Ernst-Jürgen Walberg bespricht: Wenn Zeitzeugen sich erinnern ...

Ja damals - nicht nur Autobiografisches aus der DDR und darüber hinaus.

Gelassen lehnt Marianne Birthler an der hell getünchten Mauerwand, lässig-elegant gekleidet, eine fast burschikose Frisur, ein leicht angedeutetes Lächeln  ...  ganz entspannt, so sieht sie aus und so ganz anders, als nicht nur wir Journalisten sie noch in der Erinnerung haben aus ihrer Zeit als „Bundesbeauftragte für die Unterlagen des Staatsicherheitsdienstes der ehemaligen DDR“. Wer lange zehn Jahre lang mit einem solch’ verqueren Titel herumlaufen darf, der kann nicht dauernd locker sein und fröhlich lächeln...

Es scheint längst aus unserem Gedächtnis entschwunden, dabei begann es urkomisch so: Marianne Birthler wird in das Kanzleramt bestellt, sie ist gerade drei Monate im Amt. Otto Schily, der Innenminister, gibt den Vorgesetzten. Er will verhindern, dass die Stasi-Unterlagenbehörde die Akten des Altkanzlers Helmut Kohl herausgibt. Marianne Birthler trotzt, Bundeskanzler Gerhard Schröder soll entscheiden. Gemütlich in der Sesselecke mit Rotwein und Zigarre kommt der Bundeskanzler zum Thema: „’Meine Leute haben mir hier aufgeschrieben, Frau Birthler’, er deutet auf ein Stück Papier in seiner Hand und lächelt, ‚dass mich Ottos Argumente mehr überzeugen als Ihre.’“ Marianne Birthler argumentiert gegen den geplanten Kabinettsbeschluss, der ihr die Herausgabe der Kohl-Akten untersagen soll. Und sie überzeugt.

Die Folgen allerdings: In den ersten fünf Jahren ihrer Tätigkeit als Bundesbeauftragte wird sie das Thema nicht wieder los. Der Widerstand des Altkanzlers Helmut Kohl ist massiv, er wehrt sich juristisch und erfolgreich durch alle Instanzen dagegen, dass seine Stasi-Akten der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden. Nur im zeitlichen Abstand lassen sich die scharfen Debatten damals fast neutral mit Marianne Birthler so zusammenfassen: Es ging in erster Linie nicht darum, wer Recht bekommt oder Unrecht hat, sondern vor allem darum, „verschiedene in Spannung zueinander stehende Normen in Einklang zu bringen: die Öffnung der Stasi-Akten als Vermächtnis der Revolution, das in der Bundesrepublik gewachsene Datenschutzrecht, die Freiheit der Wissenschaft, den Zugang der Medien zu Informationen und das Recht Einzelner auf Schutz ihrer persönlichen Daten.“ Helmut Kohls Akten blieben geschlossen. Besonders fatal dabei: Hier war der Präzidenzfall, auf den sich alle Personen der Zeitgeschichte (SED-Funktionäre und andere Staatsträger der DDR inklusive) beziehen konnten: Ihre Zustimmung zur Akteneinsicht durch Wissenschaftler oder Journalisten wurde zur Voraussetzung eben dieser Akteneinsicht. Oder bitterer formuliert: Die Aufarbeitung der DDR-Geschichte wurde massiv abhängig auch von den „Tätern“ damals.

Und gar nicht so nebenbei: Die Stasi-Unterlagenbehörde wurde zeitweise (von Sachbearbeiter zu Sachbearbeiter deutlich unterschiedlich) extrem  ...  na sagen wir: ‚vorsichtig’ beim Schwärzen der Akten...  für alle Fälle ein bisschen mehr geschwärzt, das ersparte in jedem Zweifelsfall gern auch juristischen Ärger...  Das dauerte, aber das Verfahren normalisierte sich mit den Jahren wieder. Apropos: Wie hatte Bärbel Bohley formuliert, schon viele Jahre zuvor? „Wir wollten Gerechtigkeit und bekamen den Rechtsstaat.“

In ihrer zweiten Amtszeit war Marianne Birthler mit gleich drei Problemen konfrontiert, denen nicht auszuweichen war: einem alten und längst bekannten, der Beschäftigung von Stasi-Mitarbeitern in ihrer Behörde  -  auch ihr Nachfolger Roland Jahn hat dieses Problem noch geerbt; einem nicht ganz neuen, der ungeklärten Zukunft der Stasi-Akten im unzugänglicheren Bundesarchiv oder wo auch immer und der ungeklärten Zukunft der Stasi-Unterlagenbehörde selbst...  gesichert nur auf absehbare Zeit,  erst einmal bis 2019.

