Warum wurde der rechtsextremistische Hintergrund der Mordserie nicht erkannt? Die neue Dimension des Rechtsterrorismus

von Armin Pfahl-Traughber

Wie konnte eine kleine Gruppe von Neonazis unbemerkt von Öffentlichkeit und Sicherheitsbehörden zehn Morde begehen? Auf diese Frage müssen nach detaillierten Untersuchungen zukünftig mehrdimensionale Antworten erfolgen. Eine Erklärung kann aber schon jetzt formuliert werden: Der „Nationalsozialistische Untergrund“ (NSU) stellt eine neue Dimension und damit ein Novum dar, konnte man in Deutschland doch bislang nicht eine derartige Form rechtsextremistisch motivierter Gewalt ausmachen.

In diesem Bereich lassen sich idealtypisch zwei Varianten unterscheiden: Zum einen gehören dazu einzelne Täter und kleine Gruppen, die relativ spontan brutale Akte bis hin zur Tötung von Menschen begehen und nicht in eine festere organisatorische Struktur eingebunden sind. Zum anderen zählen dazu terroristisch agierende Personenzusammenschlüsse, die ihr gewalttätiges Vorgehen als Bestandteil einer längerfristigen Strategie ansehen und kontinuierlich Anschläge bis hin zu Morden begehen. 

In den letzten Jahrzehnten dominierte die erstgenannte Form, fielen ihr doch je nach genutzten Kriterien 46 oder 137 Menschen zum Opfer. Die rechtsterroristischen Strukturen Ende der 1970er Jahre und Mitte der 2000er Jahre führten dem gegenüber Anschläge auf Einrichtungen mit einkalkulierten Todesopfern durch. Die geplante und gezielte Ermordung – dies belegen die gefundenen Notizen und Skizzen – einzelner Menschen in Serie durch den NSU steht demnach für eine neue Dimension des Rechtsterrorismus.

Als weitere Besonderheit verdient folgender Gesichtspunkt Beachtung: „Terrorismus“ gilt nicht nur als Bezeichnung für politisch motivierte Gewalttaten. „Terrorismus“ gilt auch als „Kommunikationsstrategie“ (Peter Waldmann), d. h. die Täter wollen damit eine bestimmte Botschaft in die Öffentlichkeit tragen. Dies war bei dem NSU nicht der Fall. Zwar stellte man offenbar 2007 eine DVD mit zynischen Bekenntnissen zu den Taten her, leitete sie aber vier Jahre lang nicht an die Medien weiter.

Offensichtlich hatten die Mörder so etwas vor, worauf die Funde in deren Wohnhaus hindeuten. Dies geschah aber über mehrere Jahre hinweg nicht, wofür gegenwärtig kein Grund genannt werden kann. Allenfalls lässt sich die Vermutung formulieren, dass man noch etwas „Großes“ vorgehabt hat und in dessen Folge die zur Versendung vorbereiteten DVDs auf den Weg bringen wollte. Das Fehlen eines Bekenntnisses zu dem politischen Hintergrund der Morde kann ansonsten nur schwerlich eine Erklärung finden.

Im Unterschied zu Linksterroristen hinterlegten Rechtsterroristen in der Vergangenheit zwar keine Bekennerschreiben, sollten ihre Taten doch bezüglich der politischen Botschaft für sich selbst sprechen. So gingen etwa die Sicherheitsbehörden bei dem seinerzeit nicht aufgeklärten Anschlag, der auf eine kritische Ausstellung über die Wehrmacht 1999 in Saarbrücken durchgeführt wurde, sofort von einem rechtsextremistischen Hintergrund aus. Nur aus diesem politischen Lager ergaben sich einschlägige Motive zu einer solchen Tat.

Ein ähnlicher Eindruck von den politischen Hintergründen der zehn Morde ergab sich für Öffentlichkeit und Sicherheitsbehörden aber nicht. Auch die deutsche und türkische Presse mutmaßte kriminelle Hintergründe. Zwar enthält die DVD der Täter die Aussage „Taten statt Worte“, doch konnte man die Morde nicht einer klaren Motivation zuordnen. Insofern kam es auch nicht zu einer Vermittlung der fremdenfeindlichen und rechtsextremistischen Dimension der Taten im Sinne einer inhaltlichen Botschaft für die Öffentlichkeit.

