RAG Münster: Broschüre zu Erinnerungsorten

RIGA: Orte der Erinnerung

Wohl kein anderer Ort ist so unweigerlich mit dem Nationalsozialismus verbunden wie die Stadt Auschwitz. Wie kein anderer steht der Name des Ortes für die Millionen von Opfern, die das rassistische und antisemitische nationalsozialistische Regime forderte. Nicht umsonst wurde der Tag der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz am 27. Januar zum bundesweiten Holocaust-Gedenktag ernannt, sind die Verbrechen in Auschwitz zentrale Aspekte der Erinnerungskultur. Die Ermordung der „Feinde“ des NS-Regimes beschränkte sich aber nicht auf die Orte der Vernichtungs- und Konzentrationslager. Dass die Vernichtung der auf dem damaligen deutschen Reichsgebiet ansässigen Jüdinnen und Juden - auch aus Münster und Westfalen – auch in Orten wie Riga ihren Anfang genommen hat, ist kaum bekannt. Diese Komplexe haben in der deutschen Erinnerungskultur bisher vergleichsweise wenig Berücksichtigung gefunden.

Die Wälder von Rumbula und Bikernieki sowie das Ghetto in Riga sind nur drei der lettischen Orte der systematischen Verfolgung und Vernichtung der Juden aus dem Baltikum und dem Deutschen Reich. Die Orte der Verbrechen sind heute wichtige Erinnerungsorte an die Verfolgung und die Opfer des nationalsozialistischen Regimes. Jahrzehntelang wurden die jüdischen Verfolgten und Ermordeten allerdings nicht anerkannt, waren diese Ereignisse kaum oder gar nicht sichtbar. Eine kürzlich vom Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge herausgegebene Broschüre soll hier nun ansetzen und die Vernichtung deutscher Juden in Riga sichtbarer machen. Die Broschüre, die von Eckart Stratenschulte verfasst wurde, gibt einen Überblick über die historischen Ereignisse und die Orte, an denen sie sich ereigneten, ermöglicht durch Fotografien und Aussagen von Zeitzeugen wertvolle Einblicke in die Geschichte und fasst die mühevollen Entstehungsprozesse der Gedenkorte zusammen. 

Zwei Personen, die die Entwicklung der Erinnerung an diese Ereignisse nicht nur begleitet, sondern wesentlich mitgestaltet und –getragen haben, sind Winfried Nachtwei und Hanna Middelmann. Nachtwei, der auch bei der Entstehung der neuen Broschüre mitwirkte, ist ehemaliger Bundestagsabgeordneter der Grünen und Mitglied des erweiterten Bundesvorstandes von GVFD e.V. und setzte sich nicht nur für die Dauer dieser politischen Aktivität für das Erinnern an die Opfer und die Entschädigung der Überlebenden ein. Weniger auf der politischen als auf zivilgesellschaftlicher Ebene setzte sich Hanna Middelmann zusammen mit ihrem Mann Wolf für dieselben Ziele ein. Zusammen sammelten sie Spendengelder für die Überlebenden des Holocausts im Baltikum und trugen so maßgeblich zur Verbesserung ihrer Lebenssituation bei in Zeiten, in denen die Bundesregierung noch keine Entschädigungsleistungen für sie beschlossen hatte.

Aber zunächst zu den historischen Ereignissen:

Am 13. Dezember 1941 verließ ein Transport mit mehreren hundert Juden den Münsteraner Güterbahnhof. Er passierte Osnabrück und Bielefeld und erreichte schließlich wenige Tage später das Ghetto in Riga. Der „Bielefelder Transport“ war nur einer der Deportationszüge, die auf dem deutschen Reichsgebiet ansässige Jüdinnen und Juden in die Ghettos Minsk und Riga verbrachten.