Und das dritte Problem, das Marianne Birthler quasi zuständigkeitshalber immer wieder auf dem Schreibtisch hatte? Die Frage: War die DDR ein Unrechtsstaat, oder war sie es nicht?!? Marianne Birthler wird bis heute nicht müde, zu antworten wie seit Jahren schon: „Einen Staat, dessen unrechtmäßiges Zustandekommen und dessen unrechtmäßige Praxis unbestritten sei, nicht Unrechtsstaat nennen zu dürfen oder zu sollen beleidige meiner Ansicht nach den Verstand.“ Oder noch präziser auf den Punkt: „Für manche Menschen scheint die DDR im Rückblick immer attraktiver zu werden. Vor dem Hintergrund schöner persönlicher Erinnerungen, die sie nicht missen möchten, phantasieren sie ein menschenfreundliches, gerechtes und friedliches Land zusammen, das es so nie gegeben hat. Die Unfreiheit, die alltäglichen Zumutungen des Systems wurden von vielen Menschen gar nicht mehr als solche empfunden: Wer sich nicht bewegt, spürt keine Ketten.“

Marianne Birthler erzählt ruhig, gelassen fast, doch meinungsstark über die Kirchen-Freiräume am Anfang, die Opposition ab Mitte der 80er Jahre, die Zeit als Kultusministerin in Brandenburg unter  -  ausgerechnet!  -  Manfred Stolpe, ihren Rücktritt wegen dieses Mannes und seines trostlosen Umgangs mit der eigenen Geschichte  ...  Marianne Birthler erzählt ihr Leben, ohne dieses Leben oder sich selbst aufzuplustern. Sie erzählt nachdenklich und leise. Sie zieht Bilanz, in dem sie erinnert... zum Beispiel an die „prekären Verhältnisse“ vieler Opfer, die uns nicht oder immer noch zu wenig kümmern; in dem sie beklagt... nicht nur das Verharmlosen der Diktatur, sondern auch unseren Mangel an Wissen; und in dem sie trotzdem und völlig zu Recht festhält: „Deutschland hat international Maßstäbe für den Umgang mit einer diktatorischen Vergangenheit gesetzt.“  Kein schlechtes Resümee für ein ganzes Leben in einem halben und in einem ganzen Land. 

Daniel Krüger (17 Jahre jung, Sprössling durchaus staatstragender Eltern und in der 12. Klasse einer Leipziger EOS) hat fast sein ganzes Leben noch vor sich. Wir lernen ihn kennen am 1. September 1989 in seinem Klassenraum unter dem Honecker-Bild. Es geht zur Sache: Daniel soll und muss sich entscheiden. Will er studieren, dann soll und muss er sich verpflichten: drei Jahre Armeedienst und die Unteroffizierslaufbahn. Aber auf Menschen schießen, gar auf Flüchtlinge an der Grenze? An der Nikolaikirche ist er Tage zuvor gewesen, um sich Rat zu holen. Ziemlich vergeblich war das, denn ob er wirklich verweigern will, da ist sich Daniel noch längst nicht sicher. 

Bürgerbewegte wohnen gegenüber der elterlichen Wohnung in einem besetzten Haus. Mal gucken will Daniel, unsicher. Zur Demo geht er mit, nicht weniger unsicher. Ein Team der „Tagesschau“ filmt  -  auch Daniel hinter dem Plakat FÜR EIN OFFENES LAND MIT FREIEN MENSCHEN. Sie fliehen vor der Staatsicherheit in die Nikolaikirche. Den Film sehen die Eltern natürlich auch, jetzt gibt es richtig Zoff zuhause.

Diesen Daniel wird es irgendwo gegeben haben in Leipzig, seine Eltern, seine Lehrer, seine Mitschüler auch, aber Ähnlichkeiten mit realen Personen wären rein zufällig, versichern Autor Bernd Lindner und Zeichner PM Hoffmann, die beide in Leipzig leben. Eine ganze Reihe von Leipziger Bürgerrechtlern haben reale Vorbilder, andere sind ganz deutlich wiederzuerkennen: Bärbel Bohley, Christian Führer, Christoph Wonneberger. Ja, damals  ...  Leipzig 1989 im „Herbst der Entscheidung“  ...  die „Graphic Novel“ holt die Zeit zurück und die Erinnerungen auch. Nicht  Aufarbeiten ist angesagt, sondern es wird ganz einfach nach-gezeichnet und dialogisch nach-erzählt, was war. Intensiv die Massendemonstrationen in Leipzig und das Agieren der Staatssicherheit, glänzend die Großdemo auf dem Berliner Alexanderplatz am 4. November 1989: Jens Reich, Marianne Birthler, Stefan Heym... So ist es gewesen oder so ganz ähnlich, flott umgesetzt für vor allem junge Leser, diese „Geschichte aus der Friedlichen Revolution 1989“, die längst selbst Geschichte ist.    

