Schädliche Wahrheit

Wolfgang Lüder

Die Freie Universität Berlin wurde am 4. Dezember 1948 gegründet. Der Gründungsrektor Friedrich Meinecke, ein liberaler Historiker, der maßgeblichen Einfluss auf die Entwicklung der deutschen Geschichtsschreibung zur staatlichen Neuordnung 1945 geleistet hatte, der wegen seiner ungebrochenen Gegnerschaft gegen den Nationalsozialismus bekannt war, der als politisch liberal eingestuft war, ohne Parteipolitiker zu sein, hielt eine bedeutende und denkwürdige Rede zur Gründung dieser ersten Universität in Deutschland nach der Befreiung vom Nationalsozialismus.

Die Universität sollte ein Zeichen setzen für verantwortliches gesellschaftliches Handeln der Studenten und Professoren. Die beginnende Demokratie und die Ablehnung der stalinistischen Diktatur in Ostdeutschland, die die Studenten der FU Berlin nach Dahlem zum Studium führte, bestimmten damals die politische Auseinandersetzung im geteilten Berlin. In dieser Zeit hielt Professor Meinecke die Rede zur Gründung der Freien Universität. Sein Auftrag an Studenten, Professoren und Gesellschaft fasste er mit einem Wort Goethes zusammen:

„Schädliche Wahrheit, ich ziehe sie vor dem nützlichen Irrtum.“ Den späteren neuen Studenten der Universität wurde diese Aufforderung zur verantwortlichen Handlungsweise noch jahrelang auferlegt. Noch heute, mehr als ein halbes Jahrhundert später, ist diese Aufforderung Meineckes verpflichtende Anleitung zum politischen Handeln: Woher erfahre ich, was bei einer zu treffenden Entscheidung Wahrheit oder interessengebundene Interpretation, vulgo: Lüge genannt, ist? Nur dann kann ich wissen, welche der mir vorgestellten Alternativen Wahrheit sind oder Grundlage für eine Entscheidung aus nützlichem Irrtum.

Bei der Diskussion, die unsere Vereinigung seit der Stuttgarter Mitgliederversammlung im letzten Jahr bewegt, geht es um viele praktische oder theoretisch denkbare Varianten bürgerschaftlicher Beteiligung im Entscheidungsprozess, im Land oder der Kommune. Die Vorschläge zur praktischen Bürgerbeteiligung sind vielfältig. Als Vorfrage aber muss nach meiner Meinung geklärt werden, wie diejenigen, die auf Staatsseite an diesen Prozessen beteiligt werden, sich zur Frage der Enthüllung wahrheitsgemäßer Fakten verhalten wollen und sollen. Was wird mit Aussagen, die für einen Bürgerentscheid relevant werden können, aber bisher nicht diskutiert wurden?

Spätestens seit im vergangenen Jahr eines der Lieblingsworte unserer Kanzlerin zum Unwort des Jahres erklärt wurde, dürfte dies deutlich werden: die Kanzlerin hat Debatten schlicht abgewürgt, in dem sie mit ihrem unbegründeten Wunsch die von ihr angestrebte Entscheidung als „alternativlos“ erklärte. Wenn wir der Stimme des einzelnen Bürgers durch stärkere Beteiligungsmöglichkeiten mehr Gewicht beimessen wollen, müssen wir ihm auch das Recht zugestehen, alle denkbaren oder zumindest erörterten Interessenlagen zu diskutieren und für einen Entscheidungsvorgang neu zu bewerten. Dann erst kann ein Thema auf die Waagschale des Entscheidungsprozesses gelegt werden.

Wenn wir unser Grundgesetz mit der Bestimmung im Artikel 20 ernst nehmen, wonach alle Staatsgewalt vom Volke ausgeht, muss das Volk auch das Recht haben, alle Kriterien für die Auswirkung der anstehenden Entscheidung zu erfahren, jedenfalls soweit sie bisher bekannt sind.
Das heißt zum Beispiel zur Kernenergie, dass die Risiken dieser Industrie in unser deutsches Rechtssystem eingebettet und nicht außen vorgehalten werden dürfen.  Also müssen, wie bei jedem industriellen Handeln, die Beträge ausgerechnet werden, die bei Eintritt eines eventuellen Schadens mindestens anstelle einer Versicherungssumme erstattet werden müssten. Dann lässt sich auch errechnen, um wie viele Cent ein Verbraucher allein durch ersparten Versicherungsbeitrag weniger für den Strom zahlt, obwohl er als Bürger im Schadensfall doch alles zahlen muss.
Man kann schließlich nicht unter dem Gesichtspunkt der Gesetzesfreiheit Schäden, die nicht nur in Japan entstehen können, schlicht unbeachtet lassen. Schädliche Wahrheit ... Die mögliche Größe eines Schadens muss in die öffentliche Meinungsbildung einfließen, wenn entschieden werden soll, ob dieser potenzielle Schaden bei einer Berechnung berücksichtigt werden soll, oder ob man dem nützlichen Irrtum folgen will, durch die Kraft unserer Industrie würden derartige Schäden stets verhindert werden.

Diese Fragestellung betrifft nahezu alle Entscheidungen von Großplanungen, die die Verwaltungen von Bund und Ländern anstreben. Ich denke in Berlin an die Entscheidung zum Standort des Flughafens Schönefeld-BBI-Berlin-Brandenburg-International, die offenbar getroffen wurde, ohne dass die Flugrouten und damit die von den Flugrouten ausgehenden Lärmgrenzen festgelegt wurden, ohne dies den betroffenen Bürgern mitzuteilen. Wenn man dieser allgemeinen Fragestellung folgt, stellt sich die weitere Frage, mit welchen Mechanismen geprüft wird, was geschieht, wenn die Grundlagen einer Entscheidung nicht oder nicht mehr vorlagen oder falsch waren. Fehlerhafte Vorlagen der Verwaltung müssen ja wohl dem Bürger ermöglichen, Konsequenzen daraus zu beantragen und durchzusetzen.

Schädliche Wahrheit, ich ziehe sie vor dem nützlichen Irrtum, ist notwendige und zugleich wichtige Forderung ethisch verantwortlicher Persönlichkeiten. Wenn wir uns in der Vereinigung Gegen Vergessen  –  Für Demokratie e.V. auf dieses Niveau begeben, müssen wir dann auch die weiterführenden Fragen erörtern und dafür Antworten suchen.

Wir sollten wissen und akzeptieren: Die deutschen Meinungsforschungsinstitute haben in den Landtagswahlen dieses Jahres jenen Parteien die besten Wahlergebnisse vorausgesagt, die höchste Glaubwürdigkeit für ihre Argumentationsbegründung erarbeitet hatten. Parteien mit fehlender Glaubwürdigkeit bekamen die bittere Quittung.

Wolfgang Lüder war Berliner Bürgermeister und Wirtschaftssenator und ist Vorstandsmitglied von Gegen Vergessen – Für Demokratie e.V.