Von der Wachsenden Distanz zwischen Regierten und Regierenden

Wolfgang Bosbach

Gelegentlich können völlig unspektakuläre Ereignisse mehr Auskunft geben über die Lage der Nation als umfangreiche Abhandlungen kluger Politologen. Im April 2011 legt in einer Stadt in NRW ein Kommunalpolitiker sein Mandat nieder. So weit, so alltäglich. Dann rückt eben der nächste Bewerber oder die nächste Bewerberin auf der Reserveliste nach. Kein Problem. Sollte man meinen. Nr. 1 sagt jedoch ab, Nr. 2 auch. Naja, die Liste ist ja lang.

Dann jedoch kam die böse Überraschung: Auch die Nummern 3 bis 9 hatten keine Lust das Mandat anzutreten und zwar mit der übereinstimmenden Begründung „das“ würden sie sich nicht antun! Bedauerlich, aber verständlich! Wer lässt sich schon gerne sagen, als Politiker sei man doch „machtvergessen und machtversessen“, man denke zuerst an den Eigennutz und erst dann – wenn überhaupt – an das Gemeinwohl und überhaupt sei doch die Partei bestimmt wichtiger als die Sache usw.….Aber: Keine Staatsform braucht mehr aktives Engagement der Bürgerinnen und Bürger als die Demokratie. Dieses Engagement ist sowohl das notwendige Fundament der Demokratie als auch ein wesentliches Unterscheidungsmerkmal gegenüber anderen Herrschaftssystemen wie
Monarchie, Oligarchie oder gegenüber totalitären Systemen aller Art. Eine
„Herrschaft des Volkes“ ohne das Volk wäre ein Widerspruch in sich. Wenn Heinrich Mann sagt „Demokratie ist im Grunde genommen die Anerkennung, dass wir, sozial genommen, alle füreinander verantwortlich sind“, dann bedeutet das gleichzeitig, dass wir auch grundsätzlich bereit sein müssen, dieser Verantwortung gerecht zu werden. Für uns selber, aber auch – und gerade – für andere. Für die Gemeinschaft in der wir leben.

Zwar geschieht dies auch heute noch, millionenfach und in ganz unterschiedlicher Weise, in Parteien oder Freien Wählergemeinschaften, in Bürgerinitiativen oder gemeinnützigen Vereinen oder Organisationen des vorpolitischen Raumes. Dennoch müssen wir konstatieren, dass die Distanz zwischen Regierten und Regierenden selten so groß war wie heute.

Woran liegt das? Was ist jetzt zu tun? Der hier zur Verfügung stehende Raum ist nicht groß genug, um alle Aspekte eingehend zu beleuchten und mein Befund ist, wie könnte es auch anders sein, eher subjektiv als empirisch belegbar. Und dennoch: Auch aus der ganz alltäglichen Arbeit eines Abgeordneten lassen sich viele Erfahrungen sammeln und Rückschlüsse ziehen. Es müssen auch nicht immer die großen Themen sein wie S 21 oder die zukünftige Nutzung der Kernenergie, die Anlass zum Nachdenken geben. Manchmal genügt auch ein Blick in die Lokalzeitung, ein Blick vor die Haustür.

In meiner Heimatstadt Bergisch Gladbach wird seit vielen Jahren erbittert über den Bau einer Umgehungsstraße gestritten. Umgehungsstraßen heißen deshalb so, weil sie einen Ort umgehen (sollen). Diese jedoch soll auf einem alten, heute nicht mehr benötigten Bahndamm mitten durch die Stadt führen, so dass der Begriff hier eigentlich irreführend ist. Egal. Die Straße spaltet jedenfalls nicht nur (planerisch) die Stadt, sondern auch Rat und Bürgerschaft. Dass es eine Bürgerinitiative gibt, ist klar und müsste eigentlich nicht erwähnt werden. Es gibt aber auch eine Bürgerinitiative
dafür und diese ist weder kleiner noch inaktiver. Natürlich reklamiert jede Seite für sich „den Willen des Volkes“ zu repräsentieren und erwartet vom Rat, dass er diesen Willen respektiert. Dann doch lieber diese Straße am Ort vorbei führen? Geht gar nicht, wegen Natur- und Umweltschutz. In einer solchen Lage ist Transparenz oberstes Gebot. Alle, ausnahmslos alle Zahlen, Daten und Fakten müssen auf den Tisch. Was spricht für diese Trasse und was dagegen? Wie groß sind die erhofften Vorteile, wie groß die befürchteten Nachteile? Welche Kriterien sind maßgebend?
Diese Debatten dürfen nicht nur im Rat und seinen Ausschüssen geführt werden, sie gehören in die Mitte der Bürgerschaft.