In diesem Herbst 1989 spielt der Schauspieler Armin Mueller-Stahl in Baltimore (USA) einen jiddischen Großvater, die Hauptrolle in Barry Levinsons Film „Avalon“. Ein Deutscher in der Rolle eines jiddischen Großvaters? Die Skepsis der amerikanischen Schauspielerkollegen gibt sich schlagartig erst, als Mueller-Stahl in seinem noch „hölzernen“ Englisch und mitten in einem Dreh verkündet: „Meine Herren, ich war vierzehn, als der Krieg vorüber war.“ Lang sind die Drehtage damals, erinnert sich der Schauspieler, am 9. November waren es mehr als zwölf Stunden. Er kommt ins Hotel zurück, schaltet den Fernseher kurz ein, sieht Menschen auf der Mauer tanzen, davor zwei bekannte amerikanische Moderatoren, amüsiert sich über diesen ungewöhnlichen Film-Gag, duscht und geht ins Bett. „Nachts träumte ich, die Mauer sei gefallen.“ Als ihm Kollegen am anderen Tag gratulieren, weist er die Gratulation zurück. “... ich habe heute nicht Geburtstag.“ Und wenig später reden sie dann wirklich über die Mauer, die gefallene, über die Zeit des Schauspielers in der DDR und die neue Welt jetzt, denn gearbeitet wird nicht mehr viel an diesem Tag danach. „Wieder spürte ich dieses Frühlingsgefühl wie damals nach dem Krieg, wie in der ersten Zeit nach meiner Ausreise aus der DDR. Es würde wieder ein Deutschland werden. Das Gefängnis-Gefühl war verflogen  -  vor der Mauer, hinter der Mauer, das  spielte nun keine Rolle mehr.“

Es sind solche Episoden, die Armin Mueller-Stahls neueste Lebensgeschichte „Dreimal Deutschland und zurück“ zu einer angenehmen, ja wohltemperierten Lektüre machen. Lakonisch wertet Mueller-Stahl auch seine eigene Geschichte, „meine Widersprüche“. Er will keinen Druck, keinen politischen und keinen künstlerischen, aber er bleibt in der DDR, seine Erfolge und seine Preise durchaus genießend. Bis das nicht mehr gut geht, 1975, 1976 ... auch Armin Mueller-Stahl unterschreibt die Biermann-Petition.

Mit seiner (Zwischen-)Bilanz kokettiert dieser erstaunlich unpolitische Künstler nicht: „Ich habe in drei Deutschlands gelebt und konnte mit keinem richtig warm werden: Ich konnte es nicht im Faschismus, ich konnte es nicht in der DDR, und ich mochte überhaupt nicht die ‚Aufarbeiter’ in der alten Bundesrepublik, die über die Menschen in der DDR richteten.“

Richteten sie? Und richteten sie alle? Darüber ließe sich trefflich streiten. Über die dann folgenden beiden Sätze des Weltbürgers Armin Mueller-Stahl allerdings nicht mehr: „Ein Vierteljahrhundert nach dem Fall der Mauer denke ich: Wir haben wieder ein Land, auf das wir gerne schauen können.“ 

Roland Jahn, seit März 2011 der Nachfolger Marianne Birthlers als „Beauftragter für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR“, galt (und gilt!) als unangepasst, als intelligenter Starrkopf, als aufmüpfig und mutig und rebellisch sowieso. Das zumindest weiß bald jeder von ihm: 1983 wird Roland Jahn, trotz zahlloser Verhaftungen und zahlreicher Verhöre bei der Staatssicherheit noch immer mächtig aktiv in der Jenaer Friedensbewegung, zu knapp zwei Jahren Gefängnis verurteilt. Massive auch internationale Proteste erreichen: Roland Jahn kommt frei. Er wird in einen Zug gen Westen gesetzt, das Abteil wird verschlossen, Jahn wird abgeschoben. In Bayern wird er in diesem Abteil entdeckt und befreit... „ein Stück Frachtgut von Ost nach West“, so hat er es selbst formuliert später. Und sich dann als Fernsehjournalist („Kontraste“) in Westberlin weiter engagiert für die Friedensbewegung in der DDR und ihre Öffentlichkeit.

