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Marina Böttcher, Uwe Kulisch: Seit zehn Jahren „On the Road“: die Wanderausstellung „Von Liebe und Zorn. Jung Sein in der Diktatur“

Die interaktive Wanderausstellung „Von Liebe und Zorn. Jung Sein in der Diktatur“ wurde erstmals am 23. April 2009 im Thüringer Landtag gezeigt, damals unter der Trägerschaft des Vereins Freiheit. Seitdem hatte sie 70 Stationen in vielen Orten Deutschlands, aber auch in Österreich, Polen und Russland. Darunter waren ungewöhnliche Schauplätze, etwa ein Rockfestival und ein Einkaufscenter. 160.000 Besucherinnen und Besucher kamen. Das Interesse ist bis heute ungebrochen.

Seit fünf Jahren trägt der Verein Gegen Vergessen – Für Demokratie e.V. die Ausstellung, die die Geschichte(n) von zwei Mitgliedern eines Erfurter Freundeskreises erzählt. Sie zeigt auf, wie die Freunde versuchten, im DDR-Alltag ihr Anderssein zu leben und deshalb Einschränkungen bis hin zu harten Repressionsmaßnahmen erleiden mussten. Die Erlebnisse der Protagonisten Barry und Fetzer werden in den sie prägenden Jugendjahren 1973 bis 1983 dargestellt. „Von Liebe und Zorn. Jung Sein in der Diktatur“ ist gemeinsam mit dem damaligen Freundeskreis entstanden. Die Mütter der beiden Protagonisten stellten, wie auch die Freunde, zahlreiche Fotos und Dokumente zur Verfügung. Umfängliche Recherchen in der Stasiunterlagenbehörde (BStU) Außenstelle Erfurt ermöglichten es, die Zersetzungsmaßnahmen der Staatssicherheit und deren Auswirkung auf den gelebten Alltag der Jugendlichen darzustellen.

Die Wanderausstellung besteht aus 27 Bannern, die sich in fünf Themenblöcke gliedern. Fünf Hörstationen mit Tondokumenten und Interviewausschnitten sowie begleitende Texte unterstützen das Eintauchen in den abgebildeten Zeitraum. Aufgrund der großen Nachfrage wurde eine etwas kleinere Zweitausführung mit Audioguides erstellt. Auf der Internetseite www.von-liebe-und-zorn.de sind umfassende Informationen zu den Inhalten, der Dramaturgie und den Möglichkeiten für die politische Bildungsarbeit abrufbar.

Die Wanderausstellung konnte sich in der politischen Bildungslandschaft fest verorten. Von Anfang an zeigte sich, dass der niederschwellige Zugang funktioniert, weil hier Alltagsgeschichten und verschiedene Erfahrungen in der DDR der 1970er und 1980er Jahre beschrieben werden. Schülerinnen und Schüler können sich mit den Protagonisten gut identifizieren, weil sie heute etwa im gleichen Alter sind wie die Freunde damals. Auch sie haben Träume und wollen ihr Leben gestalten. Besucher, die im gleichen Zeitraum in den alten Bundesländern jung waren, entdecken ebenfalls Parallelen – trotz der damaligen Teilung in Ost und West. Und ehemalige DDR-Bürger finden sich in den Geschichten wieder, erinnern sich und werden sich darüber klar, wie sehr der Staat damals in ihre Biografien eingriff oder eingegriffen hätte, wenn sie sich nicht konform verhielten.

Während der Führungen ergaben sich zahlreiche diskursorientierte Gespräche, auch die vielen Begleitveranstaltungen haben zu einem besseren DDR-Verständnis beigetragen. Hier fanden Lesungen, Konzerte, Filmvorführungen, Zeitzeugengespräche und Podiumsdiskussionen statt. Zahlreiche Schulprojekte wurden durchgeführt, eine Geschichtsrallye entwickelt, Studierende eigneten sich in Workshops Kenntnisse zum „Jung Sein“ in Diktaturen an. Die angestrebte Fragekompetenz konnte geweckt und der Zugang zu Diktaturgeschichte über Lebensgeschichte(n) und Alltagserfahrungen ermöglicht werden. Der reflektierte Umgang mit den Wahrheiten und Widersprüchen von Lebensgeschichten wurde thematisiert und vermittelt.

Ebenso wichtig ist die „Variierung der Veranstaltungsorte“, wie sie Michael Parak in seinem Beitrag „Unterschiedliche DDR-Erfahrungen in der politischen Bildung aufgreifen“ (Heft 97/2018) vorschlägt. Die politische Bildung muss zu den Menschen kommen und kann auch an ungewohnten Orten praktiziert werden. Unsere zehnjährige Bildungsarbeit hat das nachdrücklich bestätigt. Bereits 2009 traten die Veranstalter des Festivals „Rock am Grenzdenkmal“ in Hötensleben an der Grenze von Sachsen-Anhalt zu Niedersachsen an uns heran und wollten die Ausstellung dort zeigen. Sie wurde in zwei Zelten des Technischen Hilfswerks aufgebaut und war ein voller Erfolg. Zeitweise mussten wir den Zugang begrenzen, weil in den Zelten nicht so viel Platz war.