Begriffe wie basta oder alternativlos sind nicht geeignet, die Distanz zwischen Regierten und Regierenden zu verringern, denn sie erwecken den Eindruck, als seien Anregungen und Bedenken gegen die geplanten Entscheidungen nicht nur unerwünscht, sondern als seien sie geradezu abwegig. Wer „basta“ ruft, will keinen notwendigen, demokratischen Diskurs und Alternativen gibt es immer. Fraglich kann lediglich sein, ob sie besser oder schlechter sind. Deshalb ist es so wichtig, dass gerade der immer notwendige politische Abwägungsprozess transparent ist. Das erhöht die Akzeptanz politischer Entscheidungen. Auch wenn sie gelegentlich unpopulär sind. Und das ist gar nicht so selten der Fall.

Viele sehen in der Ausweitung von Volksbegehren und Volksentscheid ein
Allheilmittel gegen die viel zitierte Politikverdrossenheit, die wohl eher eine
Politikerverdrossenheit ist. Und in der Tat hat es in den letzten Jahren, insbesondere auf kommunaler Ebene, eine ganze Reihe von Bürgerentscheiden gegeben. Dort, wo eine Sachfrage auf ein schlichtes „ja“ oder „nein“ reduziert werden kann, kann ein Bürgerentscheid durchaus die geeignete Form der Entscheidungsfindung sein. Bei komplexen und komplizierten Gesetzgebungsmaterialien ist es aber ausgesprochen
schwierig, die Entscheidungsfindung auf die schlichte ja-nein-Alternative zu
reduzieren. Zwar wird auch im Parlament nur mit ja, nein oder Enthaltung votiert – aber erst am Ende eines langen und aufwendigen Beratungs- und
Entscheidungsprozesses im Plenum, in den zuständigen Fachausschüssen inkl. Sachverständigenanhörung und der stetigen Suche nach Verbesserungen und Kompromissen. Außerdem muss der Bundesrat bei jedem Gesetz verfassungsgemäß beteiligt werden. Seine garantierten Rechte dürfen nicht unter die Räder kommen. Man muss ja nicht gerade Theodor Heuß zustimmen („Prämie für Demagogen“) oder Helmut Schmidt („Je mehr direkte Demokratie, desto unregierbarer wird das Land“), aber grundlos zurückhaltend sind die Mütter und Väter unserer Verfassung gegenüber plebiszitären Elementen ganz gewiss nicht gewesen.
Wichtig ist, dass sich die Parteien öffnen. Dass sie ihre Arbeit so organisieren und kommunizieren, dass erst gar nicht der Verdacht entstehen kann, die Partei sei viel wichtiger als die Sache, der sie zu dienen hat. Sie müssen die vielfältigen und oft schwierigen Abwägungsprozesse gründlich erläutern, die vor der Entscheidungsfindung stattfinden müssen. Die Politik kann (leider) nicht jedes Problem lösen, nicht jeden Wunsch erfüllen oder allen Anliegen Rechnung tragen. Aber die richtigen Prioritäten setzen, nach sorgfältiger Abwägung die notwendigen Entscheidungen treffen und hierfür mit überzeugenden Sachargumenten werben, das kann die Politik nicht nur – das muss sie.

Wolfgang Bosbach MdB ist Vorsitzender des Bundestags-Innenausschusses und Vorstandsmitglied von Gegen Vergessen – Für Demokratie e.V.