Und doch ist es jetzt eben dieser Roland Jahn, der seinen Erinnerungen an das eigene „Überleben in der DDR“ zum 25. Jahrestag des Mauerfalls den aufreizenden Titel gegeben hat: „Wir Angepassten“. Der Mensch reibt sich die Augen und wundert sich. Ausgerechnet Roland Jahn, ein „Angepasster“? Der Protestierer gegen die Biermann-Ausbürgerung? Der dafür von der Universität Relegierte? Das „Stück Frachtgut von Ost nach West“, damals? Donnerwetter und: wetten, dass?!? Dass er sich damit wieder unbeliebt machen wird?!?

Roland Jahn fordert dazu auf sich zu erinnern und zu erzählen, „wie wir in der DDR gelebt haben.“ Und er macht es gleich vor am eigenen Beispiel: „Wie habe ich in der DDR gelebt?“ Ganz einfach und irgendwie ganz normal: Mitglied bei den Pionieren, Mitglied in der FDJ, Mitglied im Sportverein, Altpapier sammelnd und ansonsten so unpolitisch wie möglich. Das hat er in seinem Elternhaus gelernt, sich still zu verhalten. Kritisch zu sein, das bringe Ärger, hieß es, gleich mit dem Zusatz „Für Dich und die Familie.“ Das hatte der Vater gelernt zu NS-Zeiten. Das war in Fleisch und Blut übergegangen. Und das war, ginge es nach den Eltern, nahtlos zu übertragen auf die DDR-Gegenwart. Als das nicht mehr funktionierte, als der Sohn Roland aufmüpfig wurde und Widerstand leistete, war der Ärger programmiert wie vom Vater vorhergesagt: „Für Dich und die Familie.“

Es hat lange gedauert, bis Vater und Sohn nach dem Ende der DDR darüber reden konnten, so offen und ehrlich wie möglich. Roland Jahn heute: „In der DDR zu leben, das hatten sich weder meine Eltern noch meine Geschwister ausgesucht. Sie hatten versucht, das Beste daraus zu machen. Dass sie nach meinem Rauswurf aus der DDR ins Abseits gestellt wurden, das  -  so machte ich mir klar  -  habe ich durch mein Verhalten hervorgerufen. Wir lebten in einem System, das den Einsatz für Menschenrechte auch dadurch bestrafte, indem es die Familie in Haftung nahm. Das Schuldgefühl, ich trage es in mir, obwohl es die Stasi und die Sportfunktionäre waren, die meine Familie ‚bestraft’ haben. Ursache und Wirkung, auch dieses Verhältnis hat die SED auf den Kopf gestellt.“

Die Schubladen „Täter“ und „Opfer“ und „Mitläufer“ reichen nicht aus, um die Geschichten und die Geschichte zu erklären. Nur Anpassung oder nur Widerstand sind die Ausnahme. Und der eigene Weg irgendwo und irgendwie dazwischen, der ist zu erinnern und zu erzählen  -  Vorwürfe helfen nicht weiter. Zu dauerhaft waren allein die traumatischen Wirkungen des 17. Juni 1953 oder des 13. August 1961 oder des 20. August 1968. Auch deshalb hat die DDR so lange so existiert.

„Anfang der 80er Jahre“, erzählt Roland Jahn, „kursierte in Jena im Zusammenhang mit politischen Inhaftierungen eine Postkarte mit folgender Maxime: ‚Wo das Unrecht alltäglich ist, wird Widerstand zur Pflicht.’“ Und dann folgen diese Sätze Roland Jahns, die im Gedächtnis bleiben und zum Nach-Denken zwingen: „Man kann den rigorosen Moralismus bewundern, der in dieser Maxime steckt. Aber diese Aufforderung wird den Menschen nicht gerecht, die unter den Bedingungen einer Diktatur leben mussten, weil eine derartige Maxime Übermenschliches verlangt.“

Roland Jahn hat ein kluges Buch geschrieben, ein unbequemes dazu. Es ist Jürgen Fuchs gewidmet  -  erinnern Sie sich?

