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Halbierte Wahrheiten: Kriegsniederlage 1945 und Neuordnung 1949

Von Wolfgang Braun, Sprecher der RAG Rhein-Ruhr-West von Gegen Vergessen - Für Demokratie e.V.

Am 8. Mai 2015 jährt sich die bedingungslose Kapitulation des Deutschen Reiches zum 70. Male. An diesem Tag, der sich seit der historischen Rede des ehemaligen Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker (1985) auch im Westen der Republik als „Tag der Befreiung“ durchsetzte, veranstaltet die Vereinigung „Gegen Vergessen – Für Demokratie e.V. (GVFD)“ in der Pauluskirche in Duisburg-Hochfeld gemeinsam mit anderen Gruppierungen wieder das Fest „Europa feiert! Feiert Europa“. Vor dem Hintergrund der Europafeier skizziert Wolfgang Braun die gesellschafts-politische Bedeutung des 8. Mai 1945 und 1949 (Verabschiedung des Grundgesetzes).

Ein Tag der Befreiung, das war der 8. Mai 1945, mit Sicherheit aus historischer Sicht, auch aus der Sicht der anderen Völker. Der Tag der Befreiung war der 8. Mai 1945 mit Sicherheit für KZ-Insassen, Flüchtige, Verfolgte, Widerständler und Teile der inneren Emigration. Für die überwiegende Mehrheit der damaligen Deutschen war er es subjektiv mit Sicherheit nicht. Für viele von ihnen war er das Ende eines Schreckens, der Schlußpunkt auch unter eine eigene Leidensgeschichte. Für ebenso viele war er das erschreckte Aufwachen aus lang gehegten, oft ziemlich unappetitlichen Träumen, der Blick in eine unsichere Zukunft. Es war die Niederlage – nach einem furchtbaren Krieg mit unvorstellbaren Schandtaten der eigenen Truppen, mit erdrückender Schuld für die Verlierer.

Benommenheit und Orientierungslosigkeit dürften im Vordergrund gestanden haben – und hielten sich die nächsten vierzig Jahre. Dann nämlich erklärte Richard von Weizsäcker, der damalige Bundespräsident, in seiner als historisch bezeichneten und auch zu bezeichnenden Rede, der 8. Mai sei der Tag der Befreiung.

Die eigentliche historische Bedeutung dieser Rede lag in ihrem Zeitpunkt. Sie wurde 40 Jahre nach der bedingungslosen Kapitulation und auf den Tag genau 36 Jahre nach der Verabschiedung des Grundgesetzes im Parlamentarischen Rat am 8. Mai 1949 gehalten. Es war eine Rede für die sich die ganze Republik mehr als drei Jahrzehnte Zeit gelassen hatte! Dieses, das eigentliche Politikum der Rede, wurde auch in den Folgejahren nicht hervorgehoben. Ebensowenig das andere nicht minder bedeutende Datum: Am 23. Mai 1945 wurde die letzte Reichsregierung unter Admiral von Dönitz inhaftiert, am 23. Mai 1949 das Grundgesetz in Kraft gesetzt. 

Dabei wäre es spätestens im Jahre 1990 an der Zeit gewesen, diese weisen Gaben der Gründergeneration der Bundesrepublik zu würdigen. Die immer beschworene Wiedervereinigung war der Beitritt der fünf Bundesländer zum Geltungsbereich des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland, deren wirtschaftliche Belebung eine Integrationsleistung der alten Republik.

Zwar nicht wie ein Phönix aus der Asche entstand nach 1945 das neue freiheitliche Deutschland, aber beharrlich und geduldig wurde es aufgebaut. Nicht zuletzt mit Hilfe des alten „Erbfeinds“. Am 9. Mai 1950, fünf Jahre und einen Tag nach der bedingungslosen Kapitulation, ein Jahr und einen Tag nach der Verabschiedung des Grundgesetzes, gab der Franzose Robert Schumann den Startschuß zum Aufbau der späteren Europäischen Union. Also vor fast 65 Jahren.

Die politischen Leistungen der Nachkriegszeit zu würdigen, ist den Deutschen in ihrer überwiegenden Mehrheit bis heute nicht gelungen. Statt den Blick nach vorne zu richten, sich mit Sicht auf die Zukunft in der Gegenwart zu bewähren, floh man spätestens nach der Weizsäcker-Rede innerlich in die Geschichte. Die andauernde Wiederholung des immer gleichen Themas – wer will, kann sieben Tage 24 Stunden lang irgendeine Doku zur NS-Zeit sehen, historische Literatur mit bedeutenden Auflagen erscheint fast nur noch zu den schwarzen Jahren – legt zumindest den Verdacht nahe, das eine von ihrer Niederlage traumatisierte Nation sich immer noch vor Augen führen muß: Auch wenn es entsetzlich weh tat, diese Abreibung hatten wir durchaus verdient. Deshalb auch der andere Name zu so einem so späten Zeitpunkt: Es war wohl doch  ein Tag der Befreiung, auch wenn wir es noch immer nicht so recht glauben wollen.

Um sich aus dieser Besessenheit und dem inneren Wiederholungszwang des Traumatisierten zu lösen, ist die Geschichtsvergessenheit als die andere Seite der Geschichtsversessenheit zu überwinden. Die halbierten Wahrheiten sind zu vervollständigen. Es ist ein Geschichtsbewußtsein zu entwickeln, in dem es außer Schwarz wenigstens auch noch Weiß gibt, damit zumindest Grautöne gesehen werden können. Ist es an der Zeit, sich der Verantwortung, die man trägt, auch innerlich zu stellen. Ist es an der Zeit, die Dankesschuld gegenüber den Nachbarländern abzutragen. Es ist Zeit, erwachsen zu werden! Daher:

Vom 8. Mai 1949 zum 8. Mai 2015, dem Jahrestag der Verabschiedung des Grundgesetzes, im Rückblick: dem historischen Tag der Neubegründung der Freiheit der Deutschen: „Deutschlands Aufgaben in Europa“. Dann stimmt auch der Rahmen am Vorabend des Europatages: „Europa feiert! Feiert Europa!“. Wir feiern in den „Geburtstag“ hinein!