„Das Leiden der anderen“

Gedenkansprache zum Volkstrauertag 2010

Die zentrale Gedenkfeier „zu Ehren der Opfer von Krieg und Gewalt“ wird alljährlich veranstaltet von der Stadt Münster, dem Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge und der Gemeinschaft der Deutschen Soldatenverbände (zu unterscheiden vom Ring deutscher Soldatenverbände). 2010 hielt Winfried Nachtwei, MdB a.D. und Vorstandsmitglied von Gegen Vergessen – Für Demokratie e.V., die Gedenkansprache, die wir ungekürzt wiedergeben.


Guten Tag meine Damen und Herren, liebe Schülerinnen und Schüler,

ich begrüße unter Ihnen die Angehörigen verschiedener Nationalitäten und mehrerer Generationen:
- die Alten unter uns, die selbst den Weltkrieg miterlebt haben;
- die Nachkriegsgeneration, zu der ich das unverdiente Glück habe zu gehören;
- die Jüngeren, um Generationen vom Weltkrieg entfernt, viele gewöhnt an Frieden, als wäre er selbstverständlich.
Vielen Dank Ihnen, den Schülerinnen und Schülern vom Paulinum und der Marienschule, für Ihre nachdenklichen, aufwühlenden, lebensfrohen Beiträge.
Den Veranstaltern danke ich für das Vertrauen und die Herausforderung, hier spre-chen zu dürfen. Vor zwanzig Jahren wäre das undenkbar gewesen. Aber seitdem hat sich einiges geändert, geöffnet, auf allen Seiten. 

Der Volkstrauertag galt mal als Heldengedenktag, wo alle nur Opfer waren, wo der Krieg und der Krieger verklärt wurden. Das ist, so meine ich, lange her.
Im Mittelpunkt steht das menschliche Erinnern: an die Frauen und Männer, Kinder und Alten, die im Krieg und durch politische Gewalt erschossen, zerfetzt, verbrannt, vergast, durch Hunger, Kälte, Zwangsarbeit ermordet wurden.
Im Mittelpunkt steht die menschlich-politische Frage nach dem Warum und den Konsequenzen, stehen Ermutigung und Stärkung von Friedenswillen – und nicht mehr falsche Sinngebung, wo das Sterben sinnlos, ja im Rahmen großer Staatsverbrechen geschah.


Opfer der Vergangenheit

Die Abermillionen Opfer von Krieg und politischer Gewalt, derer heute gedacht wird, sind wie ein düsteres Meer, auf dem sich der Blick verliert, jenseits aller Vorstel-lungskraft. Deshalb will ich den Blick auf einzelne Gruppen lenken.
Wer über die Promenade geht, radelt, joggt, begegnet Kriegerdenkmälern alle paar hundert Meter. Bei genauerem Hinsehen: Was für ein Kontinent war das Europa des 19. und der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts!
Zum Beispiel das Infanterieregiment 13, beteiligt am deutsch-dänischen Krieg 1864, dem Ersten Weltkrieg in der Marne-Schlacht, bei Verdun – diesen unermesslichen Menschenmühlen. Zum Beispiel das Infanterieregiment, später Panzergrenadierre-giment 79, Teil der 16. Panzerdivision: beteiligt am Krieg gegen die Sowjetunion, u.a. an der Kesselschlacht von Kiew, bei der Hunderttausende Gefangene „gemacht“ wurden, von denen ein Großteil in deutscher Kriegsgefangenschaft starben. Einige Tage, wenige Wochen hinter den Fronttruppen rückten die Einsatzkommandos von Sicherheitspolizei und SD vor, die Organisatoren und Vollstrecker des Massenmordes an den russischen, ukrainischen und baltischen Juden.
Die 16. Panzerdivision erreichte im August die Wolga nördlich Stalingrad. Sie ging Anfang 1943 im Kessel von Stalingrad unter. In ihrem blinden Gehorsam gegenüber dem „Führer“ wurden Generale zu den Henkern der eigenen Soldaten. Nur 128 Überlebende der Division kehrten später in die Heimat zurück.
Insgesamt wurden aus dem Wehrkreis VI (Rheinland und Westfalen, Sitz des Be-fehlshabers im heutigen Korps-Gebäude am Hindenburgplatz) 14 Divisionen in den Krieg gegen die europäischen Nachbarn geschickt. Münster war nicht nur die Stadt des Westfälischen Friedens!

Ein anderer, viel jüngerer Ort der Erinnerung, die Stele an der Kreuzung Warendorfer Straße/Kaiser-Wilhelm-Ring: Hier war im Dezember 1941, vor 69 Jahren, im Lokal Gertrudenhof die Sammelstelle für 400 jüdische Frauen, Männer und Kinder aus dem Münsterland, die früher mal Nachbarn von nebenan gewesen waren. Sie wurden nach Riga deportiert, im „Reichsjudenghetto“ zusammengepfercht, ausgebeutet, gequält, viele von ihnen im Wald von Bikernieki erschossen, verscharrt, später verbrannt. Fast fünf Jahrzehnte war das völlig vergessen!
Vor neun Jahren entstand mit Hilfe des Volksbundes Deutsche Kriegsgräberfürsorge in Bikernieki eine würdige Gedenkstätte. Beigeordneter Dr. Heinrichs und ich hatten Gelegenheit, diesen Ort im Juli zusammen mit Vertretern von 23 anderen deutschen Städten zu besuchen.
An dieser Stelle erinnere ich an die anderen wehrlosen Opfer des Naziterrors, die „Euthanasie“-Opfer, Sinti und Roma, Kommunisten, Sozialdemokraten, Gewerk-schafter, Homosexuelle, Widerständler, Deserteure, um nur einige Gruppen zu nen-nen. 


