"Als Mahnung in das Gedächtnis eines jeden einprägen ...!

Das Urteil im Demjanjuk-Prozess

Zwei Jahre nach dem Beginn seiner Untersuchungshaft in München erhielt John Iwan Demjanjuk das Urteil über seine Beteiligung an den nationalsozialistischen Verbrechen. War es das Ende des letzten großen NS-Prozesses ist Deutschland? Oder der Türöffner für neue Verfahren gegen die Helfer und Helfershelfer beim Massenmord in den Vernichtungslagern und den planmäßigen Tötungen in den Konzentrationslagern?
Thomas Walther, Richter bei der Zentralen Stelle der Landesjustizverwaltungen zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen in Ludwigsburg, ermittelte gegen zwei andere NS-Täter, als er auf einen Gerichtsentscheid stieß, in dem Demjanjuk die Teilnahme an der Ermordung Tausender von Juden angelastet wird. Das war der Beginn seiner Recherche in Sachen Demjanjuk – das Legalitätsprinzip fordert die Aufklärung und Bestrafung dieser Tat, ganz gleich, wie lange sie her ist und wie alt der Täter ist, so Walther. Die Vorermittlungen begannen im März 2008. Im November 2008 wurde das Ermittlungsverfahren an die Staatsanwaltschaft München abgegeben. Am  30.11.2009 begann der Prozess vor dem Schwurgericht des Landgerichts München II gegen Demjanjuk, beschuldigt der Beihilfe zum Mord an 27 900 Juden im Vernichtungslager Sobibor.
An 93 Verhandlungstagen sichtete das Gericht unzählige Dokumente, hörte Sachverständige und Zeugen, setzte sich mit über 500 Anträgen der Verteidigung auseinander – und wartete vergebens auf ein Wort von Demjanjuk zur Sache. Dieser äußerte sich in drei persönlichen Erklärungen, jeweils zu den Leiden, die ihm durch Deutsche und Deutschland widerfahren waren. Der junge Ukrainer Iwan Demjanjuk war von der Sowjetunion zur Roten Armee eingezogen worden, wurde erst verwundet und geriet 1942 in Kriegsgefangenschaft. Die deutsche Wehrmacht behandelte die russischen Kriegsgefangenen nicht entsprechend der Genfer Konvention, sondern beging Kriegsverbrechen an ihnen. Von den 5,7 Millionen russischen Kriegsgefangenen sind mehr als drei Millionen gestorben. Für die Lagerinsassen war die Verpflichtung zu Hilfsdiensten für die SS gleichbedeutend mit der Hoffnung, zu überleben.
Demjanjuk wurde im Kriegsgefangenenlager von der SS als fremdvölkischer Hilfswilliger ausgesucht, er erhielt im Lager Trawniki eine Ausbildung zum Wachmann. Im März 1943 wurde er nach Sobibor versetzt; dort blieb er bis Mitte September 1943. Alle Arbeiten im Lager Sobibor waren auf die Vernichtung der Menschen in den dort eintreffenden Zügen abgestellt. Vom 2. April bis 23. Juli 1943 kamen in Sobibor 15 Eisenbahntransporte aus den Niederlanden an. Im Lager Westerbork waren die holländischen Juden gesammelt und in die Waggons gepfercht worden, in Sobibor wurden sie am Tag ihrer Ankunft ermordet. Der Älteste in den Transporten war 1848 geboren und das jüngste Kind am 27. März 1943. Am 11. Juli 1943 kam ein Transport mit 3030 Kindern und Jugendlichen an; 1000 von ihnen waren noch keine 14 Jahre alt.
Die Juden wurden aus den Zügen ausgeladen, umstellt, in Männer und Frauen unterteilt und ins Lager getrieben. Im Lager hielt der Kommandant eine Ansprache und forderte die Menschen auf, sich für die „Dusche“ auszuziehen, die aus hygienischen Gründen vor dem Arbeitseinsatz notwendig sei. Die Dusche  war das Gebäude zur Vergasung mit mehreren Kammern für circa 80 Personen. In diese Kammern eingesperrt, wurde den Juden ihr Schicksal bewusst. Sie gerieten in Panik und erlitten größte Qualen, bis die in die Kammern eingeleitete Mischung aus Kohlenmonoxyd und Kohlendioxyd wirkte und sie nach 20 Minuten starben. Die Kammern wurden geöffnet, geleert, und die Leichen in getrennten Bereichen verbrannt.
