Persönliche Erinnerung an zwei Begegnungen mit Arno Lustiger

von Stefan Braun, Duisburg

Arno Lustiger (2005), Foto: Holger Noß

Das erste Mal, als ich den  Namen Arno Lustiger zur Kenntnis nahm, war im Jahr  2003 oder 2004. Nachdem ich, damals 14 oder 15 Jahre alt, Leon Uris' Roman “Mila 18” gelesen hatte, begann ich mich näher für  den jüdischen Widerstand zu interessieren.
In der örtlichen Stadtbibliothek griff ich zufällig ein Buch "Zum Kampf auf Leben und Tod" aus dem Regal. Arno Lustiger schaffte es in diesem Buch, sehr an einzelnen Personen interessiert, bekannten und weniger bekannten Widerstandskämpfern ein Gesicht zu geben, zugleich die unterschiedlichen Einzelschicksale in den Gesamtzusammenhang einzuordnen. Neben dem Inhalt beeindruckt mich die Darstellungsform heute noch, denn er schrieb nicht, wie heute so oft üblich, für die kleine "scientific community" der Unter-Unter-Wissenschaft. Seine Bücher kann vielmehr, was gerade bei diesen Themen wichtig ist, jeder Interessierte zwischen 14 und 90 Jahren lesen, mit oder ohne historisches Vorwissen.
Da mir seine Arbeiten zum jüdischen Widerstand, zum Spanischen Bürgerkrieg, aber auch seine eigene Biografie imponierten, bat ich meinen Vater, aktiv in der Arbeitsgruppe Rhein-Ruhr-West von Gegen Vergessen – Für Demokratie e.V., ihn nach Duisburg einzuladen. Nachdem Arno Lustiger zweimal schon vereinbarte Termine wieder absagen musste, konnten wir ihn endlich am 29. September 2005 in Duisburg begrüßen. Obwohl damals schon 81 Jahre alt, war ihm sein Alter kaum anzumerken.
Morgens veranstaltete meine damalige Schule, die durch ihre Unterstützung die Einladung erst ermöglicht hatte, für die älteren Schüler ein Zeitzeugengespräch. Sehr eindringlich berichtete Arno Lustiger aus der Zeit des Nationalsozialismus und ging auf die Fragen von Schülern ein. Als dann ein Schüler die äußerst taktlose Behauptung nahelegte oder aufstellte, dass KZ-Häftlingen keine Nummern eingebrannt worden sei, ließ sich der freundlich-zurückhaltend auftretende alte Herr nicht von dem Jugendlichen provozieren oder ansonsten aus der Fassung bringen, sondern antwortete ihm  bestimmt und resolut, indem er dem Auditorium seine Nummer zeigte. Am frühen Abend schloß sich für mich – und einige andere – eine Mitgliederversammlung der Regionalen Arbeitsgruppe von Gegen Vergessen – Für Demokratie e.V. im Jüdischen Gemeindezentrum in Duisburg an. Anschließend sprach Arno Lustiger auf einer öffentlichen Veranstaltung unserer Vereinigung in der Synagoge über die künftigen Aufgaben im Kampf gegen den Antisemitismus.
Nach über 11 Stunden und 3 Veranstaltungen war für mich der Marathon vorbei, und ich ging mit einem gewissen Stolz nach Hause. Gerade 16 Jahre alt, hatte ich etwas in Gang gebracht. – Die Überraschung kam jedoch erst am Folgetag.
Meinen Eltern hatte ich mit gehöriger jugendlicher Naivität schon des längeren in den Ohren gelegen, daß die fünfbändige offizielle Geschichte des Allgemeinen Jüdischen Arbeiterbund (Bund) vom Jiddischen ins Deutsche übersetzt werden müsse. Und ganz sah ich mich der Aufgabe alleine nicht gewachsen.
Mein Vater hatte die Möglichkeit, Arno Lustiger auf diese Idee anzusprechen – und der gab dem so erst einmal unrealistischen Spleen eines Schülers eine Wendung ins Machbare. Meinem Vater schlug er  vor, ich solle doch  erst einmal die Inhaltsverzeichnisse der fünf Bände  übersetzen, um ggf. davon ausgehend später erst einmal zentrale Passagen zu übersetzen. Ferner erwähnte er in diesem Gespräch die Schwierigkeiten, auf die er stieß, eine kleinere Ausstellung (des YIVO Institute for Jewish Research, New York) zum 100-jährigen Gründungsjubiläum des Bundes auf Deutsch zugänglich zu machen.
Einige Monate später traf ich Arno Lustiger ein zweites Mal in Dortmund anläßlich einer Veranstaltung der Dortmunder Gruppe von “Gegen Vergessen – Für Demokratie e.V.” zu einem ersten persönlichen Gespräch. Zwischenzeitlich hatten wir ihm die übersetzten Inhaltsverzeichnisse zugesandt und er hatte die Übersetzung für gut befunden.
In Dortmund bat ich ihn um die Begutachtung  eines Readers zum Warschauer Ghettoaufstand, den ich für den Gebrauch örtlicher Schulen anfertigt hatte. Ich war ziemlich unsicher, denn die Quellenlage war recht dünn und zudem von politischen Konflikten geprägt. Nach dem Gespräch fühlte ich mich sicherer. Arno Lustiger war vor allem meine Erwähnung des rechtskonservativen ZZWs, neben dem ZOB, eine weitere Widerstandsorganisation im Aufstand wichtig – auch, wenn vor allem links orientierte Historiker dessen  Bedeutung gerne unterschlagen
Während dieser zwei Begegnungen lernte ich Arno Lustiger als einen hochgebildeten, zuvorkommenden, freundlichen und dennoch in der Sache im positiven Sinne resoluten Menschen kennen. Er war im wahrsten Sinne Historiker Ein Wissenschaftler, dem es um den wahrheitsgetreuen Bericht und nicht eine von politischen Präferenzen getragene Darstellung des Vergangenen ging. 
Gerne hätte ich Arno Lustiger, der mich als Historiker und Mensch bei meiner Auseinandersetzung mit der jüdischen Arbeiterbewegung stark beeinflusste, meine Arbeit zum Allgemeinen jüdischen Arbeiterbund in Deutschland, die ich in diesen Tage fertigstelle, zukommen lassen. Leider verstarb der Historiker des Jüdischen Widerstands am 15. Mai 2012.
Nur eins bleibt hinzuzusetzen: Da, wo es geboten oder zumindest angebracht ist, sollten Pläne von Verstorbenen als Auftrag verstanden werden. Die Ausstellung zum 110. Gründungstag des Arbeiterbundes ist m.E. ein solcher Fall. Das geringere Problem dürfte die Finanzierung sein, aber zehn Ausstellungsorte mit angemessenen Repräsentationsmöglichkeiten, könnte Schwierigkeiten bereiten. Vielleicht weiß jemand da einen Weg?