Das Unwissen um diesen Hintergrund erklärt mit, warum die Sicherheitsbehörden nicht gezielt nach dem seinerzeit namentlich noch nicht bekannten NSU fahndeten. Darin besteht ein grundlegender Unterschied zum Vorgehen der „Rote Armee Fraktion“ (RAF) zwischen den 1970er und 1990er Jahren, bekannten sich die Linksterroristen doch durch Anschlagserklärungen öffentlich zu ihren Taten. Darüber hinaus sprechen noch andere Gründe gegen die Rede von dem NSU als einer „Brauen Armee Fraktion“:

Bei der RAF handelte es sich um eine Gruppe mit einer entwickelten Kommandostruktur, die auch die Rechtsterroristen in den 1970er und 1980er Jahren nachahmten. Sie konnten aber im Durchschnitt nur ein gutes Jahr regelmäßig Anschläge durchführen, wurden ihre Aktivisten doch relativ schnell von den Sicherheitsbehörden entdeckt. Beim NSU handelt es sich mehr um eine Kleinstgruppe mit einem hohen Maß an Autonomie und Flexibilität – und damit um eine auch im islamistischen Terrorismus stark verbreitete Strukturform.

Die Unangemessenheit der Rede von einer „Brauen Armee Fraktion“ leitet zur Frage über, inwieweit Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen links- und rechtsextremistischen Gewalthandlungen bestehen? Hierbei geht es nicht um eine Gleichsetzung, sondern um einen Vergleich – was immer wieder falsch verstanden wird. Die Frage nach Gemeinsamkeiten und Unterschieden erlaubt es erst, die besonderen Konturen bestimmter Phänomene zu erkennen. Es geht also nicht um „Hitparaden-Plätze“ auf einer Skala größerer Gefahr.

Nach der Statistik politisch motivierter Kriminalität von 2010 gab es 944 „linke“ und 762 „rechte“ Gewalttaten. Doch Gewalttat ist nicht gleich Gewalttat, bestehen doch in Dimension und Folgen durchaus Unterschiede: Bei den Körperverletzungen lagen demgegenüber die Werte bei 541 „linken“ und 638 „rechten“ Vorfällen. Auch wenn die linksextremistisch motivierte Gewalt in den letzten Jahren eher zunahm, richtet sie sich tendenziell nicht so stark gegen Menschen wie die rechtsextremistisch motivierte Gewalt.

Die Erklärung dafür besteht bei den linksextremistischen Autonomen in dem Anspruch, ihr militantes Agieren auch inhaltlich dem eigenen politischen Umfeld vermitteln zu wollen. So akzeptiert man dort etwa brutale Gewalthandlungen gegen Polizeibeamte in Schutzkleidung (Helm, Lederjacke) anlässlich von Demonstrationen. Anders verhält es sich gegenüber Polizeibeamten ohne eine solche Schutzkleidung. Zwar kamen derartige Übergriffe in letzter Zeit ebenfalls vor, stießen in der Szene aber häufig auf Ablehnung und Distanzierung. 

Eine Zurückhaltung in der Intensität der Gewaltanwendung erklärt sich bei Linksextremisten also nicht durch eine grundsätzliche Einstellung, sondern durch taktische Rücksichtnahmen. Diese spielen im gewaltorientierten Rechtsextremismus keine ähnlich große Rolle. Die Gewaltintensität ist dort ungleich höher, was sich auch anhand der Tötungsdelikte ablesen lässt. Linksextremistisch motivierte Morde gab es schon länger nicht mehr, rechtsextremistisch motivierte Morde hat es bis 2007 durch den NSU sehr wohl gegeben.

 

Prof. Dr. Armin Pfahl-Traughber, Politikwissenschaftler und Soziologie, lehrt hauptamtlich an der Fachhochschule des Bundes in Brühl und ist Herausgeber des „Jahrbuchs für Extremismus- und Terrorismusforschung“.