Dienstag, 10. September 2024, 14:00 Uhr
Im Gebäude-Ensemble des Nordhäuser Siechenhofes befindet sich gleich neben der Einfahrt zum Hof, rechts, ein Fachwerk-/Backstein-Bau, ebenerdig, wo sich direkt neben der Einfahrt ein ca. 22 m² großer, haftzellenartiger Raum mit Inschriften aus dem Zeitraum von 1943 bis 1946 befindet. Über die Nutzung dieses Raumes finden sich weder im Stadt- noch im Kreis-Archiv Unterlagen. Ein dem Verein bekannter Historiker sprach uns an, ob eine Besichtigung der Vier-Seiten-Anlage ermöglicht werden könnte, da der Großvater des Historikers 1946 in einer Zelle im Siechenhof für ca. 1 Jahr festgehalten wurde. Auf Nachfrage beim Amt für Liegenschaften des Landratsamtes erhielten wir die Erlaubnis im Siechenhof zu recherchieren und fanden die bezeichnete Zelle mit vielen Inschriften. Nach unserer Einschätzung, vom Historiker Michael Lotsch und von Joachim Heise, müssen Orte mit diesem geschichtlichen Hintergrund im Rahmen der Erinnerungskultur der Öffentlichkeit zugänglich gemacht und der Wissenschaft zur Verfügung gestellt werden.
Nach ersten Erkundigungen beim Internationalen Suchdienst in Bad Arolsen deuteten die Inschriften auf Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter polnischer bzw. ukrainischer Herkunft hin. Um den in der Öffentlichkeit bisher Unbekannten einen Namen zu geben und die Schicksale vorzustellen, sieht das Projekt vor, die Inschriften auszulesen, über alle herausgefundenen Personen mögliche Daten zu sammeln und einen temporären Gedenkort zu initiieren. Dazu sollen ca. 12 RollUps und eine Informations-Broschüre gestaltet und hergestellt werden. Es ist angedacht die Haftzelle z.B. zum Tag des offenen Denkmals oder nach vorheriger Anmeldung der Öffentlichkeit zugänglich zu machen und das pädagogische Material im Rahmen politischer und schulischer Bildung (ab Klassenstufe 8) zu nutzen. Neben der Nutzung der pädagogischen Materialien vor Ort im Siechenhof sollen die Ausstellungsstücke ebenso interessierten Schulen und weiteren öffentlichen Einrichtungen mobil zur Verfügung gestellt und fachlich begleitet werden.
In einer ersten Phase des Projekts wendeten wir uns den Recherchen über Zwangsarbeit, Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter zu, erfuhren dabei, dass jeder größere bzw. kriegswirtschaftlich wichtige Betrieb Zwangsarbeitende beschäftigte bzw., um die männlichen Arbeitskräfte, die zum Kriegsdienst eingezogen wurden, zu kompensieren, zugewiesen bekam. Dabei ging es vor allem um die Erfüllung der staatlichen Vorgaben für die Kriegswirtschaft.
Als Zwangsarbeit werden Tätigkeiten bezeichnet, zu denen Menschen unter Androhung einer Strafe oder eines sonstigen empfindlichen Übels gegen ihren Willen gezwungen werden. Sie ist – mit verschwimmenden Übergängen – die schärfste Form der „Arbeitspflicht“.
Vor und während der Zeit des Zweiten Weltkriegs wurden im Deutschen Reich mehrere Millionen Menschen unter Zwang in Industrie, Landwirtschaft, für Dienstleistungen, aber auch in öffentlichen Einrichtungen, der Kirche und bei Privatleuten zur Arbeit eingesetzt, es waren meist Häftlinge aus Konzentrationslagern und Gefängnissen, Kriegsgefangene , aber auch Zivilpersonen aus den besetzten Ländern. Ab 1940 wurden deutsche Juden, später auch Mischlinge ersten Grades zur Zwangsarbeit verpflichtet.
Sie alle mussten die fehlenden Arbeitskräfte, die für „Führer, Volk und Vaterland“ in den Krieg ziehen mussten, in der Industrie, vor allem der Rüstungsindustrie, in der Landwirtschaft, in Handel und Gewerbe, eigentlich in allen Bereichen des öffentlichen Lebens ersetzen. Warben die Nazis vor und zu Anfang des Krieges „freiwillige“ ausländische Arbeitskräfte mit Versprechungen, rekrutierte man vor allem während des Kriegs in Osteuropa Zwangsarbeitende mittels Razzien und scheute nicht davor zurück, Jugendliche und Kinder ihren Eltern zu entreißen.
