosmarie und Kurt Nemitz kennen, die zu dieser Zeit ebenfalls als Journalisten arbeiten. Inge wurde eine sehr enge Freundin meiner Eltern und unterstützte die journalistische Arbeit meines Vaters über den nationalsozialistischen Hintergrund von Hans Globke, dem damaligen Kanzleramtschef von Bundeskanzler Adenauer. Meine Mutter erhielt von Inge Materialien und Hinweise für ihre journalistische Arbeit über Frauen und die soziale Lage. Ein Teil dieser Korrespondenz befindet sich im Archiv meiner Mutter.

Ab 1963 begleitete Inge als Korrespondentin der Zeitung Maàriv in Tel Aviv den Auschwitz-Prozess in Frankfurt am Main, bei dem die meisten Angeklagten mit milden Strafen davonkamen.

1972 wandert Inge Deutschkron nach Israel aus. Sie schreibt das Buch "Ich trug den gelben Stern", das 1978 in der Bundesrepublik Deutschland veröffentlicht wird und ein großer Erfolg wird. 1989 wird das Buch als Theaterstück "Ab heute heißt Du Sarah" am Grips-Theater erfolgreich aufgeführt und bringt Schülerinnen und Schüler mit Inge Deutschkron ins Gespräch. Es steht noch heute auf dem Spielplan des Theaters und wird in vielen deutschsprachigen Theatern gespielt.

Ich bin 1962 geboren und erinnere mich an mehrere Besuche von Inge bei uns zu Hause, als ich ein kleiner Junge war und sie viele Wochen im Sommer in unserem Garten verbrachte. Inge war unverheiratet und genoss das Familienleben mit uns. Wir genossen ihre eindringlichen Interventionen und Meinungen in unseren Diskussionen am Esstisch. Ihr Buch von 1978 erschien ungefähr zu der Zeit, als die US-Fernseh-Miniserie "Holocaust" erschien. Und so wurde Inge gebeten, an vielen Diskussionen über diese Fernsehserie und ihr Buch teilzunehmen.

Im Jahr 2001 kehrt Inge Deutschkron nach jahrelangem Pendeln zwischen Tel Aviv und Berlin endlich dauerhaft nach Berlin zurück. Ihr Thema ist diesmal u.a. die Ehrung der sogenannten stillen Helden in Deutschland. Es gibt viele Gründe, warum Inge nach Berlin zurückgekehrt ist. Einer war sicherlich, dass sie in der Welt des Theaters und der Kultur viele Freunde und Förderer gewonnen hatte, insbesondere auch durch die Arbeit an der Theaterinszenierung ihres Buches und der späteren Filmproduktion. Sie fühlte sich in Berlin und Deutschland wieder zu Hause.

2006 gründet Inge Deutschkron mit Hilfe von Andre Schmitz, Kultursenator und Vorsitzender der Schwarzkopf-Stiftung, die nach ihr benannte Stiftung zur Förderung von Toleranz und Zivilcourage und zur Bewahrung des Andenkens an jene "stillen Helden", die sich unter großem persönlichen Risiko für Verfolgte eingesetzt haben. Ihr persönliches Archiv ist in der Akademie der Künste.

Inge Deutschkron wird den Berlinern durch ihre vielen Initiativen in Erinnerung bleiben. Ohne ihr Wirken gäbe es den einzigen authentischen Ort des Gedenkens an die sogenannten "stillen Helden" in Deutschland, die Otto-Weidt-Gedenkstätte in der Rosenthaler Straße in Berlin, mit über 80.000 Besuchern pro Jahr, nicht. Heute ist sie Teil der Gedenkstätte Deutscher Widerstand.

Die seit 2012 jährlich stattfindende Veranstaltung zum Gedenken an die am 18. Oktober 1941 vom Bahnsteig 17 im Grunewald erstmals deportierten Berliner Juden, zu denen auch mein Grossvater Dr. Julius Moses, MdR, gehörte, sowie die Benennung des großen Otto-Weidt-Platzes in der neuen Europa-City am Hauptbahnhof gehen auf ihr Engagement zurück.

Am 30. Januar 2013 hielt sie im Deutschen Bundestag eine bewegende Rede anlässlich des Gedenktages für die Opfer des Nationalsozialismus.

