Sehr geehrte Damen und Herren!
Wir alle wissen, dass im Jahr 1945, als die NS-Diktatur in Österreich zusammenbrach und der schreckliche Zweite Weltkrieg zu Ende ging, nicht mit einem Schlag alles anders war.
Österreich bzw. die Ostmark, wie es während der Hitler-Diktatur hieß, war nicht bis zum 27. April 1945 ein Land, wo es nur Nazianhänger gab, und ab dem 28. April ein Land, wo es nur Nazigegner gab.
Österreich war nicht bis zum letzten Tag des Krieges ein Land von kriegsbegeisterten Anhängern der Deutschen Wehrmacht und ab dem ersten Tag des Friedens ein Land von überzeugten Wehrmachtsgegnern, wo Opfer der Militärjustiz und Kriegsgegner in gebührender Weise Beachtung fanden.
Die Wahrheit war und ist vielschichtiger und komplizierter.
Der Prozess der Entnazifizierung und der Erkenntnis der kriminellen Strukturen des NS-Staates war nicht in wenigen Tagen oder Wochen abgeschlossen und aufgearbeitet.
Das Wachsen der Einsicht in unsere Mitverantwortung für die Ereignisse zwischen dem März 1938 und dem April 1945, aber auch für unsere Pflichten gegenüber den Opfern des Nationalsozialismus, hat vielmehr Jahre und sogar Jahrzehnte gedauert.
Und ich habe den Eindruck, dass die Entwicklung des Verständnisses für jene Menschen, die versucht haben, sich dem Dienst mit der Waffe in der Deutschen Wehrmacht zu entziehen oder ihrer erzwungenen Rolle als kleines Rädchen in der Armee Hitlers durch Flucht bzw. Desertion zu entkommen, am längsten gedauert hat.
Desertion aus der Hitler-Armee wurde bis vor gar nicht so langer Zeit von gar nicht so wenigen Menschen als strafwürdig und als Verrat an den Kameraden betrachtet.
Schließlich – so hieß es – sei ja Desertion nicht nur in der Deutschen Wehrmacht, sondern auch in allen anderen am Zweiten Weltkrieg beteiligten Armeen strafbar gewesen und auch heute noch strafbar.
Aber genau das ist der springende Punkt und der entscheidende Fehlschluss: Dass man nämlich die Armee eines Staates, der kein Völkerrecht und auch keine Menschenrechte kennt oder beachtet, sondern im großen Stil Völkermord betreibt, eben nicht mit anderen Armeen auf eine Stufe stellen kann.
Und dass die Armee Hitlers nicht unsere Armee war.
Meine sehr geehrten Damen und Herren!
Ich habe im Laufe der letzten Jahre aus verschiedenen Anlässen darüber nachgedacht, ob ich denn – falls ich 20 Jahre früher zur Welt gekommen wäre – die Kraft und den Mut gehabt hätte, einem Einberufungsbefehl zur Deutschen Wehrmacht nicht Folge zu leisten oder nach der Einberufung im Lichte bestimmter Ereignisse und Erfahrungen zu desertieren.
Sie können mir glauben: ich kann diese hypothetische Frage nicht beantworten.
Aber eines weiß ich bestimmt: es hätte mich zutiefst enttäuscht und verletzt, wenn eine Desertion aus der Deutschen Wehrmacht geglückt wäre, und ich hätte dafür nach Kriegsende in einem demokratischen Österreich Vorwürfe und Kritik, vielleicht sogar Schimpf und Schande einstecken müssen.
Genau das ist aber gar nicht so wenigen Kriegsdienstverweigerern und Deserteuren aus der Deutschen Wehrmacht passiert.
Sehr geehrte Damen und Herren!
Was ich aber gleichzeitig klarstellen möchte, ist das Folgende: Die Ehrung der Verfolgten der NS-Militärjustiz durch dieses Denkmal kann nicht als pauschaler Vorwurf für jene verstanden werden, die nicht die Kraft oder die Chance hatten, sich dem Dienst in der Deutschen Wehrmacht zu entziehen.
Wir verurteilen jedes Kriegsverbrechen, auf welcher Seite es auch immer begangen wurde.
Wir ehren jene, die von der NS-Militärjustiz verfolgt wurden und auch jene, die sich dem erzwungenen Dienst in der Hitlerarmee entzogen haben.
Und wir bedauern jene, die gezwungen waren, in der Deutschen Wehrmacht zu dienen. Millionen von ihnen haben Leben oder Gesundheit verloren.
Sehr geehrte Damen und Herren!
Es ist erst wenige Jahre her, dass im österreichischen Nationalrat auf diesem Gebiet eine längst überfällige Geste gesetzt wurde. Konkret ging es darum, gesetzlich festzuhalten, dass es sich bei Urteilen der NS-Militärjustiz generell um Unrechtsurteile handelte.
Die heutige Enthüllung dieses Denkmales ist ein weiterer wichtiger und richtiger Schritt. Er unterstreicht den ganz entscheidenden Unterschied zwischen der Treuepflicht in der Armee eines demokratischen Staates und dem Widerstandsrecht gegenüber einer verbrecherischen Diktatur.
Niemand soll behaupten, dass diese Unterscheidung immer leicht ist, aber jeder soll wissen, dass es ehrenhaft ist, in der Auseinandersetzung mit einer brutalen und menschenverachtenden Diktatur seinem Gewissen zu folgen.
In diesem Sinne darf ich das Denkmal für die Verfolgten der NS-Militärjustiz seiner Bestimmung übergeben und allen danken, die zum Zustandekommen dieses Denkmals an einem zentralen Platz unserer Republik beigetragen haben.