„Als Opfer kann ich nicht länger schweigen vor Scham.“

Zeitzeuge Ibrahim Arslan diskutiert mit Jugendlichen in Coesfeld

Erstmals sprach der 30-jährige Ibrahim Arslan (l.) in einer Schule über das Leid, das 1992 der Anschlag rechtsextremer Brandstifter in Mölln über seine Familie und ihn gebracht hatte. Foto: Villa ten Hompel/ Stefan Querl

von Willi Haentjes und Stefan Querl

Ibrahim Arslan hat als Kind 1992 nur knapp den Brandanschlag von Mölln überlebt. Der 30-Jährige folgte jetzt erstmals einer Einladung von „Gegen Vergessen – Für Demokratie“ in eine Schule. Er diskutierte am 19. März im Münsterland mit Pädagogikkurs Ursachen und Folgen von Gewalt.

Der Junge, der überlebt hat, ist heute ein Mann. Ein türkischstämmiger Deutscher, der als Opfer rechter Gewalt kein Blatt vor den Mund nimmt und Forderungen stellt. Das Heriburg-Gymnasium hat ihn nach Coesfeld eingeladen. Erstmals spricht er in einer Schule als „Zeitzeuge“, jedoch zur jüngsten deutschen Vergangenheit, als die Serie rechtsextremer Gewalt im Lande nicht abriss. Ibrahim Arslan war sieben, als am 23. November 1992 das Haus der Familie in Mölln von den Brandstiftern Michael Peters und Lars Christiansen mit Molotowcocktails angezündet wurde. Eng an den Kühlschrank in der Küche gekauert wird Ibrahim von der Feuerwehr gerettet – für seine Oma Bahide (51), Cousine Ayşe (14) und seine Schwester Yeliz (10) kommt jede Hilfe zu spät.

Noch in der Tatnacht 1992 rufen die Neonazis in Schleswig-Holstein selbst bei der Polizei an: „Wir haben ein Haus in der Mühlenstraße angezündet. Heil Hitler!“ Dennoch kursieren in Mölln Gerüchte, Ibrahims Vater Faruk hätte seine Familie in der Wohnung eingesperrt und dann das Haus angezündet. „Diese Umkehrung von Täter- und Opferperspektive ist keine Erfindung des NSU-Terrors“, sagt Ibrahim Arslan. Es sei ein gesellschaftlicher „Reflex“, der bei Übergriffen mit rechtsextremen Motiven oft auftrete. „Auch in Köln ermittelte die Polizei erst in die falsche Richtung.“

Die Täter von Mölln wurden später zu langen Haftstrafen verurteilt, sind aber längst wieder auf freiem Fuß. Die Opfer sind weiter gefangen in ihrer Geschichte. „Ich bin eines der Opfer“, betont Arslan. „Aber ich kann nicht länger schweigen vor Scham.“

Deshalb ist er der Einladung von Gegen Vergessen – Für Demokratie ins Heriburg-Gymnasium Coesfeld im Münsterland gefolgt. In der Kreisstadt spricht er mit dem Grund- sowie dem Leistungskurs Pädagogik unter Leitung von Monika Bulla. Horst Wiechers, Regionalsprecher des parteiübergreifenden Netzwerks GVFD, und Stefan Querl, stellvertretender Leiter der Villa ten Hompel, ermöglichten vor Ort das Forum gegen Fremdenhass. Sie empfingen den Gast mit den Oberstufenschülerinnen und mit Moderator Benjamin Rensch von der Regionalarbeitsgruppe Münsterland. Die NS-Erinnerungsstätte Villa ten Hompel, Schulleiter Christian Krahl und sein Stellvertreter Hermann Rosen kümmerten sich extra mit um den passenden Rahmen für die Diskussionsrunde. Sie hinterließ tiefen Eindruck bei den jungen Erwachsenen in Coesfeld. Nach Ostern werden sie zu ihren Abiturprüfungen antreten. Vor dem Abschied aus dem Unterrichtsalltag nahmen sie sich bewusst nochmals Zeit für eine Reflexion und für diese Auseinandersetzung mit Rechtsextremismus, den Ursachen und den Folgen. Mehrfach sprach Ibrahim Arslan öffentlich, bis dato aber nie mit Schülerinnen und Schülern. Ihre Fragen sprudelten nur so.

Manchmal, wenn Ibrahim über die Geschehnisse der Nacht damals redet, muss er laut Husten. Das dumpfe, trockene Geräusch aus seiner Kehle ist traumabedingt. Seine Frau, seine zwei Söhne, er selbst – alle haben sich daran gewöhnt. Je näher aber immer im Herbst der Jahrestag des Anschlags rückt, desto heftiger wird es. „Wir sind die Hauptzeugen. Es ist unsere Geschichte.“ Und die offen zu erzählen, fällt ihm nicht leicht. Sie zu verdrängen, sei aber keine Option, so Arslan, im Gegenteil. „Wenn wir unsere eigene Geschichte vergessen, spricht irgendwann keiner mehr darüber“, mahnt er mehrfach. „Das darf nie geschehen. Nie.“