Demjanjuk war an allen wesentlichen Stationen des Vernichtungsprozesses beteiligt, so die Überzeugung des Gerichts. Eines Einzelnachweises der Straftat bedarf es nicht. Er wusste, was im Lager geschah, und er hat kein Risiko auf sich genommen, sich zu entziehen und keine Beihilfe zu diesem Geschehen zu leisten. Das wäre nach Meinung des Gerichts möglich gewesen – von 5000 Trawniki sind 1000 aus dem Wachdienst geflohen.
Das Gericht verurteilte Demjanjuk zu fünf Jahren Gefängnis, Verteidigung und Staatsanwaltschaft beantragten Revision.
Zur Verkündung des Urteils waren die Nebenkläger aus den Niederlanden angereist. Sie sind die nächsten Angehörigen der Ermordeten: ihre Kinder, die ohne Eltern aufwachsen mussten, viele von ihnen ohne einen noch lebenden Verwandten. Der Vorsitzende Richter Ralph Alt hatte sie gleich zu Beginn des Prozesses als Zeugen geladen. Ihre Aussage bestimmte den Auftakt des Prozesses. Verhandelt wurde über den Mord an 27 900 Menschen – Schicksale hinter dieser unvorstellbaren Zahl wurden durch die Aussagen der Nebenkläger vorstellbar.
Phillip Jacobs war 17 Jahre alt, als die deutsche Wehrmacht 1940 Holland besetzte. 1941 wurden viele seiner Freunde aus dem Maccabi-Verein in das KZ Mauthausen deportiert. Er konnte 1942 über Belgien, Frankreich, Spanien, Curacao, Kanada nach England fliehen. Dort wurde er Soldat und kämpfte in der Royal Air Force. Seine Eltern und seine Verlobte wurden im Juli 1943 deportiert und am 23.07.1943 in Sobibor vergast. Seine Schwester war schon 1942 in Auschwitz ermordet worden. Nach 1945 erfuhr er es durch das Rote Kreuz.
“Ich habe ein starkes Schuldgefühl, meine Verwandten allein gelassen zu haben, und vermisse meine Angehörigen sehr. Es gibt kein Grab, an dem man gedenken kann. Sobibor ist eine ungeheilte Wunde.“
 Robert Cohen lebte mit seinen Eltern und seinem Bruder in Amsterdam. Er kam als erster aus der Familie mit 17 Jahren ins KZ. Insgesamt war er 27 Monate in den Konzentrationslagern Herzogenbusch, Westerbork, Auschwitz-Birkenau, Dora. Als er nach Westerbork kam, war er voll Hoffnung [!], deportiert zu werden und so seine Familie wieder zu finden. Doch er kam in Arbeitslager. Seine Eltern und sein Bruder waren nach Sobibor deportiert und dort ermordet worden.
Die Eltern von Marcus de Groots wurden in Sobibor ermordet. Als seine Mutter verhaftet wurde, war der dreijährige Marcus bei Nachbarn zum Spielen. Seine Mutter war hochschwanger, als sie deportiert wurde. Er blieb in Amsterdam versteckt und überlebte. Sein Vormund berichtete ihm erst, als er in der Mittelschule war, vom Tod von seiner Eltern.
Rob Wurms Halbschwestern wurden in Sobibor ermordet, sein Vater in Auschwitz. Er war versteckt und wuchs in einer christlichen Familie in Utrecht auf. In den 1950er Jahren informierte ihn seine Pflegemutter über das Schicksal seiner Familie. 1989 begann er mit Recherchen über seine Familie und erlitt dabei eine schwere Depression. Erst im Anschluss an eine mehrjährige Therapie konnte er wieder in seinem Beruf als Psychologe arbeiten. Wurms hat das Urteil nicht mehr erlebt; er starb im März 2011.
Max Degens Vater, seine Mutter und sein 1939 geborener Bruder sowie seine Großeltern wurden in  Sobibor ermordet. Er war zunächst bei einer nichtjüdischen Tante versteckt, dann in einer Kinderkrippe. Diese lag gegenüber der „Hollandsche Schouwburg“. Dort wurden die Amsterdamer Juden vor dem Weitertransport gesammelt. Ehe Max von der SS abgeholt werden konnte, wurde er – keine 6 Monate alt – in einen Koffer gelegt und durch einen Wurf über eine Mauer in Sicherheit gebracht. Bis zum Kriegsende blieb er in Pflegefamilien versteckt. Von der Deportation hörte er am 24.09.1948 durch das Rote Kreuz.