Das abgetrennte Wohngebiet in Riga war zuvor keineswegs unbewohnt gewesen. Hier lebten fast 30000 lettische Juden, deren Alltag seit Juli 1941, als deutsche Truppen in Lettland einmarschierten, von Diskriminierung und Repressionen, Unterernährung, Zwangsarbeit und der Willkür der Besatzer geprägt war. Der erste Transport aus dem deutschen Reich sollte Ende November in Riga ankommen, nachdem das Ghetto für diesen Zweck geräumt wurde. Diesen „Räumungsaktionen“ fielen am 30. November 1941 und vom 8. auf den 9. Dezember 1941 26500 lettische und mehr als 1000 Berliner Jüdinnen und Juden, die „zu früh“, vor der Räumung des Ghettos eintrafen, zum Opfer. Im Wald von Rumbula mussten die Ghettoinsassen große Gruben ausheben, sich entkleiden und in die Gruben legen, wo sie dann mit einem Schuss in den Hinterkopf ermordet wurden. Auch im unweit entfernten Wald Bikernieki fanden Massentötungen, nach ersten Morden im Rahmen der „Sommerexekutionen“ vor allem an deutschen Juden, aber auch an mutmaßlichen Kommunisten und sowjetische Aktivisten statt, die nicht mehr zur Zwangsarbeit benötigt wurden. Im Februar und März 1942 nahm mit der Ermordung tausender Verfolgter in der „Dünamünde-Aktion“ die Massenvernichtung deutscher Juden im Baltikum ihren Anfang. Im Herbst 1943 begann die Liquidierung des Ghettos. Diejenigen, die die Lebensumstände bis dahin überlebt hatten, wurden in das im Frühjahr desselben Jahres eingerichtete KZ Kaiserwald gebracht, das erst mit dem Vorrücken der sowjetischen Truppen aufgelöst wurde. 

So kurz und sachlich sich diese Verbrechen schildern lassen, kann doch nicht das Leid derer ausgedrückt werden, die diese Leiden durch- und nur wenige überlebten. Für ihre Anerkennung und Entschädigung setzten sich in enger Zusammenarbeit Winfried Nachtwei und Hanna und Wolf Middelmann ein. Wie kam es zu diesem bemerkenswerten Engagement?

Für Nachtwei war es zum einen die Erfahrung von gespaltener Erinnerung in Deutschland bzw. in Münster selbst. So befinden sich entlang der Promenade mehrere Kriegerdenkmäler, die an die in den Weltkriegen gefallenen Soldaten erinnern, die Opfer der Massenvernichtung im Nationalsozialismus fanden in den 1980er Jahren, zu Beginn seines Engagements, aber noch keine Erwähnung. Zu dieser Zeit wurde bekannt, dass ein mutmaßlicher Kriegsverbrecher in Münster lebe. Boleslav Maikovskis wurde beschuldigt, sich während der deutschen Besatzung in Ostlettland an der Ermordung von mehr als 100 Bewohnern eines Dorfes beteiligt zu haben. Gleichzeitig zeigte die Christlich-Jüdische Gesellschaft eine Ausstellung, in der Nachtwei auf ein Foto von jüdischen Kindern stieß, die nach Riga deportiert worden waren. Seine erste Reise nach Riga geschah dann mit dem Ziel, die entdeckten Täter- und Opferspuren – der Ermordeten, aber auch der Überlebenden – zu verfolgen.

„Vor Ort in Riga mussten wir dann feststellen, dass die Orte der Massenverbrechen in keinster Weise gekennzeichnet waren und kaum jemand von ihnen wusste: Im Wald von Bikernieki etwa liefen Jogger über die Massengräber, daneben saßen Familien und picknickten. Diese Erfahrung haben wir als eine doppelte Schande empfunden.“

Als der Prozess gegen Maikovskis am Landgericht Münster begann, wollte Nachtwei die Chance der Erinnerung nutzen. Die Atmosphäre bisheriger NS-Prozesse wäre - abgesehen von der Zeit der Zeugenaussage im Gerichtssaal selbst - von einer Gleichgültigkeit gegenüber den persönlichen Geschichten der Verfolgten geprägt gewesen. Seine Frau und er wollten den Überlebenden, die nun in Münster als Zeugen aussagten, deshalb beistehen. Die Begegnung mit Überlebenden habe ihm viel Freude bereitet. 

Das Schicksal und der Austausch mit den Überlebenden war auch für Hanna Middelmann eine zentrale Motivation für die eigene Initiative. Das erste Interesse an der Geschichte des Nationalsozialismus ergab sich für sie bereits durch die unterschiedliche Beziehung ihrer eigenen Familie und der ihres Mannes zum Nationalsozialismus, und den Austausch über diese. In einigen Jahren, in denen Hanna und Wolf Middelmann im Ausland lebten, lernten sie schließlich Personen kennen, die vor der Verfolgung durch das NS-Regime geflüchtet waren. Auf das Schicksal der Juden im Baltikum wurden sie aber erst durch eine Reportage des NDR aufmerksam. Die Sendung „Panorama“ berichtete 1993 von der Lage der jüdischen Überlebenden in Riga, die unterhalb des Existenzminimums lebten und keine Entschädigung vom deutschen Staat für die durch die nationalsozialistische Verfolgung erlittenen Schäden erhielten, während ehemalige Angehörige der lettischen Waffen-SS eine Kriegsversehrtenrente vom deutschen Staat bekamen. 