Als Ergebnis der Recherchen in den örtlichen Archiven konnten viele Firmen ermittelt werden, die Zwangsarbeitende von staatlichen Stellen forderten bzw. zugewiesen bekamen. Es fanden sich auch Unterlagen, die die Umstände des Aufenthaltes der Zwangsarbeitenden im Deutschen Reich beschrieben, welche Unterschiede zwischen sogenannten Ostarbeitern und westlichen Zwangsarbeitenden bezüglich Unterbringung, Verpflegung, Kleidung und allgemeiner Behandlung an der Tagesordnung waren.
In der weiten Phase des Projekts kümmerten wir uns um die fotografischen Details. Die ersten Aufnahmen, der in Raster eingeteilten Wandflächen der Gefängniszelle brachten die Schriftzüge bzw. die Ritzungen in den Wänden nicht deutlich hervor. Es musste fotografisch nachgearbeitet werden.Vor dem Fotografieren markierte aussagekräftige Wanddetails wurden unter variierten Verhältnissen nochmals aufgenommen.
Mit dem überarbeiteten Fotomaterial wandten wir uns zu Recherche-Zwecken an die Arolsen Archives mit der Bitte, zu den kenntlich gemachten Namen nebst Bemerkungen an der Zellenwand im Internationalen Suchdienst nach Unterlagen zu suchen, die Aufklärung über die Person, vor, während und/oder nach der Zeit der Zwangsarbeit geben könnten. Die Hoffnung auf Auskunft zur Person erfüllte sich nur in drei Fällen mit konkreten Angaben, dies aber auch nur für enge Zeiträume:
Iwan Bokalo (Bakalo)
Der Aufenthalt von Iwan Bokalo in der bezeichneten Gefängniszelle im Siechenhof zu Nordhausen lässt sich nur über einen Zeitraum vom 22.02.1945 bis zum 27.03.1945 gesichert verfolgen.
Iwan Bokalo wurde am 1. Dezember 1921 in Terschobiw nahe Lemberg geboren, seine nationale Zugehörigkeit ist ukrainisch.
Als Beruf ist Kraftfahrer angegeben. …
… Leider konnte das Schicksal von Iwan Bokalo vor und nach der Zeit in Nordhausen im Rahmen des vorliegenden Projektes nicht geklärt werden. Es wird sich weiter darum bemüht.
Anatoli Axentiewitsch Sopronjuk
Wie Sopronjuk an der Südseite der Zellenwand im Siechenhof hinterließ, ist er am 17. Februar 1944 in Nordhausen in der benannten Zelle angekommen. In den Arolsen Archives findet sich aus der Zeit des zweiten Weltkriegs nur eine Karteikarte ohne Namen einer Behörde/Dienststelle und ohne Nennung des Ausstellers. Der Karteikarte ist zu entnehmen, dass die Kartennummer 0419941201013 und die Kennnummer G 085124 lauten. Ferner ist darauf vermerkt, dass Sopronjuk am 3.10.1927 geboren wurde und von 2.44 bis 5.45 in Nordhausen bei der Bahn gearbeitet hat.
Stelmach, Nina (Janina)
Stelmach, Wojciech
Stelmach, Wladyslaw
Aus den wenigen vorhandenen Unterlagen über oben genannte drei Personen Stelmach geht hervor, dass die DP’s einen Aufenthalt in Nordhausen hatten. Den „Wandmalereien“ an der Westseite der Gefängniszelle im Siechenhof sind sowohl die Namen von Wojciech Stelmach und Nina Doroszenko (Mädchenname) zu ersehen. Beide Personen hielten sich, so ist es ihren Wand-Notizen1 zu entnehmen, in der Zeit vom 29. Januar bis zum 15. Februar 1945 im Siechenhof in Nordhausen auf. …
… Es ist zu hoffen, dass die Stelmach’s danach ein weitestgehend selbstbestimmtes Leben hatten.
Trotz der Vielzahl an Hinterlassenschaften an den Wänden der authentischen Zelle, konnten bei internen Recherchen beim Internationalen Suchdienst in Bad Arolsen keine Unterlagen zu weiteren an den Wänden gefundenen Namen ermittelt werden.
Wenige Treffer sind zwar auch ein Ergebnis, aber damit kann man sich nicht zufrieden geben. Es ist geplant, die Bannerausstellung (mit Begleit-Broschüre) als „Ausstellung in progress“ zu verstehen und in Polen, der Ukraine und eventuell in Russland weitere Recherchen anzuregen und mögliche Erfolge in die Ausstellung einzuarbeiten.
Mit dem reichlich vorhandenen Material an lokalgeschichtlichem Hintergrund, den drei unvollständigen Biografien zur Zwangsarbeit, den Fotos und noch offenen Fragen ließ sich eine zur Mitarbeit anregende Banner-Ausstellung und eine informative Broschüre zusammen stellen.
Die Ausstellung wird bis zum 10.11.2024 präsentiert
Nordhausen, März 2024
Joachim Heise