Wehrhafte Demokratie?

Die amerikanische Antwort auf den Rechtsextremismus

von Gereon Flümann

Wenn in Deutschland über Möglichkeiten der Auseinandersetzung mit dem Rechtsextremismus debattiert wird, spielt der Staat eine wesentliche Rolle. Das Grundgesetz und die einfache Gesetzeslage geben ihm dazu reichlich Gelegenheit: Seit der Ablehnung des letzten Verbotsantrages gegen die NPD durch das Bundesverfassungsgericht im Jahr 2003 wird nahezu ununterbrochen über einen neuen Verbotsanlauf diskutiert, die Innenminister des Bundes und der Länder verbieten regelmäßig rechtsextremistische Vereine und Kameradschaften, es wird versucht, Demonstrationen im Vorfeld zu untersagen, aktive rechtsextremistische Betätigung ist unvereinbar mit einer Tätigkeit im öffentlichen Dienst, Propaganda und Symbole verbotener Organisationen und aus der Zeit des Nationalsozialismus dürfen nicht hergestellt oder öffentlich gezeigt werden, zivilgesellschaftliche Initiativen gegen Rechtsextremismus werden mit staatlichen Geldern unterstützt und der staatliche Verfassungsschutz überwacht rechtsextremistische Aktivitäten. Dieses Vorgehen im Rahmen der wehrhaften oder streitbaren Demokratie lässt sich historisch, aber auch demokratietheoretisch durchaus legitimieren. Demokratien können ihren erklärten Gegnern Grenzen setzen, auch wenn sie keine Gewalt zur Erreichung ihrer Ziele einsetzen.

Das wird jedoch nicht überall so gesehen. Ein fundamental anderer Ansatz bestimmt den Umgang mit politischem Extremismus in den Vereinigten Staaten von Amerika. Der erste Zusatzartikel der Verfassung verbietet es dem amerikanischen Kongress, Gesetze zu erlassen, die die Meinungsfreiheit beschränken. Und rechtsextremistische Ideologien fallen –  wie im Übrigen auch alle anderen extremistischen Ideologien –  nach amerikanischer Auffassung zweifellos in den Schutzbereich der Meinungsfreiheit. Instrumente der streitbaren Demokratie scheinen in den Vereinigten Staaten undenkbar, werden von der Öffentlichkeit und Wissenschaft  meist sogar vehement als „undemokratisch“ oder schlicht „unamerikanisch“ abgelehnt. Offiziell findet die Meinungsfreiheit ihre Grenzen erst in der unmittelbaren Anstiftung zu Gewalttaten. Man vertraut – im Rückgriff auf die lange demokratische Tradition –  auf die Selbstheilungskräfte des „freien Marktplatzes der Ideen“: Extremisten dürfen Vereine und Parteien gründen, demonstrieren, jegliche Symbolik verwenden, zur Abschaffung der Demokratie aufrufen, rassistische Irrlehren verbreiten oder die vermeintlichen Vorzüge eines totalitären Regierungssystems preisen, ohne dass sie staatliche Eingriffe befürchten müssen. Vorausgesetzt natürlich, die politischen Aktivitäten bleiben friedlich. Bei Überschreitung der Gewaltschwelle kennen auch die amerikanischen Behörden kein Pardon.

Der organisierte amerikanische Rechtsextremismus kämpft heute relativ erfolglos gegen die eigene politische Bedeutungslosigkeit. Er ist zersplittert in zahlreiche lokale Ableger des Ku Klux Klans, Organisationen, die der Rassentrennung in den Südstaaten vor dem Bürgerkrieg nachtrauern, einzelne Parteien und offen neonationalsozialistische Gruppierungen. Die Aussichten auf politische Einflussnahme sind gering. Nicht zu unterschätzen ist allerdings das hohe Gewaltpotential amerikanischer Rechtsextremisten. Dies zeigte sich am verheerendsten beim Anschlag auf ein Bundesgebäude in Oklahoma City mit 168 Todesopfern im Jahr 1995. Der Täter hatte nur losen Kontakt zu extremistischen Gruppierungen und sich weitgehend selbst radikalisiert. Erst im Sommer 2012 tötete ein Mitglied einer amerikanischen Neo-nazi-Rockband sechs Personen in einem Sikh-Tempel in Wisconsin. Zwar ist die Zahl der amerikanischen Rechtsextremisten eher gering. Sie sind jedoch außergewöhnlich radikal und gewaltaffin.

