„Der Nationalsozialismus und die Gegenwart“

Wissenschaftliches Symposium aus Anlass des 70. Geburtstags von Wilfried Wiedemann

Am Sonnabend, den 2. Oktober, veranstaltete die Regionale Arbeitsgruppe Hannover-Braunschweig ein ganztägiges öffentliches Symposium mit dem Thema „Der Nationalsozialismus und die Gegenwart“. Mehr als 90 TeilnehmerInnen besuchten die Tagung. Anlass war der 70. Geburtstag von Wilfried Wiedemann, dem langjährigen Sprecher der RAG Hannover-Braunschweig und früherem Geschäftsführer der Stiftung niedersächsische Gedenkstätten.

Die Veranstaltung hatte ein festliches Ambiente. Der Sparkassenverband Niedersachsen stellte freundlicherweise sein Foyer und zwei anschließende Tagungsräume samt Tagungstechnik zur Verfügung. Darüber hinaus sorgte er für eine großzügige Bewirtung aller Teilnehmer.

Bernd Busemann, der niedersächsische Justizminister, und Joachim Gauck, der Bundesvorsitzende von Gegen Vergessen – Für Demokratie, hatten Grüße übermittelt, aber wegen anderer Termine abgesagt.

Zur Eröffnung sprach Prof. Dr. Bernd Faulenbach von der Universität Bochum, der stellvertretende Bundesvorsitzende von Gegen Vergessen – Für Demokratie und zugleich Vorsitzender der Historischen Kommission beim Parteivorstand der SPD. Er würdigte die Lebensleistung von Wiedemann und ordnete sie in die gesellschaftliche und politische Entwicklung der Bundesrepublik seit 1969/70 ein, die nach Jahrzehnten des Verdrängens der Erinnerung an die NS-Verbrechen zu neuen Impulsen auch in der Erinnerungskultur geführt hatte. Wiedemann war seit 1970 Mitarbeiter der Landeszentrale für politische Bildung, zunächst Filmreferent, später als Referent und Referatsleiter für die Gedenkstätten in Niedersachsen zuständig. Zweimal war er federführend am Ausbau der Gedenkstätte Bergen-Belsen beteiligt, der in den Jahren 1986 bis 1990 und dann noch einmal 1999 bis 2007 politisch und finanziell möglich wurde. Seit 1990 förderte Niedersachsen als erstes Land in Deutschland zahlreiche kommunale und regionale Initiativen zur Gedenkkultur, und zwar finanziell und durch fachliche Beratung, insbesondere das Dokumentations- und Informationszentrum zu den Emslandlagern in Papenburg, die KZ-Gedenkstätte Moringen, die Gedenkstätte Salzgitter-Drütte, die Gedenkstätte Lager Sandbostel, die Gedenkstätten für die Euthanasie-Morde in Oldenburg-Wehnen und Lüneburg, Gedenkstätte Pulverfabrik Liebenau, die Gedenkstätte Augusta-Schacht in Ohrbeck bei Osnabrück u.a.  Auch dies gehörte zu den Aufgaben von Herrn Wiedemann.

Führend beteiligt war Wiedemann zusammen mit Dr. Helmut Kramer, Richter a.D. am OLG Braunschweig, Prof. Herbert Obenaus, Hannover, und Prof. Joachim Perels, Hannover, am Aufbau der Gedenkstätte „Justiz und Strafvollzug im Dritten Reich“ in der Justizvollzugsanstalt Wolfenbüttel in den Jahren 1996 bis 1999. Die Aufgabe, eine Gedenkstätte für NS-Verbrechen innerhalb eines großen Gefängnisses mit laufendem Betrieb einzurichten, war eine besondere Herausforderung. Die Ausstellung wurde 2002 auf Bitten des Justizministers kopiert und in den großen Justizgebäuden Niedersachsens als Wanderausstellung gezeigt, jeweils ergänzt um lokale Beispiele der NS-Justiz.

Ein besonders wichtiger Aspekt des Wirkens von Wiedemann war das Herstellen von Kontakten zu den nationalen Verbänden der Überlebenden von Bergen-Belsen und Wolfenbüttel in Israel, den USA, Kanada, Frankreich, Ungarn, Polen, Russland u.a. und zu zahlreichen Einzelpersonen, die bis dahin in Niedersachsen keinen Ansprechpartner gefunden bzw. ihn auch nicht gesucht hatten. Über fast drei Jahrzehnte war Wiedemann, der dabei seine Familie häufig einbezog, die verlässliche Bezugsperson für diesen Personenkreis. Das führte dazu, dass viele Überlebende Vertrauen fassten und ihre Tagebücher, ihre Zeichnungen, ihre Häftlingskleidung und andere Erinnerungsstücke der Gedenkstätte Bergen-Belsen übergaben und schließlich auch bereit waren, vor der Videokamera über ihr Schicksal zu berichten. Im Archiv der Gedenkstätte liegen rund 400 lebensgeschichtliche Interviews, von denen Auszügen in der Dauerausstellung gezeigt werden.

