Arbeit gegen das Vergessen

Von Helmut Homfeld

© Helmut Homfeld, julianinnewyork.blogspot.com

Anfang September 2013 erinnerte ich mich an die Frage des jiddischen Dichters Lev Berinki in Israel (2000) wieder in den Sinn, die in etwa so lautete: Wie kommt ein deutscher Pastor dazu, sich mit dem jiddischen Dichter Katzenelson zu beschäftigen? Ich weiß nicht mehr genau, was ich geantwortet habe. Aber wenn ich auf die Jahre nach meiner Kriegsgefangenschaft zurückblicke, wird mir klar, dass mein Interesse am Schicksal der Juden während der Zeit des Nationalsozialismus schon 1953 erwachte, als Lieder von Jochen Klepper im neuen Evangelischen Gesangbuch erschienen. Damals gab es Stimmen, die meinten, Lieder eines Selbstmörders gehören nicht in ein "christliches" Gesangbuch.

Für mein Diakonen-Examen hielt ich Ende Januar 1955 eine Unterrichtsstunde in einer Klasse der Ricklinger Volksschule über das Lied Kleppers "Der Tag ist seiner Höhe nah" (EG 457). Dazu musste ich mich auch näher mit dem Liederdichter befassen.

1956 erschienen die Tagebücher Kleppers "Unter dem Schatten seiner Flügel". Mein Exemplar stammt aus der 2. Auflage (1958). Dadurch erfuhr ich mehr über die Lebenssituation Kleppers, verheiratet mit einer Jüdin, die zwei Töchter in die Ehe brachte. Beim Berliner Kirchentag 1961 (kurz vor dem Mauerbau) nahmen wir an einer Gedenkstunde an dem schlichten Grab mit den drei Holzkreuzen in Nikolassee teil. Die Gedenkrede hielt Kleppers Freund und Begleiter, der Leiter des Eckart-Verlages, Kurt Ihlenfeld.

Auf unserer 2. Israelreise im Oktober 1982 sahen wir die 12 Glasfenster von Marc Chagall in der Synagoge des Hassada-Krankenhauses in Jerusalem und auch den von ihm gestalteten Wandteppich in der Knesset.

Anfang 1989 besuchte uns eine Freundin aus der damaligen DDR. Seit den 60ger Jahren hatten wir eine intensive Verbindung. Sie erzählte, dass sie im Oktober eine Fahrt "Auf den Spuren Marc Chagalls" unter machen würde. Spontan beschlossen wir, uns für diese Reise anzumelden.

Auf dieser Studienreise sahen wir nicht nur viele seiner Bilder (Nizza u.a.) und Glasfenster (Mainz, Sarrebourg, Metz, Zürich u.a.), sondern erfuhren viel über das Leben Chagalls und lernten auch einige seiner jiddischen Gedichte kennen. Diese Eindrücke beschäftigten mich auch weiterhin. Ich hielt Vorträge über sein Leben und Werk. Wir fuhren zu Ausstellungen (Frankfurt a.M., Berlin, Heide u.a.). In der Stadtbücherei Rendsburg bestellte ich das Buch "Poèmes Marc Chagall" (Cramer Editeur, Geneve 1975), die französische Ausgabe seiner Gedichte. Da das Buch nicht ausgeliehen wurde, schrieb ich sie an mehreren Tagen ab und versuchte sie zu übersetzen. Ein Freund verbesserte meine Übersetzung.

1992 erhielt ich einen Reisebericht von einer Gruppe, die nach Witebsk (Weißrussland), den Geburtsort Marc Chagalls gefahren war. Darin waren einige Gedichte Chagalls enthalten, die Lev Berinski von Abraham Sutzkever (einem Freund Chagalls), erhalten hatte. Berinski hatte die jiddischen Gedichte ins Russische übersetzt und veröffentlicht. (Titel: Der Engel über den Dächern, 1989).

Am 3. Nov. 1993 stand in der Landeszeitung, dass ein Lev Berinski als Stipendiat der Landesregierung für einige Monate im Dr. Bamberger Haus lebt und arbeitet. Lev sprach gut Deutsch. Wir verabredeten wir ein erstes Treffen. Daraus entwickelte sich bis heute gute Freundschaft. Ich konnte ihm u.a. helfen sein Essay "Des Seins würdig" für den Katalog der Chagall-Ausstellung in Schloss Gottorf (1994) druckreif zu machen.

1994 nahmen meine Frau und ich an einer Studienfahrt "Auf den Spuren des Polnischen Judentums" teil. Im Oktober befasste sich die Schlesw.-Holst. Landeszeitung mit der Nachdichtung des Poems von Jizchak Katzenelson „Der große Gesang vom Untergang des jüdischen Volkes“, die Wolf Biermann gerade veröffentlicht hatte.