Eine Tatsache, die auch 30 Jahre nach der ersten Ausstrahlung der Sendung noch schockiert. In ihrer Lage reichte die Rente der Überlebenden nur für die Miete oder den Lebensunterhalt, nicht aber für beides. So überlegten Hanna und Wolf Middelmann, wie sie Spenden sammeln könnten, „bis die Bundesregierung vielleicht doch eines Tages handele“. Die Spenden überbrachten sie persönlich und knüpften enge Kontakte, wenn nicht Freundschaften mit den Überlebenden. „Wir waren darauf gefasst, dass niemand mit uns sprechen wollte, schließlich waren wir nach den Nationalsozialisten, die für ihre Leiden verantwortlich waren, die ersten Deutschen, die dort in Erscheinung traten. Entgegen dieser Bedenken entwickelte sich dann aber ein reger Austausch.“

Es sollte noch bis 1997 dauern, bis der Bundestag der Entschädigung der Rigaer Ghetto- und KZ-Überlebenden zustimmte. Ihr Beispiel zeigt exemplarisch den jahrelangen Kampf um die Anerkennung bis dahin nicht berücksichtigter Holocaust-Überlebender. Für die erfolgreiche Anerkennung waren politische und zivilgesellschaftliche Initiativen nötig, genügend Druck ausgeübt und den entscheidenden Anstoß geben konnte letztlich nur von außen durch das American Jewish Committee und den amerikanischen Senat. Wie wichtig die finanzielle Unterstützung war, zeige laut Nachtwei, dass der Verein der Überlebenden in Riga seit der ersten Auszahlung der Entschädigungsrenten deutlich weniger Todesfälle zu beklagen habe. 

Die Würdigung und Anerkennung der Verfolgten gestaltete sich nicht nur in Deutschland, sondern auch im Baltikum als schwierig. Über Jahrzehnte wurde unter sowjetischer Herrschaft verdrängt, dass bei den Massakern im Baltikum größtenteils jüdische Menschen ermordet wurden, und stattdessen lediglich von Sowjetbürgern oder Bürgern anderer Länder gesprochen. Sogar Gedenkfeiern in Rumbula an die Erschießung der Rigaer Juden wurden gestört. Ab den 1990er Jahren traten mit der Auflösung der Sowjetunion Änderungen ein; die Leidensgeschichte der Holocaust-Opfer und Überlebenden konkurrierte aber mit der derer, die unter der sowjetischen Herrschaft gelitten hatten. So schockiert es etwa, dass am 16. März, an dem 1944 lettische Angehörige der Waffen-SS in zwei Divisionen auf Seite der Deutschen gegen die Rote Armee kämpften, noch in den letzten Jahren mit Umzügen und Festakten der Veteranen gedacht wurde. „Es ist aber wichtig, sich die unterschiedlichen Erfahrungen in Europa zu vergegenwärtigen und zu einer europäischen Gedenkkultur zu kommen“, wirft Nachtwei, wenn auch in keinster Weise rechtfertigend, ein. „Für viele Letten stand nach der Auflösung der Sowjetunion die Erfahrung dieser längeren Fremdherrschaft deutlich im Vordergrund, hinter der die Verfolgung der Juden vergessen oder verdrängt wurde. Bevor die deutsche Wehrmacht im Baltikum einmarschierte, fanden unter sowjetischer Herrschaft bereits Massendeportationen etwa nach Sibirien statt. Mit diesem Hintergrund, ob aus Unwissenheit oder politischer Naivität, wurde der Einmarsch der Wehrmacht in Teilen der Bevölkerung als „Befreiung“ begrüßt, weshalb die Kollaboration mit den Nazis teilweise heute noch hoch gehalten wird.“