Opfer heute

Auch ich denke da zuerst an Afghanistan. Im Auftrag des Parlaments und im Rah-men des Völkerrechts sind dort auch deutsche Soldaten und Polizisten eingesetzt, inzwischen in Teilen des Einsatzgebietes konfrontiert mit einem Guerillakrieg.
Ich denke an die drei Bundespolizisten, die im August 2007 in Kabul durch einen Sprengstoffanschlag ermordet wurden. Ich denke an die Gedenkmauer im Feldlager Kunduz, wo Metallplaketten an diejenigen Bundeswehrsoldaten erinnern, die in Hinterhalten und bei Anschlägen getötet wurden. Nach vielen Besuchen vor Ort, nach Gesprächen mit vielen der jungen Soldaten dort ist mir jeder dieser „Sicherheitsvorfälle“ nahe.
Ich denke auch an die Opfer des Luftangriffs von  Kunduz am 4. September letzten Jahres. Der aus Münster stammende STERN-Reporter Christoph Reuter gab ihnen ein Gesicht.
Ich denke an eine ganz andere Weltgegend, den vergessenen Ostkongo. Vor zwei Jahren war ich dort, eine herrliche Landschaft, wie ein Paradies. Aber es ist die Hölle auf Erden für Frauen. Massenvergewaltigungen sind dort ständige Kriegstaktik. Seelischer Massenmord.

Diese Frauen sind Mahnung, über die Toten nicht die überlebenden Opfer zu ver-gessen, die Traumatisierten,dort und erstmalig und zunehmend auch unter uns, junge Leute. All zu oft wurde und werden sie allein gelassen, denen die Gewalt und der Krieg nicht aus dem Kopf weichen will, nicht enden wollende Qualen.


Tag der Trauer, aber auch der Verstörung, ja des Zorns

Die zahllosen Opfer waren und sind kein Naturereignis, sie sind menschengemacht:
- durch brutalste Macht- und Ausbeutungspolitik, wo Krieg selbstverständliches Mittel der Politik war;
- durch hoch organisierte, bürokratische Unmenschlichkeit und ideologische Verblendung;
- durch systematische Lüge und zynischen Missbrauch von Kameradschaft;
- durch ein Umfeld von Gleichgültigkeit und Wegesehen;
- insgesamt durch einen Zusammenbruch der Mitmenschlichkeit.

Fragen drängen sich auf,
- was ganz normale Männer zu Mördern an Wehrlosen werden ließ;
- was anderen die Kraft gab, zu helfen, sich mitmenschlich zu verhalten, auszuscheren, gar sich zu widersetzen.        


Lernen aus der Geschichte?

Da kann man Zweifel haben. Oft wirkt auch Erinnerung eher vergiftend als versöh-nend.
Trotzdem, es wurde etwas gelernt:
- Die Vereinten Nationen mit ihrer Charta, die den Krieg als Geißel der Menschheit brandmarkt, die Verpflichtung der Staaten auf kollektive Friedensicherung.
- Unsere Verfassung, das Grundgesetz, die Unantastbarkeit der Menschenwürde, der Friedensauftrag, die Grundrechte.
- Die europäische Integration: Jahrzehnte des Friedens auf dem Kontinent der Kriege! Welche Generation vor meiner hatte das Glück, so was zu erleben?
- Die Einbindung der Streitkräfte, der Bundeswehr in Rechtsstaat und Demokratie, die Absage an blinden Gehorsam, die militärische multinationale Integration. Dass es seit mehr als zehn Jahren in Münster ein Deutsch-Niederländisches Korps gibt, einen gemeinsamen Verband ehemaliger Kriegsgegne.  Im Alltag gewöhnt man sich dran, aber aus historischer Per-spektive ist das unglaublich.

Allerdings: Das alles ist kein Grund zur Selbstzufriedenheit. Frieden ist keine Selbstverständlichkeit!  
Kriegerische und illegale Gewalt kommen heute in anderen Formen daher.
Bloßer Friedenswunsch reicht da nicht.
HINSEHEN ist das erste.
Frieden, also Gewaltverhütung, Schutz vor illegaler Gewalt, friedliches Zusam-menleben – sie brauchen Friedensfähigkeiten, Fachleute, Friedensinvestitionen.
Frieden ist eine Aufgabe, die nur gemeinsam und kooperativ angegangen werden kann, gerade in Zeiten der Globalisierung von Unsicherheit und Unfrieden.

Wir als Einzelne können das nicht schaffen. Aber wir können dazu beitragen:
An einem Tag wie heute Verständnis für das Leiden der anderen entwickeln – so sagte es am 9. November Alfred Grosser in der Frankfurter Paulskirche. Die Jugendarbeit des Volksbundes Deutscher Kriegsgräberfürsorge setzt genau das mit seinen Workcamps in die Tat um.
Im Alltag Verantwortung für Mitmenschlichkeit. Jeder an seinem Platz.
Man braucht kein Held zu sein, um sich mitmenschlicher zu verhalten.