In zahlreichen Büchern, Zeitungsartikeln und Vorträgen mahnte sie stets gegen das Vergessen in der jungen Bundesrepublik Deutschland während der Ära Adenauer und danach. Sie und ihr Werk waren ein ständiger Stachel gegen die kollektive Verdrängung. Ihr Werk wurde mit zahlreichen Auszeichnungen gewürdigt, so 1994 mit dem Moses-Mendelssohn-Preis des Landes Berlin. Im Jahr 2002 erhielt sie die Rachel-Varnhagen-von-Ense-Medaille und den Verdienstorden des Landes Berlin, 2008 den Carl-von-Ossietzky-Preis und die Luise-Schroeder-Medaille ihrer Heimatstadt. 2018 wurde ihr die Ehrenbürgerschaft von Berlin verliehen. Vielleicht die schönste Auszeichnung für sie, denn sie hat sich immer als leidenschaftliche Berlinerin gesehen.

Die Inge Deutschkron Stiftung unterstützte 2018 die Veröffentlichung ihres letzten Buches "Ausschwitz war nur ein Wort", herausgegeben von Beate Kosmala und erschienen im Metropol Verlag. Darin werden die großen Zeitungsberichte aus dem Frankfurter Ausschwitz-Prozess - ursprünglich für überwiegend israelische Zeitungen - für die deutschsprachige Öffentlichkeit veröffentlicht.

Ich werde Inge als eine der besten Freundinnen meiner Mutter in Erinnerung behalten, die ein Jahr später als sie geboren wurde, und als Ersatzmutter in Zeiten, in denen meine Mutter mich mit ihr in unserem Haus allein ließ. In den letzten Jahren ihres Lebens war Inge in ein Altersheim am Kurfürstendamm in Berlin gezogen. Sie hatte manchmal Tagträume von Verfolgungsängsten und fragte mich bei meinen Besuchen bei ihr, ob sie und ich in Sicherheit seien, ob ich verfolgt worden sei und ob meine Eltern in Sicherheit seien. Obwohl sie bis zu ihrer Verschlechterung des Gesundheitszustands eine optimistische und fröhliche Person blieb, waren diese Gespräche, die von Ängsten geprägt waren, die sich aus den Erinnerungen an ihre Aufenthalte in dunklen Räumen von Verstecken ergaben, eine düstere Erinnerung daran, dass der schreckliche Schaden, den das Naziregime den Menschen zugefügt hat, selbst bei den stärksten und optimistischsten Überlebenden seine Spuren hinterlassen hat. Inge, wir vermissen dich.

 

Paul Nemitz, Trustee des Leo-Baeck-Instituts New York/Berlin und Schatzmeister der Freunde und Förderer des Leo Baeck Instituts e.V.

09.03.2022

Writer and Journalist Inge Deutschkron dies in Berlin at 99 years of age

We mourn the death of the jewish german writer and journalist Inge Deutschkron, who spent her life campaigning against the forgetting of the Holocaust and against anti-Semitism and right-wing extremism in Germany. Today, 09 March, she died in her hometown of Berlin.

"A long life of fighting for justice and against anti-Semitic and right-wing tendencies in our society has come to an end. Berlin and the Federal Republic of Germany owe a great deal to this tireless campaigner for the memory of the crimes of National Socialist Germany. We are losing a combative friend," explained André Schmitz, former State Secretary of Culture of Berlin, Chairman of the Inge Deutschkron Foundation and Friend of the Leo Baeck Institute.

Inge Deutschkron was born in Finsterwalde on 23 August 1922. As a Jew, she survived the horrors of National Socialism and was committed throughout her life to coming to terms with the crimes of the Nazi era. But she also made it clear that people had a choice also during those times. And she never ceased to tell the story of the many individuals and families in and around Berlin who were hiding here and here mother from Nazi prosecution.

In 1933, Inge Deutschkron learns from her mother Ella that she is Jewish. Her mother says, "Don't take any shit, fight back!" Inge Deutschkron was ten years old at the time. This instruction from her mother becomes her life's motto. Her fighting spirit helps her escape the murderous forced labour at IG Farben and find a place in Otto Weidt's brush and broom workshop. She and her mother survive in illegality in ten different hiding places in Berlin. Without their father Martin, a social democratic teacher, who was able to emigrate in time, but only alone.

In 1945/46, after the war, Inge Deutschkron works as a secretary in the Central Administration for National Education in the Soviet-occupied zone. She votes against the forced unification of the social democratic party SPD and the communist party KPD to form the only east german party SED and evades the threat of arrest by finally being able to emigrate to the UK with her mother. After eight years in the UK, Inge Deutschkron travels alone through India, Burma, Nepal and Israel. She finances herself with travel reports and lectures. In 1955, she returned to Germany to the West German capital Bonn, where she worked in the Secretariat General of the Arbeiterwohlfahrt, the workers social organisation close to the SPD, and as a journalist. She meets former Nazi functionaries in many high state offices, authorities and institutions and a population unwilling to confront recent history. It is at this time that Inge also meets my Mother and Father Rosmarie and Kurt Nemitz, both also working as journalists at the time. Inge became a very close friend of my parents and she supported the journalistic work of my father on the nazi activist background of Hans Globke, the than Chief of Staff of Chancellor Adenauer. My mother received materials and hints from Inge for her journalistic work on women and the social situation. Some of this correspondence is in the archive of my mother.