Insgesamt zeige sich aber eine deutliche Öffnung der Erinnerung. 1993 wurde an der Gogolstraße, an der Stelle der ehemaligen großen Synagoge, das erste Holocaust-Mahnmal in Lettland eingeweiht. Diese Öffnung der Erinnerung wurde auch von staatlicher Seite demonstriert: Bei dem ersten Welttreffen der lettischen Juden wurden Judenretter vom Staat geehrt, später, bei der Einweihung der Gedenkstätte in Bikernieki war die damalige Staatspräsidentin anwesend. Vor etwa zwei Jahren initiierte erstmals eine zivilgesellschaftliche Initiative eine Gedenkveranstaltung am 30. November, dem Jahrestag des „Rigaer Blutsonntags“. Bei seinem letzten Geburtstag wurde Margers Vestermanis, Holocaust-Überlebender und Gründer des Dokumentationszentrums und Museums „Juden in Lettland“, schließlich sogar vom Staatspräsidenten empfangen.

Diese Entwicklung wird auch an der Errichtung und der Sichtbarkeit der Erinnerungsorte in Riga deutlich. An verschiedenen Orten in und um Riga wurden Informationstafeln und Gedenksteine errichtet, einst „verlorene Orte“ wie Bikernieki wurden zu Gedenkorten. Möglich war dies durch die Mitwirkung des Volksbundes Deutsche Kriegsgräberfürsorge und des 2000 entstandenen Riga-Komitees. Durch ein in der zweiten Hälfte der 1990er Jahre mit den baltischen Staaten geschlossenes Kriegsgräberabkommen wurden die Gräber der Deportierten als Kriegsgräber anerkannt und somit die rechtliche Zuständigkeit des Volksbundes festgelegt. In diesem Zusammenhang entstand auch das Riga-Komitee mit zunächst 13 Gründungsmitgliedern aus den Herkunftsorten der Deportationszüge, die sich bei der Errichtung der Gedenkstätte beteiligten, die 2001 eingeweiht wurde. Etwa 5000 Granitsteine symbolisieren die Menschen, die dort ermordet wurden. Dadurch und auch durch Erinnerungssteine mit Namen der Ermordeten, die bei Workcamps und Gedenkreisen dort platziert wurden, finde eine symbolische „Entanonymisierung“ statt, so Nachtwei. An dem Ort des ehemaligen Ghettos allerdings gibt es allerdings bis heute keine Erinnerung an den historischen Hintergrund des Ortes.

Nicht zuletzt aus den mittlerweile 61 im Riga-Komitee vertretenen Städten fanden in den letzten Jahren immer wieder generationsübergreifende Gedenkreisen statt, in denen die Teilnehmenden sich mit den nationalsozialistischen Verbrechen in Riga auseinandersetzten. Dass Massen von Besuchenden die Gedenkorte besuchen, lässt sich – auch außerhalb von Corona – aber nicht erwarten. Die großen Gedenkorte liegen einige Kilometer außerhalb Rigas, sodass sich kaum ein Tourist oder Einheimischer dorthin verirren wird, der sich nicht explizit mit der Vergangenheit beschäftigen möchte.

Aber wie ist das in Deutschland? Seit Beginn ihres Engagements haben Hanna und Wolf Middelmann immer wieder auf das Schicksal der Verfolgten wie auch die historischen Ereignisse selbst aufmerksam gemacht, mit unterschiedlich großem Echo: Angesprochen von solchen Veranstaltungen wie auch Geschichts- und Gedenkorten fühlten sich Personen, die sich schon vorher in irgendeiner Weise für diese Vergangenheit und ihre Nachwirkungen interessierten. 

Wie und von wem die Broschüre des Volksbundes über die Erinnerungsorte in Riga nun angenommen und verwendet wird und ob durch sie mehr Menschen dazu angeregt werden könnten, sich mit diesem Kapitel der Geschichte auseinanderzusetzen, lässt sich (noch) nicht sagen. Sicher ist aber, dass sie in einer Lücke anderer Reiseführer ansetzt, in denen die Geschichte zwar erwähnt wird, aber Hinweise, auf die Verortung der Gedenkorte und wie diese erreicht werden können, fehlen. Somit hat sie das Potential, auf die gemeinsame Geschichte der Deutschen und Letten in der „Perle des Baltikums“ aufmerksam zu machen und kann letztlich dazu beitragen, beide Erinnerungskulturen näher zusammenzuführen.

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Vortragsangebot: Anlässlich der 80. Jahrestage der Riga-Deportationen ab Dezember dieses Jahres steht Winfried Nachtwei zu Vorträgen „Nachbarn von nebenan – verschollen in Riga“ zur Verfügung. Weitere Infos Opens external link in new windowhier.