„Das Wichtigste ist, dass wir unsere Gemeinwesen vor Schaden bewahren“ - Zeitdokument 8. Oktober 1992

Vor zwanzig Jahren – nach den Ausschreitungen zwischen dem 22. und 26. August 1992 – hielt Hans-Jochen Vogel die folgende Rede im Deutschen Bundestag.  Viele Passagen dieser Rede könnten auch heute identisch gehalten werden.
Auch als Reaktion auf die öffentlichen Gewalttaten gegen Minderheiten und Migranten wurde am 19. April 1993 in Bonn die überparteiliche Vereinigung Gegen Vergessen – Für Demokratie e.V. gegründet, deren Vorsitz Hans-Jochen Vogel bis 2000 übernahm.

1.
Über unserem Land entlädt sich seit geraumer Zeit eine Welle der Gewalt. Ihr Ausmaß ist erschreckend. Sechs Menschen haben allein in diesem Jahr bei diesen terroristischen Aktivitäten ihr Leben verloren. Mehr als 400 mal sind Menschen angegriffen, Mahnmale beschädigt oder zerstört oder Friedhöfe geschändet worden. Das ist für sich schon bedrückend und beschämend. Bedrückender noch ist, dass Gewalt vor allem von jungen Menschen ausgeht und sich fast ausschließlich gegen Ausländer richtet. Und das Gewalt auch vor jüdischen Einrichtungen nicht Halt macht – das kann auf dem Hintergrund dessen, was von Deutschen in der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts dem jüdischen Volk angetan worden ist, nur als Schande, nein als Schmach bezeichnet werden.
Das alles ist alarmierend genug. Noch alarmierender aber muss für uns alle sein, dass Rechtsradikale mit schlimmen Parolen zur Gewalt aufrufen und sich immer häufiger an die Spitze derer setzen, die sie zuvor aufgehetzt haben.

2.
Für uns Ältere werden da böse Erinnerungen wach. Nicht – noch nicht – an die Pogromnacht des Jahres 1938, aber an die frühen dreißiger Jahre, in denen Menschen gejagt wurden; in denen die Saat der Gewalt aufging, die später so furchtbare Ernte hielt.
Es ist sicher falsch, die Herausforderung, mit der wir es zu tun haben, zu dramatisieren. Noch gefährlicher ist es aber, sie zu bagatellisieren. Sagen wir es klar heraus: Unsere Republik, unserer Gemeinwesen steht in einer ernsten Bewährungsprobe. Dabei spielt sicher auch eine Rolle, wie sehr sich die Ereignisse der letzten Wochen unserem Ansehen in Europa und in der Welt schaden. Einem Ansehen, das verloren war und das wir uns in Jahrzehnten mühsam zurückerworben haben. Das kann uns nicht gleichgültig sein. Und auch nicht die wirtschaftlichen Nachteile, die sich daraus bereits ergeben. Aber für mich ist das nicht das Primäre. Entscheidend ist für mich, dass wir vor uns selbst, dass wir vor den Wertmaßstäben bestehen können, auf die wir uns unter dem Eindruck der Katastrophe der dreißiger und vierziger Jahre verständigt haben. Und das heißt: dass sich alle Menschen, die sich in unserem Lande aufhalten, sicher fühlen können – ohne Rücksicht auf ihre Nationalität, ihre Hautfarbe, ihren Glauben oder ihren ausländerrechtlichen Status.
Darum kann es auf die Welle der Gewalt nur eine Antwort geben: Nämlich das entschiedene Nein aller Demokraten. Und die gesellschaftliche Ächtung der Gewalt, ihrer Hintermänner  und Drahtzieher. Aber auch ihre Sympathisanten – einerlei, ob sie ihre Sympathie offen oder klammheimlich zeigen: Diese Ächtung haben wir in den siebziger Jahren über alle Divergenzen hinweg dem Terror der RAF zu Teil werden lassen. Sie muss uns heute ebenso gelingen. Die Verwerflichkeit und die Gefährlichkeit ist nicht geringer.

3.
Das heißt auch: Der Staat muss sein Gewaltmonopol verteidigen. Er muss alle seine rechtsstaatlichen Machtmittel einsetzen. Auch gegen sogenannte autonome Gruppen, wenn sie Gewalt anwenden. Dabei erscheint mir die Suche nach neuen Instrumenten und zusätzlichen Regelungen weniger dringlich als der entschlossene Einsatz der bereits vorhandenen und bewährten Mittel. Notwendig ist auch, dass wir den Beamten der Polizei und des Grenzschutzes, die dem Recht Geltung verschaffen, Rückhalt geben und Solidarität bekunden. Und ihnen für ihren Dienst, den sie unter schwierigen Bedingungen leisten danken. Ich tue das heute und hier ebenso, wie ich das Ende August an Ort und Stelle in Rostock getan haben.

4.
Ebenso deutlich und klar wie das Nein gegen jegliche Gewaltandrohung muss eine weitere Absage sein: nämlich die Absage an alle rechtsradikalen Parteien, Gruppierungen und Aktivitäten. Wenn irgendwo gilt es hier, den Anfängen zu wehren. Und sich unserer jüngeren Geschichte zu erinnern. Etwa daran, dass schon einmal das Unheil damit begonnen hat, dass Menschen – damals waren es die Juden – ausgegrenzt, verteufelt und zu Objekten des Hasses gemacht wurden. Eine andere Lehre aus jener Zeit lautet übrigens: Man kann den Rechtsradikalismus nicht durch Nachgiebigkeit oder dadurch bekämpfen, dass man seine Forderungen übernimmt. Man wird seiner nur Herr, indem man kompromisslos Widerstand leistet.