Auf Anregung der BStU-Außenstelle Erfurt zeigten wir im November 2010 die Ausstellung im Thüringischen Einkaufscentrum Erfurt (TEC). Da die Resonanz durchweg positiv war, kooperierte die BStU Erfurt im Februar 2012 erneut mit uns. Die Ausstellung der Behörde zur Staatssicherheit und „Von Liebe und Zorn. Jung Sein in der Diktatur“ wurden zeitgleich im Atrium des Thüringenparks Erfurt gezeigt. In diesen 14 Tagen hatte das Einkaufszentrum etwa 43.000 Kunden, die alle (zwangsläufig) an den Ausstellungen vorbeikamen. Viele blieben stehen und diskutierten, teilweise auch sehr kontrovers – was man im Besucherbuch nachlesen konnte. Zahlreiche Schulklassen buchten Führungen. Und das Centermanagement war begeistert, weil sich viele Kunden wegen der Ausstellungen länger aufhielten oder wiederkamen.

Ein ganz besonderes Highlight war die Präsentation der Wanderausstellung in der evangelischen Pauluskirche im sibirischen Wladiwostok 2010 anlässlich der „Deutschen Kulturtage“, die dort jährlich stattfinden. Dem dortigen Pfarrer und Honorarkonsul Manfred Brockmann war die Ausstellung von Ronald Hirschfeld empfohlen worden. Hirschfeld war unser damaliger Ansprechpartner bei unserem Fördermittelgeber, der Bundeszentrale für politische Bildung (bpb). Eine Drittausführung der Ausstellung auf Stoffbahnen sowie Transport, Flug und Unterkunft wurden von der Deutschen Botschaft in Moskau und dem Goethe-Institut finanziert. Studierende übersetzten sämtliche Ausstellungstexte ins Russische. Uwe Kulisch betreute die Ausstellung eine Woche lang vor Ort. Er referierte bei den „Philosophischen Vorlesungen“ an der Fernöstlichen Universität Wladiwostok und am Institut für Fremdsprachen zu „Jugend und Freiheit in Russland und in Deutschland“. Später wurde die Drittausführung an den Staatlichen Amur-Universitäten in Chabarowsk und Blagoweschtschensk gezeigt und dort von Benjamin Huhn betreut, damals Lektor der Robert-Bosch-Stiftung. Die Studierenden entwickelten unter anderem didaktische Konzepte zur Betreuung russischsprachiger Ausstellungsbesucher.

Andere Ausstellungsorte waren zum Beispiel:

  • die Evangelische Hochschule für Soziale Arbeit Dresden,
  • das Jugendzentrum „Shalom“   in Gera,
  • die Volkshochschule Tübingen,
  • die Anne-Frank-Europaschule   in Eschwege,
  • die Philipps-Universität Marburg,
  • das Ossarium in Ebern,
  • das Haus der Geschichte in Wittenberg,
  • die Bundeshandelsakademie Bregenz in Österreich,
  • das Rathaus Lübeck,
  • die Burg Scharfenstein Leinefelde / Worbis,
  • das Main-Forum der IGM in Frankfurt am Main,
  • die Pauluskirche in Ulm,
  • der Schweriner Dom,
  • das Europäische-Sprachen-College Częstochowa in Polen,
  • das Stadtmuseum „Flohburg“ Nordhausen und
  • die Stadtbibliothek Mettmann.

Mittlerweile war die Ausstellung auch in fast allen Außenstellen der Stasiunterlagenbehörde zu sehen, sowie im Stasimuseum Berlin und in der Gedenkstätte Hohenschönhausen. Sämtliche Ausstellungsorte sind auf der Webpräsenz www.von-liebe-und-zorn.de nachlesbar, auch die zahlreichen Kooperationspartner – bei denen wir uns auf diesem Weg noch einmal herzlich bedanken möchten.

Leider mussten wir immer wieder feststellen, dass bezüglich der Wissensvermittlung über die Mechanismen der SED-Diktatur weiterhin großer Bedarf an Bildungsarbeit besteht. In den Schülerrezensionen und Besucherbüchern wird sichtbar, dass einige Bildungsträger engagiert die DDR-Diktatur thematisierten, andere aber die Auseinandersetzung scheuten. Erfreulich ist, dass die Ausstellung als Korrektiv zu „Ostalgie“ und Verharmlosung der SED-Diktatur wirken konnte. Hauptanliegen war und ist uns, den Jugendlichen die Vorteile der Demokratie und deren freiheitliche Möglichkeiten aufzuzeigen, die sie nutzen können, um ihre Zukunft aktiv mitzugestalten.

Anlässlich des zehnjährigen Bestehens wird die Ausstellung vom 23. April bis zum 8. Mai 2019 in der Erfurter Michaeliskirche zu sehen sein.

Marina Böttcher und Uwe Kulisch engagieren sich in der Regionalen Arbeitsgruppe Thüringen von Gegen Vergessen - Für Demokratie e.V. und sind als Autoren, Kuratoren und Zeitzeugen in der politischen Bildung aktiv.

Erschienen in:Opens internal link in current window Zeitschrift Gegen Vergessen - Für Demokratie Ausgabe 99/2019