Jugendguides und NS-Verbrechen vor Ort

von Wolfgang Sannwald

Ausbildung von Jugendguides in der Gedenkstätte KZ-Außenlager Vaihingen/Enz. Foto: Wolfgang Sannwald

Viele Gedenkstätten befinden sich derzeit in einem Umbruch, weil es immer weniger Zeitzeugen für Nazi-Verbrechen gibt, weil auch idealistische Gedenkstättengründer irgendwann in den Ruhestand gehen und weil sich die Erinnerungskultur der Bundesrepublik Deutschland wandelt. Letztlich steht unsere gesamte Erinnerungskultur vor einem massiven Generationswechsel. „Da muss…“, sagt Michaela, eine 23-jährige Tübingerin, „die junge Generation eigentlich weiter machen… Und jetzt kommt etwas Neues. Und da will ich auf jeden Fall Teil davon sein.“ Michaela ist eine von 19 Jugendlichen im Alter von 16 bis 23 Jahren, die sich 2012 in Baden-Württemberg zu Jugendguides qualifizieren ließen. Schon jetzt zeichnet sich eine rege Nachfrage nach Angeboten der Jugendguides ab.

Nachgefragt wird letztlich das, was die Jugendguides besonders kompetent vermitteln können, nämlich ihre eigene Motivation. Während ihr Expertenwissen zu den einzelnen Gedenkstätten noch wächst, sind sie schon jetzt Mittler über Generationenschwellen hinweg. Der Motivation als Grundlage von Gedenkarbeit galt die besondere Aufmerksamkeit des Kreisarchivars und der Kreisjugendreferentin des Landkreises Tübingen, die das Projekt „KZ-Gedenken und Menschenrechte vor Ort“ 2012 federführend konzipierten und koordinierten, in enger Kooperation mit der Gedenkstätte Hailfingen-Tailfingen, der Arbeitsgemeinschaft Jugendfreizeitstätten Baden-Württemberg, dem Gedenkstättenverbund Gäu-Neckar-Alb und der örtlichen Sektion von Gegen Vergessen – Für Demokratie e.V. Ziel war die Gewinnung und Qualifizierung von Jugendlichen für das Thema, im außerschulischen und selbst bestimmten Bildungsraum.

Dass die NS-Täter „praktisch auch Verwandte gewesen sein können“, motivierte viele Jugendliche ebenso wie eine Art von nationaler Verantwortung für die heutige Erinnerung an NS-Verbrechen und deren Opfer. Sie wollten in einer gewissen Leitfunktion und Vorbildfunktion deutlich machen: „damit beschäftigen sich auch junge Leute“.

Ihre Positionen formulierten die Jugendlichen zunächst während einer dreitägigen Exkursion, die von der regionalen Gedenkstätte KZ-Außenlager Hailfingen-Tailfingen zur KZ-Gedenkstätte Natzweiler-Struthof im Elsass führte. Dieses Konzentrationslager stand in den 1940er Jahren im Mittelpunkt eines Netzes von KZ-Außenlagern, die fast ganz Baden-Württemberg überzogen. Das Projekt setzte bewusst im Regionalen, in der Lebenswelt der Jugendlichen, an. Von hiesigen authentischen Orten aus verfolgte es Spuren zu den Knotenpunkten der NS-Verbrechen. Gianna: „Ich bin ja Tübingerin und bin ganz lange in dem Bewusstsein aufgewachsen, wie toll Tübingen ist. Man lernt schon in der Grundschule, wie toll unsere Universität ist. Ich war immer ganz stolz auf Tübingen. Bis ich dann selbst irgendwann gemerkt habe, oh, hinter der schönen Fassade ist eigentlich eine schreckliche Geschichte. Und es ist sehr wichtig, darüber zu sprechen.“ Clarissa beeindruckte beispielsweise die direkte Verbindung vom KZ Natzweiler-Struthof zur Universität Tübingen. Der hiesige Mediziner Hans Fleischhacker, der am Rassenbiologischen Institut in Tübingen arbeitete, hatte in Auschwitz 86 jüdische Frauen und Männer vermessen und selektiert, um für den Straßburger Anatomieprofessor Hirt eine Skelettsammlung an der Universität Straßburg aufzubauen. Die Ausgewählten ließ er nach Natzweiler-Struthof transportieren und dort ermorden. Die Jugendlichen bewegte nachhaltig, „dass es hier vor Ort genauso war und nicht nur in Dachau oder Auschwitz.“ Hinzu trat die emotionale Tiefe und Glaubwürdigkeit von authentischen Orten: „Es wirkt näher und intensiver vor Ort. Man fühlt sich betroffener und angesprochener.“