Prof. Faulenbach hob hervor, dass Wiedemann über die Pensionierung hinaus bis zu Eröffnung des neuen Dokumentationszentrum Bergen-Belsen im Oktober 2007 tätig war und auch jetzt noch beim Aufbau der Gedenkstätte KZ Esterwegen mitwirkt. Sein Fazit: In der deutschen Gedenkkultur sei bis heute viel erreicht worden. Nun stehe der Abschied von den Zeitzeugen bevor. Anders als Jan Assmann es sich vorstelle, gebe es nicht ein Nacheinander von kommunikativer Erinnerung und öffentlicher Erinnerungskultur, sondern ein Nebeneinander. Man müsse sich neuen Themen zuwenden, z.B. dem kommunistischen Widerstand und den kommunistischen Verbrechen. Und es werde Veränderungen geben; die bisher sehr national ausgerichteten Erinnerungskulturen in Europa würden sich allmählich in eine transnationale, europäische Kultur verwandeln.

Anschließend sprach Privatdozentin Dr. Irmtrud Wojak, Direktorin des NS-Dokumentationszentrums München über den  „Umgang mit dem Nationalsozialismus heute“. Sie berichtete auch über den Stand der Planung für das NS-Dokumentationszentrum am Königsplatz in München, das 2014 fertig gestellt sein soll. Ihren Vortrag schloss Frau Wojak mit dem Gedanken, der Nationalsozialismus fordere immer erneut zur Auseinandersetzung heraus und fordere auch zur Selbstreflexion auf.

Nach der Mittagspause sprach Prof. Herbert Obenaus, Universität Hannover, über „die Gedenkstätte Bergen-Belsen und ihre bisherige Geschichte“. Dieser Vortrag war eine Ergänzung des Beitrags von Prof. Faulenbach. Obenaus zeichnete die Entwicklung seit 1952, als die Briten die Zuständigkeit für den historischen Gedenkort an die Bundesrepublik abgaben, bis zur Gegenwart nach. In der Diskussion wies Prof. Rolf Wernstedt, ehemaliger Kultusminister und Landtagspräsident, darauf hin, dass die Entschließung des Landtags zum Ausbau von Bergen-Belsen 1985 einstimmig angenommen worden war und eine Reaktion auf den Besuch des US-Präsidenten Ronald Reagan bedeutete.

Prof. Joachim Wolschke-Bulmahn, Direktor des Instituts für Gartenkunst und Landschaftsgestaltung der Universität Hannover, sprach über die Gestaltungspläne für Bergen-Belsen im Herbst und Winter 1945, die noch stark von den ästhetischen Vorstellungen der NS-Führungselite geprägt waren. Mit weiteren Beispielen (Esterwegen und Falstad in Norwegen) veranschaulichte Wolschke-Bulmahn den Zusammenhang von Landschaftsgestaltung und Erinnerungskultur bis in die Gegenwart.

Prof. Rainer Schulze, Inhaber eines Lehrstuhls für Zeitgeschichte an der University of Essex, sprach über die Befreiung des KZ Bergen-Belsen durch die Britische Armee und die Reaktion der deutschen und der britischen Bevölkerung. Prof. Schulze berichtete von den Kommentaren deutscher Anwohner aus der Nachbarschaft des Lagers, die er in den Akten des Imperial War Museums in London gefunden hatte. Diese erwachsenen Anwohner blieben ganz überwiegend bei ihren antisemitischen Vorurteilen und waren bemüht, die Fotos und Filme, die bei der Befreieung des Lagers gemacht wurden, umzudeuten und passend zu machen. Auch die Britischen Behörden hatten Schwierigkeiten mit diesen Bildern, die sie, auf Schonung bedacht, nur sukzessive der eigenen Bevölkerung zumuten wollten.

Dr. Sebastian Weitkamp, Mitarbeiter der Stiftung KZ Esterwegen, sprach über seine Forschungen zum Anteil des Auswärtigen Amtes an der Ermordung der europäischen Juden. Er verdeutlichte die Beteiligung am Beispiel von zwei Personen, an Horst Wagner, dem Leiter der Referatsgruppe Inland II, und dessen Stellvertreter, Eberhard von Thadden, dem Leiter des Judenreferats im AA. Während Wagner ein ungebildeter SS-Aufsteiger war, hatte von Thadden als promovierter Jurist die klassische Diplomatenkarriere durchlaufen, seinen Antisemitismus aber wohl bereits in der Studienzeit verfestigt. Beide überlebten das Kriegsende und wurden in der Bundesrepublik nicht ernsthaft verfolgt. Im Gegenteil, von Thadden machte in der westdeutschen Industrie noch Karriere.

Den Schlussbeitrag der Veranstaltung leistete Prof. Joachim Perels, Institut für Politische Wissenschaft der Universität Hannover. Er sprach über Probleme der Behandlung des Nationalsozialismus im Unterricht und referierte dazu einige empirische Befunde zur Wirksamkeit des Geschichtsunterrichts. An der lebhaften Diskussion beteiligte sich u.a. Prof. Wolfgang Jacobmeyer, Universität Münster, der als Nachfolger von Jeismann den dortigen Lehrstuhl für Didaktik der Geschichte innehatte. Rasch wurde deutlich: Die Frage, wie man der heutigen Jugend den Nationalsozialismus vermitteln kann, erfordert eine eigene Tagung.

Die Veranstaltung endete mit einem Empfang, zu dem Wilfried Wiedemann die Teilnehmer einlud.

Prof. Dr. jur. Joachim Perels, jetzt pensioniert, lehrte am Institut für Politische Wissenschaft der Leibniz Universität Hannover und ist Sprecher der RAG Hannover-Braunschweig

Albrecht Pohle, Leitender Ministerialrat a.D., war als Referatsleiter im Nieders. Kultusministerium u.a. für die Förderung der Gedenkstätten zuständig. Er ist Sprecher der RAG Hannover-Braunschweig.