Anfang Dezember 1994 war erfuhr ich im Dr. Bamberger Haus (heute Jüdisches Museum Rendsburg), dass in "DIE ZEIT" einen Artikel über Berinski erschienen war. Ich kaufte mir die Zeitung und fand darin auch eine Rezension über beide Nachdichtungen des Poems von Jizchak Katzenelson: "dos lid funm oisgehargetn jidischen folk". Eine Nachdichtung schuf Hermann Adler (1951, Oprecht Verlag, Zürich), die andere Wolf Biermann (1994, Kiepenheuer &Witsch). Ich kaufte mir die Nachdichtung von Hermann Adler, die 1992 bei der Edition Hentrich neu erschienen war. Beim Vergleich von Transkription und deutschem Text spürte ich, dass es eine sehr freie Übertragung war. Vieles blieb mir noch unklar, weil auch ein Lexikon nicht immer weiterhelfen konnte. Aber meine Interesse an diesem Text war geweckt! Wiederholt fragte ich auch Lev Berinski um Rat.

Im Herbst 1995 war eine Rohfassung fertig. Ein Notebook erwies sich für die weitere Arbeit als unumgänglich, damit ich den Text aufschreiben und verändern konnte. Nun entstand auch der Wunsch, diese Übersetzung auch zu veröffentlichen.

Die EDITION HENTRICH verwies mich an den Kibbuz Beit Lohamei Haghettaot (Kibbuz der Ghetto-Kämpfer) in Israel, von Überlebenden des Warschauer Ghettos (Jizchak Zuckerman, Zivia Lubetkin und Havka Folman Raban u.a.) 1947 gegründet. Auf meine Bitte stellte Lev Berinski im Oktober 1995 den ersten Kontakt her. Uri Aloni, der dort arbeitete, bat mich, zunächst den ganzen Text meiner Übersetzung vorzulegen. Ende Februar 1996 schickte ich die vorläufige Endfassung nach Israel. Von dort kam eine sehr positive Reaktion.

Von der EDITION HENTRICH erfuhr ich, dass es keine rechtlichen Bedenken gegen eine private Veröffentlichung meiner Übersetzung gäbe. Sie schrieb auch: "Vielleicht gelingt es Ihrer Übersetzung, deutlich werden zu lassen, wie denn nun Katzenelson wirklich formuliert und mithin gedacht hat." Zum 21.07.1996, dem 110. Geburtstag Katzenelsons, konnte ich meine Arbeit veröffentlichen. Von den ersten 100 Exemplaren schickte ich das erste Exemplar nach Israel. Ein weiteres Exemplar überreichte ich am 21. Juli 1996, in Anwesenheit der Lokal-presse, dem Dr. Bamberger-Haus, der ehemaligen Synagoge in Rendsburg.

Im Laufe der Jahre habe ich immer wieder Verbesserungen des Textes, der Erklärungen und des Erscheinungsbildes vorgenommen. 2003 wurde die Größe von DIN A4 auf DIN A5 geändert und 16 Farbfotos von Skulpturen "Menschen im Warschauer Ghetto" von Gottfried Reichel, Pobershau, Erzgebirge, hinzugefügt. Ab Mai 2010 druckte ich Text und Fotos (schwarz/weiß) selber aus. Ab Januar 2015 erscheinen die Exemplare, wieder mit Farbfotos. Insgesamt sind bis heute über 1.175 Exemplare hergestellt worden.

Am 30. Jan. 1997 erhielt einen Brief aus Dresden. Der Absender hatte von Lev Berinski meine Anschrift bekommen. Ich erhielt von ihm den Zeitungsbericht über Ruth Goldberg-Adler, die ihre Geburtsstadt Dresden besucht hatte. Sie war Katzenelson im Internierungslager Vittel begegnet und durfte, da sie einen Pass für das Britische Mandatsgebiet besaß, dorthin zurückfahren. Sie versteckte ein Exemplar seines Poems im Koffergriff. Ich nahm Verbindung zu ihr in Israel auf. Leider brach der Kontakt einige Zeit nach unserer Israel-Fahrt 2000 ab.

1998 war Uri Aloni in Hamburg. Wir vereinbarten ein Treffen in seinem Hotel. Dort fragte ich ihn, ob es noch weitere Texte von Katzenelson gäbe. Da die Texte vergriffen waren, bat ich ihn, mir eventuell einen zu fotokopieren. Einige Wochen später schickte er mir das "Vittel diary" von Katzenelson mit dem Begleittext: "Nur für dich, ich konnte den Archivar überzeugen, dass er noch ein Exemplar abgeben müsse".

Nun begann ich diesen englischen Text zu übersetzen. Freundlicherweise erklärte sich einen Nonne bereit, die meine Frau im Kloster Marienrode getroffen hatte, mir bei der Übersetzung zu helfen. Meine Fragmente verbesserte und ergänze sie. Uri begleitete diese Arbeit von Israel aus. Er bat Yonat Sened (Kibbuz Revivim), einer Schülerin Katzenelsons im Untergrund-Gymnasium des Warschauer Ghettos, um ein Vorwort für meine Übersetzung und ließ ihren Text auch ins Deutsche übersetzen. Mit finanzieller Unterstützung von verschiedenen Seiten druckte ein Verlag 1.000 Exemplare. die im Juni 1999 erschienen. Schon 2000 ging der Verlag in Insolvenz. Ich konnte noch ça 340 Exemplare vor dem Reißwolf retten (gegen die Lagergebühr und Versandkosten). Später übernahm der Metropol Verlag einen Teil der Bücher. Nachdem alle Bücher vergriffen waren, habe ich 2008 eine etwas gekürzte Fassung privat veröffentlicht.