Neben nahe liegenden Orten wirken erlebte Personen besonders authentisch. Auf der personalen Authentizität bauen ja auch viele Gedenkstätten ihre pädagogischen Konzepte auf. Zeitzeugenprojekte waren und sind eine der gängigsten Formen der Gedenkarbeit. Deren Zahl ließ allerdings in den letzten Jahren deutlich nach, weil immer weniger Zeitzeugen, die selbst Opfer von NS-Verbrechen waren, reisefähig sind. Nun rückt eine Generation authentischer Menschen der zweiten Reihe in den Blick. Das können die Nachkommen ehemaliger KZ-Häftlinge sein, das können aber auch jene Idealisten sein, die einst mit viel Idealismus Gedenkstätten aus der Taufe hoben. Miriam erlebte, dass Harald Roth und Volker Mall von der Gedenkstätte Hailfingen-Tailfingen „ihre ganze Power da hinein investiert“ haben. Viele Gedenkstätten machen sich dieses Phänomen zunutze, indem sie ihre Themen personalisieren und Biographien von Opfern und Tätern ausstellen. Zu diesen klassischen Ansätzen von personaler Authentizität gesellt sich bei den Jugendguides jene der jungen Menschen in ihrer persönlichen Motivation.

Einen wichtigen Gesichtspunkt für die Formulierung authentischer Positionen bot das Thema „Holocaust und Menschenrechte“, das die Projektteilnehmer in Straßburg, dem Sitzort des Europäischen Gerichtshofs der Menschenrechte, lebhaft und ergebnisoffen diskutierten. Manche überraschte, dass selbst das deutsche Rechtssystem und seine Rechtspraxis immer wieder Gegenstand von Verfahren vor dem europäischen Gerichtshof sind. Andererseits rief die Diskrepanz zwischen der oft unvorstellbaren Dimension der Massenmorde des deutschen NS-Staates einerseits und der demgegenüber häufig banal erscheinenden heutigen Verfahren in Sachen Menschenrechte emotionale Statements hervor. Auch bei dieser Gelegenheit und bei zwei eintägigen Seminaren zu Methodik, Rhetorik und Didaktik, die die Jugendakademie Baden-Württemberg beisteuerte, ging es stets ergebnisoffen um die Herausbildung eigener Positionen.

Zur insgesamt 40-stündigen Qualifizierung gehörten schließlich Workshops in einzelnen Gedenkstätten, in denen die Jugendlichen mit dem Stoff und den Kontaktpersonen ihrer künftigen Einsatzorte vertraut gemacht wurden. Mittlerweile sind die 19 Jugendlichen analog zur Jugendleiterausbildung in Baden-Württemberg zertifiziert. Als Tätigkeitsfelder spezialisierten sich Teams von ihnen zunächst auf die Gedenkstätten ehemaliger KZ-Außenlager in Hailfingen-Tailfingen, Bisingen und Vaihingen/Enz, hinzu kam die ehemalige Synagoge in Horb-Rexingen. Schließlich fand eine Vierergruppe auch Interesse an der Gedenkstätte Grafeneck, dem Tatort zehntausendfacher „Euthanasie“-Morde in Südwestdeutschland.