Auf kleinen Zetteln hat Michail Chodorkowski im Gefängnis, im Lager, dann wieder im Gefängnis und dann wieder im Lager seine Beobachtungen notiert. Und ich stelle mir seinen beobachtenden Blick so vor, wie wir ihn in Erinnerung haben, als der einst reichste Mann Russlands in einer Art Stahlkäfig vor Gericht stand oder saß und auf die Szenen im Gerichtssaal schaute, einfach nur schaute: ein bisschen skeptisch, ein bisschen ernst, ein bisschen ironisch und ganz, ganz selten fast heiter. 21 Prosa-Skizzen sind so entstanden, denke ich mir, 21 Miniaturen über „Meine Mitgefangenen“. Da kann es niemanden mehr überraschen:  An keiner Stelle dieser Texte wird Chodorkowski laut oder zynisch oder böse oder larmoyant. Er beschreibt einfach, was ist. Die Namen sind verändert, manche Details auch. Chodorkowski führt niemanden vor, selbst Sergej Sergejewitsch nicht, der eigentlich (vielleicht!?) Pelsche heißt und „Leiter der operativen Abteilung“ ist, ein „Bewacher“ also: „Nüchtern ist er ... selten. Wie Bremslichter leuchtende, etwas abstehende Ohren und eine leichte Fahne verheißen gute Laune bei ihrem Besitzer und flüssiges Sprechen. ... Er schlägt zu wie ein Profi: kaum Spuren, der Mensch jedoch jammert eine Woche lang und pinkelt Blut. ... Allgemeines Urteil: Er ist kein Unmensch ...“.

Michail Chodorkowski lässt sich auf die Mitgefangenen und ihre Geschichte ein, doch er hält ein klein wenig Abstand, unmerklich fast. Warlam Schalamow war da mit seinen „Erzählungen aus Kolyma“ radikaler, Alexander Solschenizyn mit seinen Romanen über den  „Archipel Gulag“ historischer oder vielleicht besser: dokumentarischer und sprachgewaltiger auch. Michail Chodorkowski argumentiert zwischendurch und wertet, deutlich und politisch  ...  so zum Beispiel: „Manchmal erscheint das Gefängnisgeschehen wie ein ins Groteske gesteigertes Modell unseres normalen Lebens jenseits der Mauern. Selbst in der Freiheit ist bei uns heute ein krimineller Erpresser nur schwer von einem Vertreter des Staates zu unterscheiden. Und es ist fraglich, ob es diesen Unterschied für einen normalen Menschen überhaupt noch gibt.“

Michail Chodorkowski hatte nach seiner Freilassung auf einer Pressekonferenz am 22. Dezember 2013 im Berliner Mauermuseum versprochen, sich für Gefangene in russischen Gefängnissen einzusetzen. Er tut es auch, indem er an sie erinnert  -  ganz uneitel übrigens und nur für sie, für  „Meine Mitgefangenen“.

Nachsatz. Am 26. September 2014 teilt der Verlag Galiani mit: „Die Anfang September in einer Höhe von 20.000 Exemplaren im Moskauer Verlag Alpina erschienene erste Auflage des russischen Texts von ‚Meine Mitgefangenen’ war nach zwei Wochen vergriffen, die zweite Auflage ist in der Auslieferung.“ 

 

Marianne Birthler: Halbes Land. Ganzes Land. Ganzes Leben. Erinnerungen. Hanser Berlin im Carl Hanser Verlag, München 2014, gebundene Ausgabe, 398 Seiten, ISBN 978-3-446-24151-0 - 22,90 €

PM Hoffmann (Illustrationen), Bernd Lindner (Text):Herbst der Entscheidung. Eine Geschichte aus der Friedlichen Revolution 1989. Graphic Novel. Christoph Links Verlag, Berlin 2014, Broschierte Ausgabe, 96 Seiten, ISBN 978-3-86153-775-5  -  14,90 €

Armin Mueller-Stahl: Dreimal Deutschland und zurück. Aufgeschrieben von Andreas Hallaschka. Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg 2014, Gebundene Ausgabe, 239 Seiten, ISBN 978-3-455-50317-3  -  19,99 €

Roland Jahn: Wir Angepassten. Überleben in der DDR. Unter Mitarbeit von Dagmar Hovestädt. Piper Verlag, München 2014, Gebundene Ausgabe, 192 Seiten, ISBN 978-3-492-05631-1  -  19,99 € 

Michail Chodorkowski: Meine Mitgefangenen. Aus dem Russischen übersetzt von Vlada Philipp und Anselm Bühling. Verlag Galiani, Berlin 2014, Gebundene Ausgabe, 107 Seiten, ISBN 978-3-86971-089-1  -  16.99 €