Im März 2000 machten meine Frau und ich eine private Reise nach Israel, weil wir von verschiedenen Überlebenden der Schoah eine Einladung hatten. Unerwartet war für uns die Begegnung mit Havka Folman Raban in Beit Lochamei Haghettaot. In den Aufzeichnungen hat Katzenelson sie namentlich erwähnt, weil ihn diese Schülerin im Untergrundgymnasium des Warschauer Ghettos besonders beeindruckt hatte. Ihre Lebenserinnerungen waren gerade ins Englische übersetzt worden. Anfang 2001 erhielt ich zwei Bücher der englischen Ausgabe aus Israel. Ich begann ich mit der Übersetzung. Wieder fand ich jemand, der bereit war, meinen Text zu ergänzen und zu korrigieren. Im Metropol Verlag erschien 2003 das Buch "Sie leben noch immer mit mir" mit einem Vorwort von Arno Lustiger. Die Verbindung mit Havka besteht bis heute. Sie wurde am 19. April 1924 geboren.

Durch meine Übersetzung des Poems und der Aufzeichnungen aus dem Internierungslager Vittel entstanden viele neue Kontakte. Hier nur die wichtigsten: Julian Voloj, Münster, hatte auch den Text übersetzt und eine Magisterarbeit geschrieben. Nora Gottschalk schrieb eine Seminararbeit. Prof. Günter Berger, Dötlingen, erbat meine Übersetzung, um Texte aus dem ersten Lied zu vertonen. Gerben Dijkstra, Niederlande, verfasste nach meinem Text eine holländische und Zoltán Halasi, Budapest, eine ungarische Übersetzung, die er in einem Buch 2014 veröffentlichte.

In der Nachdichtung des Poems von Hermann Adler, die ich mir gekauft hatte, war in der kurzen Biographie über ihn zu lesen: "...1941 Wilnaer Ghettohäftling. Mitglied einer Widerstands- und Rettungsgruppe. Mit Hilfe von Feldwebel Anton Schmid wurden 350 Todeskandidaten aus dem Ghetto gerettet...."

Als wir 2000 in Israel waren, zeigte uns Uri Aloni auch die Gedenkwand  für die "Gerechten unter den Völkern" im Kibbuz. "Da gibt es auch den Abschiedsbrief eines deutschen Feldwebels", sagte Uri. "Feldwebel Schmid?" fragte ich spontan zurück. "Woher kennst Du den Namen?" fragte Uri völlig überrascht.

Am Abend des 21. März 2000 kehrten wir von dieser bewegenden Reise zurück. Am nächsten Morgen lasen wir in der Landeszeitung: "Rüdel-Kaserne wird in Feldwebel Schmid Kaserne umbenannt". Ich rief gleich Uri in Israel an, um ihm zu sagen, dass wir gut wieder zu Hause angekommen sind. Auf meine Mitteilung von der geplanten Umbenennung, sagte er nur, völlig überrascht: "Das kann doch nicht wahr sein!"

Es gab auf diese Meldung viele, meist negative, Reaktionen. Ich setzte mich mit der Kaserne in Verbindung und bekam ich eine Einladung für die Umbenennung am 8. Mai 2000.

Im Laufe der nächsten Jahre schrieb ich mehrmals Leserbriefe, weil die Diskussionen über die Namensänderung nicht aufhörten. Wann und wie ich zu dem Militärhistoriker Prof. Dr. Wolfram Wette Kontakt bekam, weiß ich nicht mehr. Aber er bat mich, ihm alle Zeitungsmeldungen über die Kaserne zu schicken. Nach Schließung der Kaserne 2010 wurde der NDR auf mich aufmerksam (durch meine Leserbriefe zu diesem Thema) und bat mich um ein Interview zum Thema "Feldwebel Schmid". Dies fand am 9. August 2011 in unserer Wohnung statt und wurde am 28. August ("Zeitreise") im Schlesw.-Holst.-Magazin gesendet.

Prof. Wette hielt am 23. Februar 2012 einen Vortrag im Jüdischen Museum Rendsburg über Feldwebel Schmid. Ich bin dankbar für diese Erinnerungsarbeit, durch die so viele neue Kontakte entstanden sind. Für mich wird die Arbeit "Gegen das Vergessen" auch mit meinem 90. Geburtstag nicht beendet sein, denn mir ist wichtig, was in dem Roman von Tessa de Loo "Die Zwillinge" steht:

„Und wenn sie darüber schweigen würde, ginge alles verloren, als hätte es sich niemals ereignet!“


Februar 2016, Helmut Homfeld