Die braune Spur in der Nachkriegsjustiz

Helga Übelmesser-Larsen

Viele „Schreibtischtäter“ konnten auch nach den Nürnberger Prozessen unbehelligt leben und weiter arbeiten, stellte Landtagsvizepräsident a.D. und Sprecher der Regionalen Arbeitsgruppe Baden-Württemberg von Gegen Vergessen – Für Demokratie e.V., Dr. Alfred Geisel, fest. Er wies darauf hin, dass es keine Sternstunde der Nachkriegszeit war, dass schwerbelastete Personen es bis in die höchsten Positionen schafften. Kein einziger Richter oder Staatsanwalt wurde wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit (z.B. wegen Verhängung von Todesurteilen) vor Gericht gestellt.
Die Landeszentrale für politische Bildung veranstaltete kürzlich zusammen mit der Georg Elser Gedenkstätte Königsbronn und der Vereinigung Gegen Vergessen – Für Demokratie e.V. das Symposium „Die braune Spur in der Nachkriegsjustiz“.  Zuvor hatte Joachim Ziller in Vertretung von Bürgermeister Michael Stütz in der 1860 erbauten Hammerschmiede in Königsbronn das aufschlussreiche Tagesseminar eröffnet.
Zivile Strafgerichte und Sondergerichte hatten, so Fritz Endemann (langjähriger Verwaltungsrichter in Stuttgart) während der über 12 Jahre dauernden Nazizeit mehr als 40.000 Todesurteile verhängt und bei der Euthanasie (über 70.000 Opfer) mitgewirkt. Die Justiz kooperierte mit der SS und außer Freiheitsstrafen gab es eine Palette von weiteren Benachteiligungen (z.B. bei Miet- und Arbeitsverhältnissen von  „asozialen Elementen“). In seinem Vortrag „Deutsche Richter – von der Avantgarde des Liberalismus zu Hitlers willigen Vollstreckern“ zeigte er folgende Phasen auf:
 1815 bis 1871: Juristen sind am Rechtsstaat beteiligt, sie sind in der Frankfurter Nationalversammlung vertreten.
 1871 bis 1918: Wandlung der nationalen Einstellung / Richter  nehmen häufig eine feindselige Haltung gegen Minderheiten und  sogenannte „Reichsfeinde“ wie z.B. Katholiken, Polen und Sozialisten ein.
 1918 bis 1933: Nur wenige Richter setzen sich für die Republik ein, viele beteiligen sich an der Verfolgung der Kommunisten, das Misstrauen gegen Parlament und Gesetze ist groß.
 1933 bis 1939: Die Mehrheit der Richter sind keine Nationalsozialisten und fürchten den Verlust der richterlichen Unabhängigkeit. Es beginnt der Umbau des bestehenden Rechtssystems, die Schaffung von Sondergerichten und die Auslegung von Gesetzen im nationalsozialistischen Sinn.
 1939 bis 1945: Mit Kriegsbeginn wird das Recht noch einmal radikalisiert, z.B. durch die Einführung von Kriegssonderrecht (u.a. Verordnung gegen Volksschädlinge, Verordnung bezüglich Wehrkraftzersetzung) Am Ende dieses politischen Weges standen die Juristen auf der Stufe der Gestapo und SS.
 Fritz Endemann schloss sein Referat mit dem Satz: „Das schlimmste Unrecht ist das, welches unter dem Schein des Rechts ausgeübt wird“.

