Immer Lauter: Die Stimme eines Widerstandskämpfers

Kate Dougherty über die Veranstaltung in der Lichtenbergschule, Darmstadt (LuO), am 9. Mai 2014 „Umgang mit nonkonformen Jugendlichen in der DDR“.

 

Zur Person:

Kate Dougherty ist eine ehemalige Schülerin, die im Mai 2014 ihr Abitur an der Lichtenbergschule Darmstadt absolvierte und sich zur Zeit auf ein Studium („Criminal Law“) in den Vereinigten Staaten vorbereitet. Sie hat sich einige Jahre lang intensiv an der (von der Lehrerin Margit Sachse initiierten) Projektgruppe „Schüler gegen das Vergessen“ (eine Kooperation zwischen dem Verein „Gegen Vergessen - für Demokratie“ und der Lichtenbergschule Darmstadt) beteiligt und unterstützt heute noch die jüngeren Mitglieder des Projekts mit Rat und Tat.“

 

Zum Thema der Veranstaltung in der Lichtenbergschule, Darmstadt (LuO), am 9. Mai 2014 „Umgang mit nonkonformen Jugendlichen in der DDR“ kam der nonkonforme Mann Stefan Lauter, der im „Rammstein“ Pullover und einer Cargohose harte Realitäten seiner Jugend in den 80er Jahren der DDR enthüllte. Seine Geschichten waren genauso „brachial“, wie der Musikstil der deutschen Hardrock-Band „Rammstein“ beschrieben wird. Als Jugendlicher, der „unbequeme Fragen“ stellte und daher als Staatsfeind abgestempelt wurde, schickten die DDR-Oberen ihn in verschiedene Jugendwerkhöfe, darunter in die geschlossene Einrichtung Torgau, wo ihm bittere Lektionen erteilt wurden. Das Ziel: Eine Umerziehung zur „vollständigen sozialistischen Persönlichkeit.“ Herr Lauter war in Begleitung der Autorin Grit Poppe, die sich seit Jahren sehr intensiv mit den Erfahrungen Jugendlicher in der DDR beschäftigt. Den Kontakt ermöglichte Andreas Dickerboom, Sprecher der Regionalen Arbeitsgruppe Rhein-Main des Vereins „Gegen Vergessen - Für Demokratie“. Diese Veranstaltung organisierte Margit Sachse, Koordinatorin der Europaschulwoche an der LuO. Das diesjährige Thema der hessischen Europaschulen lautete „Aufstand der Jungen - Generationenkonflikt?“

Stefan Lauter und Grit Poppe mit Plakat im Hintergrund: Lichtenbergschule

Nach der Begrüßung von Fabiana Locke, einer Schülerin der Q4, stellte der MDR-Dokumentarfilm „Schlimmer als Knast“ sachlich das Leben als DDR-Jugendlicher in Jugendwerkhöfen dar. Interviews mit ehemaligen Häftlingen beleuchteten das Leiden unter dem Terror des DDR-Regimes.

Anschließend folgte ein Interview, geführt von Lena Schmahl und Tim Stetz (Q4), mit Frau Poppe, die schon lange mit Stefan Lauter eng zusammen arbeitet und auch Schulen besucht.

Ihre gründlichen Recherchen, Gespräche mit diversen Zeitzeugen aus der DDR sowie der Austausch mit Kontakten aus Torgau verhalfen ihr, den Jugendroman „Weggesperrt“ zu schreiben. Dieses 2009 erschienene Buch erzählt die Geschichte von Anja, die mit 14 Jahren in verschiedene Durchgangsheime geschickt wird. Ein misslungener Fluchtversuch und späterer Wutausbruch besiegeln ihr Schicksal: Das Mädchen landet in dem berüchtigten Jugendwerkhof Torgau. Dort wird ihr Leben komplett auf den Kopf gestellt und sie erlebt das knallharte Vorgehen der DDR-Erzieher am eigenen Leibe. Das Publikum der LuO hörte gespannt zu, als Frau Poppe eindrucksvolle Textstellen aus ihrem Roman vorlas.