Louis van Velzens Vater erhielt die Aufforderung, sich für Westerbork untersuchen zu lassen. Vor der Abreise forderte er Louis auf, für die Mutter und den kleinen Bruder zu sorgen. Van Velzen erzählte vor Gericht, wie er das dem Vater versprochen hatte, dass er aber als 8jähriger Junge noch gar nicht wissen konnte, was es bedeutet, für jemanden zu sorgen. Seine Mutter war untergetaucht, dann begleitete sie aber den Vater nach Westerbork, sie wollte nicht ohne ihn leben. Louis tauchte selbst unter und war bis zum Kriegsende bei zehn verschiedenen Familien versteckt.
Ellen van der Spiegel Cohens Eltern Berta und Samuel, 30 und 31 Jahre alt, wurden in Sobibor ermordet. Sie selbst wurde vom studentischen Widerstand in einer christlichen Familie versteckt und wuchs dort auf. Im Alter von sieben Jahren bekam sie vom jüdischen Kinderschutzbund ein Päckchen zu Chanukka. Sie habe gleichsam  „unter dem Weihnachtsbaum” erfahren, dass ihre Eltern nur die Pflegeeltern seien und die Familie im Holocaust umgekommen sei. „Eingeschränkte Freude“ habe sie über das Päckchen empfunden, sagt sie.
Robert Fransmans Familie lebte bis 1943 in Den Haag, dann wurden seine Eltern nach Sobibor deportiert. Er ging mit dem Dienstmädchen mit und wanderte bis zum Kriegsende von einer Adresse zur anderen, insgesamt waren es vierzehn. Er kam nach dem Krieg zurück zu den Überlebenden seiner Familie und erfuhr sofort, dass seine Eltern tot waren – er war noch keine fünf Jahre alt. Er verlor in Sobibor beide Eltern, Onkel, Tanten, Cousins und Cousinen. Auch sein Bruder überlebte versteckt bei holländischen Familien. Über den Krieg und die Zeit des Nationalsozialismus konnten die Brüder nie miteinander sprechen.
Der Prozess über Sobibor brachte das „vergessene Lager“ und die Verbrechen, die dort begangen wurden, in das Bewusstsein der Weltöffentlichkeit. Im Urteil nannte der Vorsitzende Richter jeden Transport aus Westerbork, die Anzahl der Menschen im Transport und die Namen der Nebenkläger, deren Familien in dem Transport waren. Diese Passage war, wie der niederländische Anwalt Manuel Bloch sagte, „ein Requiem“, ein schmerzlicher Akt des Erinnerns an die Identität und Geschichte der Opfer.
Das Strafmaß des Urteils – fünf Jahre Gefängnis – ist nach Auffassung vieler Prozessbeobachter nicht so entscheidend, wie der Urteilstenor: Jeder Beteiligte an den Naziverbrechen ist schuldig, wie und wo auch immer er (sie) beteiligt war. Jeder ist selbst verantwortlich, es gibt keine Flucht und keine Ausrede aus dieser Verantwortung, das war die Botschaft in der Begründung des Urteils.
Die Nebenkläger wurden betreut durch die holländische „Stichting Sobibor“. Die Stiftung wurde 1999 von Jules Schelvis gegründet, der das Vernichtungslager überlebte. Schelvis wurde im Juni 1943 nach Sobibor deportiert und von dort als Arbeitssklave in das Lager Dorohucza geschickt. Er war anschließend in verschiedenen Konzentrationslagern  und wurde 1945 mit anderen noch Arbeitsfähigen aus dem KZ Auschwitz nach Deutschland transportiert. Am 8. April 1945 wurde er befreit. Sein historisches Werk  „Vernichtungslager Sobibor“ war eine wichtige Informationsquelle für das Gericht. In seinem Schlusswort sagte Schelvis: „Ich tue dies… weil ich das Schicksal von 170.000 Juden als Mahnung in das Gedächtnis eines jeden einprägen will, und zwar angesichts einer Welt, die dies nur allzu schnell vergessen will.“
Die Regionale Arbeitsgruppe München von Gegen Vergessen – Für Demokratie konnte vor Ort für die Stichting Sobibor während des Prozesses kleine Hilfestellungen leisten und Aufzeichnungen zum Prozess anfertigen, die die Stichting erhielt.

Literatur:
Schelvis, Jules, Vernichtungslager Sobibor. Hamburg/Münster 2004
Schelvis, Jules, Eine Reise durch die Finsternis. Ein Bericht über zwei Jahre in deutschen Vernichtungs- und Konzentrationslagern. Hamburg/Münster 2005
Link:  www.stichting-sobibor.nl
Margrit Grubmüller war Direktorin der Akademie Frankenwarte und ist Mitglied von Gegen Vergessen – für Demokratie e.V.