Dass der Staat rechtsextremistische Betätigung unterhalb der Gewaltschwelle nicht verfolgt, bedeutet nicht, dass Rechtsextremisten breite Akzeptanz fänden. Auch in den Vereinigten Staaten stoßen rechtsextremistische Ideologien der Ungleichheit und rassistische Argumentationsmuster nicht zuletzt aufgrund der regelmäßigen Gewalttaten auf breite Ablehnung. Da die rigide verfassungsrechtliche Situation für den Ausfall des Staates beim Engagement gegen Rechtsextremismus sorgt, wird diese Lücke durch zivilgesellschaftliche Organisationen geschlossen. Der in Deutschland vom Verfassungsschutz übernommenen Aufgabe, über rechtsextremistische Bestrebungen aufzuklären, haben sich in den USA vor allem zwei einflussreiche Organisationen verschrieben: die jüdische Anti-Defamation League (ADL) mit Sitz in New York City und das Southern Poverty Law Center (SPLC) in Alabama. Die beiden Bürgerrechtsorganisationen unterhalten ein weites Recherchenetzwerk in den Vereinigten Staaten, werten Presseberichte aus und erstellen Dossiers über die aktuelle Lage des Rechtsex-tremismus in den Vereinigten Staaten. Ein weiterer Schwerpunkt ist die parlamentarische Lobbyarbeit für strengere Verfolgung und Bestrafung von rassistisch motivierten Verbrechen. Wenn die großen US-Zeitungen wie die New York Times, USA Today oder die Washington Post in der Folge rechtsextremistisch beeinflusster Straftaten über die Ereignisse berichten, stützen sie sich stets auf die Erkenntnisse von ADL und SPLC. Die beiden Organisationen sind anerkannte Informationsquellen zu allen Geschehnissen rund um die amerikanische rechtsextremistische Szene. Das SPLC hat sich außerdem seit den 1980er Jahren mit spektakulären Zivilprozessen gegen rechtsextremistische Vereinigungen einen Namen gemacht. Im Auftrag der Familien von Opfern rechtsextremistischer Gewalt hat das SPLC schon zahlreiche antidemokratische Gruppierungen auf Schadenersatzzahlungen in beträchtlicher Höhe verklagt − und das mit Erfolg. Die Urteile folgen der Logik, dass die rechtsextremistischen Vereine zwar nicht selbst gewalttätig agiert haben, ihre hasserfüllte Rhetorik die Täter jedoch angestachelt habe. Die immensen Schadenersatzforderungen zerschlugen die Gruppen nahezu ebenso wirksam wie ein staatliches Organisationsverbot.

Kritik an der Arbeitsweise der beiden Organisationen bleibt freilich nicht aus. Von ihr ist meist das SPLC betroffen, das selbst eher im linken demokratischen Spektrum angesiedelt werden kann. Ihm wurde vorgeworfen, nicht genug der reichlich eingeworbenen Spendengelder auszugeben. Außerdem fühlen sich auch Vereinigungen im Grenzbereich zwischen Demokratie und Extremismus durch die Aufklärungsarbeit des SPLC verfolgt. Libertäre Gruppen werfen dem SPLC vor, mit seinen Zivilprozessen die Meinungsfreiheit zu untergraben. Sowohl dem SPLC als auch der ADL ist vorzuhalten, dass sie wenig Transparenz bei den Bewertungskriterien für die Einordnung einer Gruppierung als extremistisch an den Tag legen. Außerdem misst das SPLC die Stärke des Rechtsextremismus in den USA anhand der Zahl der von ihr registrierten „Hate Groups“. Aus der Aufspaltung einer Organisation in zwei rivalisierende Gruppen wird so statt einer tatsächlich wohl anzunehmenden Schwächung der Szene, eine Stärkung des Rechtsextremismus herausgelesen. Auch die Größe der Gruppe wird kaum berücksichtigt, so dass lokale extremistische „Zwei-Mann-Betriebe“ und große, national vernetzte Gruppen gleich gewichtet werden. So bleibt bei der Betrachtung der großen zivilgesellschaftlichen Akteure gegen Rechtsextremismus in den USA eine gewisse Ambivalenz. Einerseits faszinieren das Vertrauen in die selbstreinigenden Kräfte der Demokratie und der selbstbewusste Verzicht auf den Staat bei der Eindämmung extremistischer Kräfte. Andererseits herrscht eine gewisse Unklarheit über die tatsächliche Größe und Bedeutung rechtsex-tremistischer Strukturen in den Vereinigten Staaten. Ein ähnliches zivilgesellschaftliches Engagement gegenüber anderen extremistischen Gruppierungen findet überdies kaum statt. Die weite Auslegung der Meinungsfreiheit sorgt zudem dafür, dass die betroffenen Teile der Bevölkerung den rechtsextremistischen Hasstiraden relativ schutzlos ausgeliefert sind.

Der amerikanische Ansatz lässt sich nicht spiegelbildlich auf Deutschland übertragen. Dies scheint angesichts der deutschen Geschichte auch nicht angebracht. Das amerikanische Mehrheitswahlrecht, das seit über 150 Jahren neben Demokraten und Republikanern keine langfristig erfolgreichen dritten Parteien mehr zuließ, errichtet zudem bereits hohe Hürden für rechtsextremistischen Einflussgewinn. Anders als Deutschland, haben die Vereinigten Staaten keine totalitäre Vergangenheit und sind als Staatswesen bereits auf dem Fundament demokratischer Ideen gegründet worden. Dennoch bietet das amerikanische Beispiel einen lohnenden Blick über den eigenen Tellerrand und liefert zumindest Anknüpfungspunkte für eine Reflexion und Neubewertung des Modells der streitbaren Demokratie in Deutschland.

Gereon Flümann hat in Bonn und Stockholm Politische Wissenschaft, Neuere Geschichte und Staatsrecht studiert. Seine vergleichende Studie über den staatlichen Umgang mit politischem Extremismus in den Vereinigten Staaten und der Bundesrepublik Deutschland wird in Kürze an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn als Dissertation eingereicht