Die ersten zwei Programmpunkte haben den Besuchern der Veranstaltung den Ton für den Mann der Stunde vorgegeben. Alle Augen richteten sich nun auf Stefan Lauter. Als Moderatorin des Zeitzeugengesprächs mit Herrn Lauter hatte ich mich mit vielen, auch manch sehr direkten Fragen bewaffnet. Die Geschichtskurse der Oberstufe sollten hautnah durch seine persönlichen Erzählungen von dem Leid, das DDR-Jugendliche mit rebellischer Ader durchleben mussten, erfahren.

Alles begann in der Schule. Der junge Stefan hinterfragte die Prinzipien, die DDR-Führer propagierten. Immer häufiger kamen von ihm „unbequeme Fragen.“ Völlig empört beschimpfte ein Lehrer ihn schließlich als „Staatsfeind.“ Nach diesem prägenden Vorfall trat Lauter demonstrativ aus der FDJ („Freien Deutschen Jugend“) aus, vertrieb seine Zeit mit Punks auf dem Berliner Alexanderplatz und kam wegen seines Verhaltens im November 1984 nach Freital in einen offenen Jugendwerkhof. Doch die Erzieher konnten Stefans rebellische Tendenzen nicht kontrollieren. Sein unfolgsames, freches Benehmen, die ständigen Provokationen und der Widerstand gegen eine Erziehung zur sozialistischen Persönlichkeit hatten zur Konsequenz, dass Stefan nachts aus seinem Bett gezerrt und in den geschlossenen Jugendwerkhof Torgau eingewiesen wurde. Den Siebzehneinhalb-Jährigen erwarteten dort viel strengere, grausamere Erziehungsmethoden als in den Jahren zuvor. Gleich nach seiner Verhaftung sperrte man ihn drei Tage lang alleine in eine dunkle Gefängniszelle ein. So sollte sich der Festgenommene machtlos fühlen, sein Wille sollte gebrochen werden.

Den Festgenommenen wurde bei der Einweisung in Torgau keinerlei Informationen preisgegeben. Niemand wusste, wie lange er die unmenschlichen Umstände des Jugendwerkhofs würde ertragen müssen.

Herr Lauter erinnerte sich sehr genau an den Tagesablauf in der Haftanstalt. Jede Minute jeden Tages war von strikten Erziehern pedantisch geplant. Der Frühsport bis zum Umfallen war als erstes angesagt – unabhängig von den Wetterbedingungen. Danach schufteten die Insassen von 8 Uhr morgens bis in den späten Nachmittag, unterbrochen nur von einer kurzen Esspause. Und danach folgte nochmals das erbarmungslose Sportprogramm von der Frühe. Hinzu kamen noch die abscheulichen Lebensbedingungen in Torgau. Für Herrn Lauter war der Jugendwerkhof nichts anderes als ein hartgesottenes Zuchthaus. Den Jugendlichen wurde alles abverlangt. Stefan und seinen Kameraden wurde jede Sekunde der individuellen Freizeit geraubt. Er vermisste seine Freunde sehr. Am meisten fehlte Herrn Lauter jedoch seine Freiheit. In seinem Leben vor dem Aufenthalt in Torgau hatte er sich ganz normal mit wenigen Einschränkungen frei bewegen können. Plötzlich wurde ihm alles verboten.

Auf die Frage, wie Herr Lauter sich sein Leben, bevor er in den Jugendwerkhof kam, vorgestellt hatte, spielte die Liebe eine bedeutende Rolle. Mit 15 Jahren hatte er sich Hals über Kopf  in ein Mädchen verliebt, und sich ausgemalt, mit 18 eine Arbeitsstelle zu finden, dazu die eigene Wohnung, und dieses Mädel eines Tages zu heiraten. Doch er wurde ruckartig aus seinem Leben gerissen und der Traum platzte.