5.
Aber das alles genügt nicht. Wir können unsere Verantwortung nicht an die Polizei und die Strafjustiz delegieren. Gefordert ist unsere ganze Gesellschaft mit all ihren Institutionen. Die Parteien und Gewerkschaften ebenso wie die Verbände, die Schulen, die Kirchen und nicht zuletzt die Medien. Aber auch Bürgerinitiativen und Gruppen, die sich ad hoc auf örtlicher Ebene bilden. Gefordert sind die Eltern, ist letzten Endes jeder Bürger und jede Bürgerin. Vergessen wir nicht: Weimar ist nicht zugrunde gegangen am Mangel an Vorschriften oder Strafbestimmungen. Daran hat es nicht gefehlt. Gemangelt hat es zuletzt an Demokraten, an Menschen, die sich für die Demokratie und ihre Verfassung engagiert haben.
Sage keiner, auf ihn komme es nicht an; er könne nichts tun. Jeder kann den Angegriffenen und Bedrohten seine Solidarität bekunden und den Angreifern seine Verachtung. Es war gut, dass an einigen Orten Menschenketten Ausländer- und Asylbewerberheime schützend umschlossen. Dass nicht wenige solche Heime besucht haben. Noch besser wäre es, dies geschähe überall. Es war gut, dass in Sachsenhausen 5.000 und in Frankfurt und Nürnberg jeweils über 10.000 Menschen gegen Gewalt, Antisemitismus und Ausländerhass protestiert haben. Noch besser wäre es, es fänden sich hunderttausende zusammen – so wie das in der ersten Hälfte der achtziger Jahre aus anderem Anlass geschehen ist.

6.
Ich sprach davon, dass sich an den Ausschreitungen vor allem junge Menschen beteiligt haben; in den neuen Bundesländern zumal. Wir müssen den Gründen nachgehen, warum das so ist. Warum so viele von ihnen rechtsradikalen Parolen Gehör schenken. Dabei könnten wir an den Erkenntnissen der Enquete-Kommission „Jugendprotest“ aus den Jahren 1981 und 1982 anknüpfen. Etwa an die Erkenntnis, dass Gewalt oft ein Anzeichen für gestörte Kommunikation, für Sprachlosigkeit, für die Unfähigkeit ist, sich und seine Probleme anderen mitzuteilen.
Weiteres kommt hinzu. So für nicht wenige junge Menschen in den neuen Bundesländern, dass sie im Zuge des großen Umbruchs orientierungslos geworden sind. Weil die alten Orientierungen zusammen mit einer dauernden Fremdbestimmung und Bevormundung verschwunden und neue Orientierungen, die zum sinnvollen Gebrauch der neugewonnenen Freiheit befähigen würden, noch nicht an ihre Stelle getreten sind. Weil es weiterhin an sinnvollen Freizeitangeboten mangelt. Und weil die Arbeitslosigkeit der Eltern sich wie ein Schatten auch über ihre eigenen Lebensperspektiven legt.
Umso wichtiger ist es, den Menschen in den neuen Bundesländern durch eine gemeinsame solidarische Anstrengung wieder eine Perspektive zu geben. Und den Menschen in den alten Bundesländern klarzumachen, dass sie sich ein einer Zeit gewaltiger Umbrüche nicht wie Zuschauer verhalten können. Dass die Veränderungsprozesse auch sie ergriffen haben. Dass auch sie eine neue Perspektive brauchen. Nicht eine illusionäre, die zu neuer Enttäuschung führt, sondern eine realistische, die auf Wahrheit beruht und deshalb glaubwürdig ist und aufs neue Vertrauen schafft. Denn nur wer Vertrauen genießt, kann das leisten, was jetzt vor allem gefordert ist: nämlich geistig-moralische Führung und eine Politik, die Gewalt überwindet.

7.
Dazu gehört auch, dass wir redlicher und verantwortungsbewusster miteinander umgehen. Und das gerade da, wo wir unterschiedlicher Meinung sind, wo jeder wechselseitig meint, er hätte Recht, und der andere hätte Unrecht. Instrumentalisierung von Problemen zur Bekämpfung des jeweiligen demokratischen Gegners hat bisher nur den Rechtsradikalen in Sonderheit den Republikanern genutzt.
Als einer, der seiner Partei ein Leben lang in vielen Funktionen gedient hat, sage ich: Jetzt ist nicht das Wichtigste, dass die eigene Partei in Meinungsumfragen ein paar Prozente gewinnt und die andere Partei ein paar Prozente verliert. Das Wichtigste ist, dass wir unsere Gemeinwesen vor Schaden bewahren. Dass wir seine demokratische und rechtsstaatliche Substanz verteidigen. Die deutsche Sozialdemokratie wird dazu die Erfahrungen ihrer 130jährigen Geschichte einbringen. Gerade auch die Erfahrungen aus der Zeit, in der Sozialdemokraten und Sozialdemokratinnen selbst gejagt und verfolgt wurden, und nicht wenige deshalb überlebten, weil andere Völker ihnen Asyl gewährten und sie vor Gewalt schützten.