Hans-Peter Klein: "Die Revolution rollt – nach Kassel"

5. November 2018, 12:30 Uhr, Hauptbahnhof Kassel. Etwa 200 Menschen haben sich in der Eingangshalle des Kasseler Hauptbahnhofs eingefunden, um den Worten eines Matrosen zu lauschen, der von den Ereignissen in Kiel vom November 1918 berichtet.

Der Verein Weimarer Republik e.V.“ hat das Projekt „Die Revolution rollt“ entwickelt, um damit an die Ereignisse vor 100 Jahren zu erinnern, die in Deutschland grundlegende politische und gesellschaftliche Veränderungen brachten und in ihrer Bedeutung als Aufbruch in die Demokratie einen wichtigen Beitrag zu unserer Demokratiegeschichte darstellen. Die revolutionären Ereignisse, die sich in den Hafenstädten Kiel und Wilhelmshaven an dem sinnlosen Sterben im Krieg und an den sozialen und wirtschaftlichen Notlagen und Ungleichheiten der Bevölkerung entzündeten, verbreiteten sich über das ganze Land. Die Eisenbahn spielte dabei eine wichtige Rolle: Die Revolutionäre reisten von Bahnhof zu Bahnhof, um die Forderungen der Revolution zu verkünden und voranzutreiben.

Um dies erfahrbar zu machen und dabei außergewöhnliche Darstellungs- und Aktionsformen anzuwenden, reisten Anfang November 2018 Schauspieler und Mitarbeiter des Vereins Weimarer Republik e.V.“ auf insgesamt 17 Routen durch Deutschland und traten in Form historischer Flashmobs in über 40 Bahnhöfen auf. Unterstützt wurden sie dabei von Komparsen vor Ort, die die Redner durch Zurufe unterstützten und die Auftritte lebendig machten.

Als Kooperationspartner beteiligten sich an der Aktion in Kassel das Archiv der deutschen Frauenbewegung, die Regionale Arbeitsgruppe Nordhessen-Südniedersachsen des Vereins Gegen Vergessen – Für Demokratie e.V.  und die Volkshochschule Region Kassel. Schon im Sommer wurden erste Kontakte geknüpft, dem folgten Treffen und Gespräche zur Vorbereitung. Dabei ging es etwa um die Auswahl eines geeigneten Ortes, die Suche nach Komparsen, um Öffentlichkeitsarbeit, Kooperation mit Veranstaltern weiterer Projekte zur Novemberrevolution in Kassel und das Ansprechen von Personen des politischen Lebens sowie Gremien und Parteien. Darüber hinaus wurden die lokal- und regionalgeschichtlichen Ereignisse der Novemberrevolution in Kassel recherchiert und in einem Flugblatt dokumentiert, das während der Aktion im Bahnhof verteilt wurde.

Bereits im Januar 1918 hatten in den Kasseler Rüstungsbetrieben über 10.000 Arbeiterinnen und Arbeiter gestreikt und sich in einer Versammlung den politischen und wirtschaftlichen Forderungen ihrer Berliner Kollegen angeschlossen. Die revolutionären Ereignisse entzündeten sich in Kassel am 9. November, als etwa 200 Matrosen aus Köln am Kasseler Hauptbahnhof eintrafen, die rote Fahne hissten, Soldaten entwaffneten und Militärgefangene aus mehreren Gefängnissen befreiten. Leitende Funktionäre der SPD hatten damit zwar nicht gerechnet, aber bereits am 8. November einen Forderungskatalog entwickelt und eine Versammlung auf dem Friedrichsplatz angekündigt. Die Soldaten bildeten gemeinsam mit Sozialdemokraten und Gewerkschaftern einen provisorischen Arbeiter- und Soldatenrat, dessen Leitung aus drei MSPD-Funktionären, zwei USPDMitgliedern und zwei Soldaten bestand. Der Rat der Stadt und die Behörden unterstellten sich dem Arbeiter- und Soldatenrat mit der Maßgabe, die Ordnung in der Stadt aufrechtzuerhalten und den Schutz des Eigentums zu gewährleisten. Daneben initiierte der provisorische Rat auch eine Zusammenarbeit mit dem Militär, das sich der Kontrolle des Rates unterstellte. In der Versammlung auf dem Friedrichsplatz wurde der provisorische Arbeiter- und Soldatenrat widerspruchslos als Exekutive bestätigt. Die konstituierende Sitzung fand am 12. November 1918 statt. Die Delegierten wurden allerdings nicht in den Betrieben gewählt, sondern von den sozialdemokratischen Partei- und den Gewerkschaftsvorständen nominiert. Dabei überwogen in der Leitung des Rates MSPD-Mitglieder, der Rat verfolgte insgesamt eine gemäßigte Politik. Ruhe, Ordnung und Sicherheit standen oben an. Ein starkes Gegengewicht und letztendlich auch Nährboden der Konterrevolution bildete direkt danach am 13. November die Niederlassung der Obersten Heeresleitung unter der Leitung von Generalmarschall Paul von Hindenburg und Generalquartiermeister Wilhelm Groener in Kassel-Wilhelmshöhe.

Der Auftritt des Schauspielers Gregor Nöllen als Matrose bei dem Flashmob im Kasseler Hauptbahnhof am 5. November 2018 wurde von einer Gruppe mitspielender Komparsen unterstützt. Die Kasseler Schauspielerin Sabine Wackernagel erweiterte den Auftritt durch einen Beitrag zur Rolle der Frauen in der Revolution. Zu den zahlreichen Besuchern gehörten auch Ausbildungskräfte und eine Referendargruppe vom Studienseminar für Gymnasien in Kassel sowie zwei Schulklassen einer Kasseler Gesamtschule und eines Gymnasiums. Für sie war die Aktion im Hauptbahnhof mehr als Geschichtsunterricht im Klassenzimmer. Es war erlebbare und erfahrbare Geschichte aus der Zeit vor 100 Jahren, als in Deutschland die Demokratie erkämpft wurde: anschaulich dargestellt und lebendig vorgetragen. Die Ereignisse vom November 1918 sind nicht nur Bestandteil unserer Erinnerungskultur und Demokratiegeschichte, sie machen auch deutlich, dass demokratische Grundrechte nicht selbstverständlich sind, sondern durch Engagement und mit Opfern erkämpft wurden und immer wieder aktiv gegen Angriffe verteidigt werden müssen. Neben dieser Veranstaltung finden in Kassel noch bis Ende April 2019 zwei Ausstellungen im Stadt- und im Landesmuseum sowie mehrere Vorträge und Filmvorführungen statt.

Hans-Peter Klein ist Sprecher der Regionalen Arbeitsgruppe Nordhessen-Südniedersachsen von Gegen Vergessen – Für Demokratie e.V.

Erschienen in:Opens internal link in current window Zeitschrift Gegen Vergessen - Für Demokratie Ausgabe 99/2019