From 1963, Inge accompanied the Auschwitz trial in Frankfurt am Main as a correspondent for the Maàriv newspaper in Tel Aviv; most of the defendants got off with lenient sentences.

In 1972 Inge Deutschkron emigrates to Israel. She writes the book "Opens external link in new windowIch trug den gelben Stern" (I wore the yellow star), which is published in the Federal Republic of Germany in 1978 and becomes a great success. In 1989, the book was successfully performed as a play "Ab heute heißt Du Sarah" (“From today you are called Sarah”) at the Grips Theater and brought schoolchildren into conversation with Inge Deutschkron. It is still on the theatre's programme today and continues to be performed in many German-speaking theatres. I was born in 1962 and remember a number of visits of Inge to our home when I was a little boy, when she spent many weeks in the sommer in our garden. Inge was unmarried and enjoyed the family live with us. We enjoyed her forceful interventions and opinions in our discussions at the dinner table. Her book of 1978 was published more or less at the time when the US TV Mini Series “Holocaust” appeared. And so Inge was asked to join many publish discussions on this TV Series and her book.

In 2001, after years of commuting between Tel Aviv and Berlin, Inge Deutschkron finally returns permanently to Berlin. Her theme at this time is, among other things, the honouring of the so-called silent heroes in Germany. There are many reasons why Inge returned to Berlin. One certainly was that in the world of theatre and culture, she had won many friends and supporters, in particular also through the work on the theatre production of her book and the later film production. She felt at home in Berlin and Germany again.

In 2006, Inge Deutschkron establishes, with the help of Andre Schmitz, the Senator of Culture and Chair of the Schwarzkopf Foundation, the foundation named after her to encourage tolerance and civil courage and to preserve the memory of those "silent heroes" who stood up for the persecuted at great personal risk. Her personal archive in the Akademie der Künste (National Academy of Arts).

Inge Deutschkron will be remembered by Berliners for her many initiatives. Without her work, the only authentic place in Germany commemorating the so-called "silent heroes", the Otto Weidt memorial on Rosenthaler Straße, with over 80,000 visitors a year, would not exist. Today it is part of the German Resistance Memorial Center.

The annual event held since 2012 to commemorate the Berlin Jews deported for the first time from Platform 17 in Grunewald on 18 October 1941, as well as the naming of the large Otto Weidt Square in the new Europa City at the main station, can be traced back to her commitment.

On 30 January 2013, she gave a moving speech in the Opens external link in new windowGerman Bundestag on the occasion of the commemoration of the Day of Remembrance of the Victims of National Socialism.

In numerous books, newspaper articles and lectures, she was a constant reminder against forgetting. In the young Federal Republic of Germany during the Adenauer era and afterwards. She and her work were a constant thorn against the collective repression. Her work was honoured with numerous awards, such as the Moses Mendelssohn Prize of the State of Berlin in 1994. In 2002 she received the Rachel Varnhagen von Ense Medal and the Order of Merit of the State of Berlin, and in 2008 the Carl von Ossietzky Prize and the Luise Schroeder Medal of her home city. In 2018, she was awarded the honorary citizenship of Berlin. Perhaps the most beautiful award for her, as she had always seen herself as a passionate Berliner.

The Inge Deutschkron Foundation contributed to the publication of her last book in 2018 "Ausschwitz war nur ein Wort", edited by Beate Kosmala and published by Metropol Verlag. In it, the great newspaper reports from the Frankfurt Ausschwitz trial - originally for predominantly Israeli newspapers - are published for the German-speaking public.

I will remember Inge as one of the best girl friends of my mother, born one year later then her, and as a surrogate mother at times when my mom left me alone with her at our home. In the last years of her live, Inge had moved to an old people’s home on the Kurfürstendam in Berlin. She at times had day dreams of fears of persecution and asked me on my visits to her whether she and I were save, whether I had been followed and whether my parents were save. While she stayed a generally optimistic and cheerful person until her health deteriorated, these conversations marked by fears from memories of her experiences of stays in dark rooms of hiding places were a grim reminder that the terrible damage done to humans by the Nazi regime left its marks, even among the strongest and most optimistic of the survivors. Inge, we miss you.

 

Paul Nemitz, Trustee of the Leo Baeck Institute New York/Berlin and Treasurer of the Freunde and Förderer des Leo Baeck Instituts e.V. (“Friends and Supporters Association”)

09. march 2022