„Die Macht der Erinnerung und die Ohnmacht der Worte“, der Titel eines seiner Vorträge, ist das Lebensthema von Ivan Ivanji, so auch in seinem neuen Roman „Mein schönes Leben in der Hölle“.
Wie aus dem Stegreif, fast atemlos, ohne sich Kapitelgrenzen zu fügen, berichtet der Autor, indem er in seinem Kalender blättert. Er ist jetzt 85 Jahre alt, als sein jüngstes von sicher mehr als 20 Büchern erscheint. Ivan Ivanji erinnert sich an Themen seiner Bücher wie „Der Aschenmensch von Buchenwald“, „Das Kinderfräulein“, „Geister aus einer kleinen Stadt“, „Ein ungarischer Herbst“, „Buchstaben von Feuer“. Die biographischen Wegmarken werden im Zeitraffer dargestellt, immer „vor der Mosaikwand der Erinnerungen“.
„Mein schönes Leben in der Hölle“ behandelt nicht gezielt ein Thema, einen Ausschnitt dieses wahrhaft bunten, vielseitigen Lebens. Der Autor hinterfragt die Verlässlichkeit der Erinnerung und komponiert einen großen zeitgeschichtlichen Roman. Gekonnt zieht er den Leser in sein Spiel mit ungelebten Möglichkeiten, mischt Fantasie mit Fakten. Berührend, aber auch Lebensfreude ausstrahlend, sind Anekdoten von Begegnungen und Erlebnissen.
Am 24. Jänner 1942 wird Ivanji 13 Jahre alt, der Tag, an dem seine Bar-Mizwa gewesen wäre, „wenn jemand von uns daran gedacht hätte“. In jenen Januartagen sind 4500 Menschen in Novi Sad Razzien der Deutschen zum Opfer gefallen. „Wir Kinder wussten nichts von den Grausamkeiten an den Juden, Serben und Zigeunern, dass sie erschossen oder erschlagen und in die Donau geworfen wurden.“
Ivan ist 15 Jahre alt, als sein Vater erschossen und seine Mutter vergast wurden. Seine Großeltern hatten Gift genommen. Er rekonstruiert, dass sein Onkel, der mit einer Volksdeutschen verheiratet war, ihn verraten und an die Nazis ausgeliefert haben könnte. Eine späte Begegnung mit dem in Australien lebenden Sohn dieses Onkels stützt diesen Verdacht. „Wäre es nicht Begründung, mit der man mich ins Konzentrationslager gebracht und einen Teil meiner Familie ausgerottet hat, würde ich das Judentum gern abschütteln, leugnen, zumindest vergessen“.
Nach einer Woche in Auschwitz wird Ivanji am 6. Juni 1944 in das Konzentrationslager Buchenwald `überstellt´, wo er die Häftlingsnummer 58116 erhält, wie ein Dokument des Internationalen Suchdienstes in Arolsen mitteilt. Die fast einjährige „Reise“ geht weiter: Arbeitslager in Magdeburg und Niederorschel, schließlich Langenstein-Zwieberge, alle drei Außenlager des KZ Buchenwald. Ivan Ivanji ist 16 Jahre alt, als Zwieberge am 11. April 1945 von amerikanischen Soldaten befreit wird. Ivanji gehört zu den wenigen, die das Lagersystem der Nazis überlebt haben. Aber wie wäre es ausgegangen, wenn er nicht „Nutznießer“ eines „Opfertausches“ geworden wäre? In Buchenwald fand Ivanji Namenslisten: „Jemand in der Schreibstube des KZ hat meinen Namen aus der Liste Richtung Auschwitz gestrichen und anstatt meiner einen anderen hingeschickt. Mein halbes Leben lang habe ich mich bemüht, herauszufinden wer mein Retter, mein Schutzengel, und für wen er gleichzeitig der Todesengel war“.
Zurückgekehrt findet Ivanji zu Hause im Banat keine Angehörigen mehr vor. Er wird Bautechniker und Lehrer in Belgrad, Sekretär des Sekretärs des jugoslawischen Schriftstellerverbandes, Redakteur für Kultur der Jugendzeitung Omladina. Die ersten Gedichte, der erste Roman erscheinen – Ivanji ist jetzt 25 Jahre alt.
Der Kalender berichtet weiter vom Militärdienst, vom Theaterintendanten und Übersetzer (Brecht, Böll, Grass), vom Dolmetscher Titos („Als Literat am Pulsschlag der Politik“ 2008) und schließlich vom Diplomaten in Bonn. Von all diesen aufregenden Etappen, zu denen zuletzt der Krieg und die Auflösung des Vielvölkerstaates Jugoslawien und die Milošević-Zeit in Serbien gehörten, handeln fast alle Romane Ivanjis.
Das Hotel Elefant in Weimar spielt für Ivanji eine gewisse Rolle. Schon zu DDR-Zeiten wohnte er hier als Dolmetscher des jugoslawischen Außenministers. Später traf er sich hier mit Jorge Semprún und Stéphane Hessel. Zum 65. Jahrestag der Befreiung Buchenwalds war das ganze Hotel nur für ehemalige Buchenwaldhäftlinge und ihre Befreier, amerikanische Soldaten, reserviert. Ein Boy geht mit den Koffern Ivanjis in den ersten Stock zur Nummer 100, der „Lyonel-Feininger-Suite“. Ein willkürlicher, gleichwohl mit Weimar verbundener Name. „Aus verständlichen Gründen“ trägt sie nicht einen anderen Namen. Im Hinblick darauf, dass hier gern der `Führer´ residierte, der oft in Weimar weilte, könnte sie auch „Adolf-Hitler-Suite“ heißen. Auf die Frage Ivanjis an den Direktor der Gedenkstätte, warum er ihn diesmal in den besten Zimmern des Hotels untergebracht habe, antwortet dieser: „Ich wusste, du wirst mit den Dämonen fertig werden.“
Immer wieder unterbricht Ivanji seine Erzählungen und reflektiert: „Was hat mein Leben bestimmt? … mein Leben ist öfter fantastisch als realistisch gewesen.“ Oder: „Erfülle ich eine Pflicht oder bin ich nur gern ein Wichtigtuer?“ Oder Semprún zitierend:“ `Wenn du deine Erinnerung verlierst, verlierst du den roten Faden deines Lebens´. Den roten Faden einweben? Ich webe, ich webe …“. Wir sollten eine der letzten Chancen nutzen, dem O-Ton eines Zeitzeugen zu lauschen und an unsere Kinder denken: Im Jahr 2002 hat Ivan Ivanji im Schulsaal von Niederorschel gesagt: „Es ist nicht mein Problem, wie sich Deutschland an die schändlichste Epoche seiner Geschichte erinnern will, welche Denkmäler man errichten, welche Gedenkstätten einrichten und wie man sie erhalten würde, wichtiger jedoch ist meiner Meinung nach, was die Kinder in welchem Alter und Umfang darüber erfahren sollen“.
Ivan Ivanji: Mein schönes Leben in der Hölle. Roman
Picus Verlag, Wien, 2014. 295 S. geb. 22,90 €