Die von Herrn Lauter mitgebrachten Gegenstände, wie Handschellen, ein „Gummiknüppel“ und Schlagstock, spielten bei dem Umerziehungsprozess eine prominente Rolle. Diese wurden von Wärtern gerne eingesetzt, besonders wenn Häftlinge Befehle missachteten, sich daneben benahmen, oder ohne Aufforderung sprachen. Dazu kam noch gnadenloses Einschüchtern, Anbrüllen und Einsperren. Das Ziel war ganz klar: Man sollte im Jugendwerkhof gefälligst den Regeln folgen und sich nicht mehr gegen die Umerziehung aufbäumen. Lauter verbildlichte den Schülern, wie ernst die körperliche und psychische Misshandlung der Jugendlichen in Torgau war. Auf die Frage, wie es Mädchen im Jugendwerkhof erging und ob sie eher Opfer sexueller Übergriffe waren, antwortete Herr Lauter, sie seien genauso schlecht wie die Jungs behandelt worden. Es habe auch sexuelle Misshandlung dort gegeben. 

Die Trennung von seiner Familie in jungen Jahren belastete Lauter nicht ungemein, da das Verhältnis zu seiner Mutter und seinem Stiefvater gestört war. Lauter wuchs in einem kommunistischen Elternhaus auf. Sein leiblicher Vater, ein Stasi-Offizier, hatte die Familie verlassen, als Stefan klein war. Die darauffolgenden Jahre seiner Kindheit waren fürchterlich: Sein gewalttätiger Stiefvater misshandelte ihn regelmäßig, und die eigene Mutter setzte sich nicht für ihren Sohn ein. Dies führte zu großen Spannungen und Vertrauensverlust. Um dem Stiefvater und den Prügeleien auszuweichen, verbrachte Stefan die meiste Zeit mit seinen Kameraden. In seinem eigenen Zuhause fühlte er sich nicht sicher.

Ein bestimmtes Ereignis brachte das Fass endgültig zum Überlaufen. Als seine Mutter der Schulleitung und dem Jugendamt Stefans Fehlverhalten erklären sollte, war ihre eiskalte Aussage: „Ich habe keinen Sohn Stefan mehr.“ Danach war ihr Verhältnis für immer zerbrochen. Auch der Empfang nach seiner Entlassung aus dem Jugendwerkhof war alles andere als herzlich: Seine Mutter glaubte seine Geschichten aus Torgau nicht, worauf Stefan sofort aufstand und das Haus verließ.

Jahre später habe Herr Lauter die Gedenkstätte in Torgau mit seiner Mutter besucht. Dort habe sie endlich erfasst, welche Hölle ihr Sohn durchleben musste. Heute schäme sie sich für ihr Verhalten. Seitdem Lauter der ganzen Welt seine Geschichte erzählt, traue sie sich kaum noch aus ihrem Haus. Nicht nur ihr Sohn, sondern auch viele Andere fänden ihr Benehmen in seiner Kindheit verachtenswert.

Torgau hat bei Herrn Lauter tiefe Spuren hinterlassen, mit denen er heute leben muss. Er verließ den Jugendwerkhof mit deutlichem Körpergewichtsverlust und anderen physischen Schäden. Heute habe er noch Knie- und Rückenbeschwerden. Psychologisch gesehen führten die seelischen Strapazen in Torgau zu posttraumatischen Belastungsstörungen. Heute kann er aufgrund der erlittenen Haftfolgeschäden seit einigen Jahren keinen Beruf mehr ausüben.

Das Erscheinungsbild des Herrn Lauter erregte meine Aufmerksamkeit, als ich ihn in Person vor mir sah. Ich fragte ihn sehr direkt, ob sein eher herbes Aussehen eine Widerspiegelung der Härte, die er in sich trägt, sei. Er reagierte etwas verblüfft, doch gestand er ein, dass es im Alltag tatsächlich Situationen gebe, in denen manche ihn aufgrund seines Äußeren meiden. Als Beispiel nannte er das Aufeinandertreffen mit älteren Damen in Supermärkten. Er gehöre heute noch zu der Punkszene und höre nach wie vor dieselbe Musik. Ohne Frage haben die bitteren Erfahrungen seiner Jugend ihn in vieler Hinsicht abgehärtet, und das zeige er auch mit seinem Outfit.