Eine Besonderheit entwickelte sich  in Tübingen. In der Universitätsstadt gibt es bislang keine Gedenkstätte an NS-Verbrechen oder an die jüdische Kultur als „Einrichtung“. Demgegenüber lassen sich hier sehr weitreichende inhaltliche Bezüge anbinden. Ausgesprochen viele Karrieristen des Reichssicherheitshauptamtes, die sowohl „Schreibtischtäter“ waren als auch bewusst und aktiv als „Führer“ von Einsatzkommandos persönlich Morde anleiteten und begingen, studierten zu Beginn der 1930er Jahre an der hiesigen Universität, vor allem an deren juristischer Fakultät. Die meisten von ihnen waren damals in einem Alter, das die Jugendguides demnächst selbst erreichen. Alleine 14 Prozent der Einsatzgruppenführer im Zweiten Weltkrieg waren Ex-Tübinger, auf der mittleren Ebene der Einsatzkommandoführer immer noch 7 Prozent. Zu den „wissenschaftlichen“ Wegbereitern und Vordenkern des Massenmords zählen aber auch Angehörige des Rassenkundlichen Instituts und anderer Forschungs- und Lehreinrichtungen.

Gerade in Tübingen, wo keine Einrichtung an diese Vorgeschichte der heutigen Eliteuni aktiv erinnert, interessierten sich besonders viele Jugendliche für eine Tätigkeit als Jugendguide. Wo konnten diese Jugendlichen Anbindung finden? Aus dieser Situation heraus entstand eine enge Kooperation mit der Volkshochschule Tübingen, die ab dem Frühjahr 2013 Veranstaltungen mit Jugendguides zu Stadt und Universität Tübingen im Nationalsozialismus ausschreibt und die Jugendguides einsetzt. Mit der Geschichtswerkstatt Tübingen und dem Lern- und Dokumentationszentrum zum NS in Tübingen boten sich zudem zwei Vereine als inhaltliche Ansprechpartner der Jugendguides an. Ein bisheriger Höhepunkt bei der Tätigkeit der Jugendguides war ihr Einsatz am 11. November 2012. Unter dem Motto „NS-Verbrechen vor Ort“ präsentierten Teams der Jugendlichen an mehreren Stationen im Stadtgebiet ausgewählte Themenblöcke über die Brandstiftung an der Tübinger Synagoge und den Prozess gegen die Täter; über Deportation und Schicksale der Tübinger Juden vor der einstigen Gestapo-Zentrale in der Münzgasse; über NS-Rassenkunde an der Universität auf dem Schloss Hohentübingen, wo das Rassenkundliche Institut angesiedelt war; über Täter in SD-Einsatzgruppen und die „Eliteuni der NS-Zeit“ vor der juristischen Fakultät in der Neuen Aula. Experten von der Geschichtswerkstatt Tübingen, dem Lern- und Dokumentationszentrum zur Geschichte des NS, dem Stadtarchiv Tübingen und dem Kreisarchiv Tübingen verbanden diese Präsentationen in Form von „Stadtgängen“. Trotz strömenden Dauerregens folgten alleine 70 Personen dem ersten Stadtgang.

Diese öffentliche Einführung des Jugendguide-Angebots wirkte so nachhaltig, dass außer der Volkshochschule Tübingen mittlerweile drei überörtliche Träger von Bildungsangeboten ab Januar 2013 Stadtgänge und Exkursionen mit Jugendguides zu Gedenkstätten gebucht haben oder noch buchen werden. Diese Entwicklung zeigt das hohe Potential des Jugendguide-Konzepts, auch jenseits der unmittelbaren Angebotsstruktur von Gedenkstätten.

 

Im Auftrag der Sektion Böblingen-Herrenberg-Tübingen (Gegen Vergessen – Für Demokratie)und  mit finanzieller Unterstützung der Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg hat Johannes Kuhn einen Film über die Jugendguides der Gedenkstätte KZ-Außenlager Hailfingen-Tailfingen gedreht. Für einen Unkostenbeitrag von 10 € ist er zu bestellen bei Birgit Kipfer, Sprecherin der Sektion:

kipfer.rohrau(at)t-online.de

 

Dr. Wolfgang Sannwald ist Archivar des Landkreises Tübingen.