 Über die Brettheimer-Prozesse (1955 bis 1960), den SS-General Max Simon und die Justiz sprach Dr. Franz Josef Merkl. Hintergrund war: Der Brettheimer Bauer Friedrich Hanselmann (Rot am See)  hatte während der letzten Kriegstage Angehörige der Hitlerjugend entwaffnet. Er wurde daraufhin von einem SS-Standgericht zum Tode verurteilt. Bürgermeister Leonhard Gackstatter und Ortsgruppenleiter Leonhard Wolfmeyer weigerten sich das Todesurteil zu unterschreiben. Danach wurden alle drei Männer an der Brettheimer Friedhofslinde erhängt. Verantwortlich dafür war SS-General Max Simon. In seinem Rückblick ging der Referent auch darauf ein, dass Simon und seine SS-Leute trotz schwerster Verbrechen in den KZ Sachsenburg und Dachau unbehelligt blieben.  Zum Thema Tötungshandlungen durch Richter suchte der Bundesgerichtshof (BGH) Wege zur Straffreiheit und zum Schutz richterlicher Unabhängigkeit. Nur vorsätzliche Rechtsbeugung – auch bei Standgerichten und beim Volksgerichtshof – so dessen Denkweise, sollte zu einer Verurteilung führen. Der BGH erweiterte das „Richterprivileg“ auf den Fall Simon. Damit gingen alle NS-Richter und zahlreiche Verantwortliche für Standgerichtsprozesse straffrei aus. Die Winkelzüge der Verteidigung und die Freisprüche durch die Landgerichte Ansbach und Nürnberg zeigten, so Dr. Merkl, dass die Juristen des NS-Unrechtssystems nach 1945 keinen „Tätern ein Auge aushackten, die im gleichen Nest gesessen sind“. Die Brettheimer Bevölkerung verlor das Vertrauen in diese Justiz.
 Die Aufarbeitung des Grafeneck-Prozesses vor dem Landgericht Tübingen im Jahre 1949 stand im Mittelpunkt des Vortrags von Prof. Dr. Jörg Kinzig. 10.654 Menschen wurden aus verschiedenen Heimen und Einrichtungen auf Schloss Grafeneck im Rahmen der „Euthanasie-Aktionen“ verbracht und dort ermordet. Über acht Angeklagte hatte das Landgericht Tübingen zu entscheiden (andere Haupttäter waren teilweise bereits verstorben oder durch das Landgericht Freiburg verurteilt), davon wurden fünf freigesprochen.
Die Suche von Entschuldigungsgründen führte bei den „notdienstverpflichteten“ Pflegern Heinrich Unverhau und Maria Appinger sowie den Polizeibeamten Jakob Wöger und Hemann Holzschuh (mussten als Standesbeamte die Euthanasie in den Sterbebüchern verschleiern) zum Nötigungsnotstand mit der Folge des Freispruchs. Die Ärzte Max Eyrich und Martha Fauser wurden ebenfalls freigesprochen (letztere für drei andere Tötungsdelikte aber verurteilt).  Für den Angeklagten Otto Mauthe, Obermedizinalrat und Sachbearbeiter für das Irrenwesen beim Württembergischen Innenministerium, verhängte das Gericht wegen Beihilfe zu einem Verbrechen gegen die Menschlichkeit fünf Jahre Gefängnis. Alfons Stegmann wurde zu zwei Jahren Gefängnis verurteilt.  
 Dazu erläuterte Kinzig, dass der Euthanasie-Erlass nie veröffentlicht wurde und eigentlich keine normbildende Kraft habe. Bei der anschließenden Diskussion wiesen Seminarteilnehmer darauf hin, dass die Ärzte mit Tarnnamen unterschrieben hatten.
 Über die Nachwirkungen des Nationalsozialismus in der Ulmer Justiz berichtete als „Zeitzeuge“ Klaus Beer. Er war in den 50er und 60er Jahren Referendar und Richter in Um, später Richter am Oberlandesgericht  Stuttgart und Vorsitzender Richter am Landgericht Stuttgart. Beer wies darauf hin, dass die Justiz ab 1935 von Berlin aus verwaltet wurde. Etwa 2/3 der Ulmer Richter traten während der NS Zeit in die Partei ein, andere (die keine Parteimitglieder waren) wurden teilweise zur Wehrmacht eingezogen. Die Ulmer Richter waren Teil des NS-Systems. Nach 1945 war die Zahl der Richter in Ulm halbiert und überaltert. Es fehlte an Personal und mit Artikel 131 des Grundgesetzes wurden viele Beamte übernommen, deren Lebensläufe unbekannt waren. Die Vergangenheit war der Politik egal. Mit dem Einsatzgruppenprozess im April 1958 kam es zu Verfahren wegen Beihilfe zum Mord.  Das Verfahren wurde von der Stuttgarter Generalstaatsanwaltschaft betrieben. Die Folge war u.a. die Einrichtung der Zentralen Stelle in Ludwigsburg. Verfahren gegen Richter und Wehrmachtsangehörige wurden jedoch eingestellt und die Urteile nicht veröffentlicht. Mit § 116 des Richtergesetzes von 1961 wurden NS-Juristen weiter geduldet.

 Helga Übelmesser-Larsen ist Oberamtsrätin im Innenministerium Baden-Württemberg und Mitglied von Gegen Vergessen – für Demokratie e.V.