Stefan Lauter gehört zu den Wenigen, die Jahre später wegen der körperlichen und psychischen Misshandlung, Nötigung und des massiven Freiheitsentzugs durch die Führungskräfte in Torgau strafrechtliche Maßnahmen ergriffen haben. Da jede Anordnung der verantwortlichen „Erzieher“ – im Auftrag der DDR Volksbildung – in den Akten der Häftlinge ausführlich dokumentiert wurde, war es einfach zu belegen, wie sehr die Jugendlichen gelitten hatten. Lauter erkämpfte sich vor Gericht sowohl eine Haftentschädigung als auch eine Erwerbsunfähigkeitsrente.

In drei Jahren beginnt die „zweite Hälfte“ des Lebens des Herrn Lauter – er wird 50. Wie sieht er seine Zukunft? Herr Lauter möchte diesen Lebensabschnitt nutzen, um den Kontakt mit seinen zwei Kindern zu pflegen und ein möglichst normales Leben zu führen.

Das Gespräch mit Herrn Lauter war fesselnd. Dieser tapfere Widerstandskämpfer erzählte unverblümt von seiner unheilvollen Vergangenheit und einem bewegten Leben. Für Jugendliche von heute sind die erschütternden Erfahrungen des jungen Stefan undenkbar. Alle Veranstaltungsteilnehmer waren sehr erstaunt, dass solch extreme Maßnahmen gegen andersdenkende Minderjährige sogar bis Ende der 80er Jahre in Ostdeutschland durchgeführt wurden. Heutzutage wären diese krassen Erziehungsmethoden in einem hochentwickelten Land, wie Deutschland, kaum durchführbar. Und doch waren auch in der Bundesrepublik persönlichkeitsverletzende Vorgänge wie in der Odenwaldschule geschehen. Stefan Lauter hob warnend hervor: Missbräuche seien überall, nicht nur in der Diktatur, möglich. Immerhin würde in der heutigen Zeit die ganze Welt mittels sozialer Medien davon erfahren und einschreiten, ehe Brutalitäten im Ausmaß von Torgau aufträten. Insbesondere Humanität und Menschenrechte stehen in unserer Zeit sehr im Vordergrund des kollektiven Bewusstseins der Gesellschaft. Jeder politische oder soziale Fehltritt wird in Windeseile vor unseren Augen offengelegt. Sicherlich betrachtet Herr Lauter die technologischen Fortschritte und deren Auswirkungen auf die heutige Gesellschaft als positiv.

Kollleginnen mit Stefan Lauter und Grit Poppe

Lauters Intention scheint zu sein, unserer Generation durch Schulbesuche seine unauslöschlichen Narben zu zeigen in der Hoffnung, dass wir eine beißende Lehre der Vergangenheit begreifen und durch unser Handeln und auch, wenn erforderlich, mit rigorosem Widerstand gegen Autoritätsmissbrauch jeglicher Art ankämpfen. Seine Seele hat unverhältnismäßige Gewalt ertragen müssen und wir schulden ihm große Dankbarkeit, dass er als Persönlichkeit stark genug ist, seine schmerzhaften Erlebnisse mit uns zu teilen.

Stefan Lauter hat bleibende Eindrücke hinterlassen, auch durch seine allerletzte Bemerkung über die Witwe des ehemaligen SED-Generalsekretärs Erich Honecker: Wenn Frau Honecker sterbe, seien wir eingeladen, auf dem Berliner Alexanderplatz mitzufeiern und auf ihren Tod zu trinken. Dort würde er auch sein, der eingefleischte Rebell.


Kate Dougherty (Q4)
15.08.2014
Final: 14.12.2014