„Mehr Demokratie wagen!“ Für eine unmittelbare Bürgerbeteiligung auch auf Bundesebene

Dr. Hans-Jochen Vogel

Die unmittelbare Bürgerbeteiligung in Gestalt der Volksinitiative, des Volksbegehrens und des Volksentscheids habe ich in all’ meinen Funktionen schon seit langem befürwortet. Bestimmt haben mich dazu insbesondere die positiven Erfahrungen, die mit dieser Form der direkten Demokratie in Bayern seit dem Inkrafttreten der Verfassung von 1946 gemacht wurden und die ich an Ort und Stelle – mehrfach sogar als Mitinitiator oder Befürworter – gewinnen konnte. Überfällige Reformen, denen sich die Parlamentsmehrheit jedenfalls bis zum Zustandekommen der jeweiligen Volksinitiative verweigerte, wie etwa der Übergang von der Bekenntnis- zur Gemeinschaftsschule, die verfassungsrechtliche Verankerung der Rundfunkfreiheit, die Einführung des kommunalen Bürgerentscheids und zuletzt ein striktes Rauchverbot sind auf diesem Wege verwirklicht worden. Das hat auch bewirkt, dass sich in Bayern ein stärkeres demokratisches Selbstwertgefühl der Bürgerinnen und Bürger entwickelte und das Vorurteil, man könne – schon angesichts der bis vor kurzem sehr verfestigten Mehrheitsverhältnisse – ja doch nichts machen, von Fall zu Fall überzeugend widerlegt wurde.

Anfang der neunziger Jahre bin ich zusammen mit anderen in der Gemeinsamen Verfassungskommission von Bundestag und Bundesrat dafür eingetreten, die unmittelbare Bürgerbeteiligung auch auf der Bundesebene einzuführen. In Anbetracht der Tatsache, dass die Menschen in der DDR unter der Devise „Wir sind das Volk“ kurz zuvor das SED-Regime beendet und den entscheidenden Anstoß zur deutschen Einheit gegeben hatten, erschien das auch aus der konkreten geschichtlichen Situation heraus geboten. Zudem hätte es den inneren Einigungsprozess befördert, wenn bei dieser Gelegenheit wenigstens ein Impuls der friedlichen Revolution des Jahres 1989 vom Grundgesetz aufgenommen und so deutlich geworden wäre, dass das Grundgesetz nicht mehr allein das Verfassungsdenken und den Verfassungszustand der alten Bundesrepublik wiedergibt. Dies umso mehr, als zu dem Zeitpunkt, in dem die Gemeinsame Verfassungskommission diesen Vorschlag beriet, bereits alle neuen Bundesländer entsprechende Regelungen in ihre Verfassungen aufgenommen hatten. Leider blieb der Vorstoß vergeblich, weil er infolge der Ablehnung von konservativer Seite die Zweidrittelmehrheit verfehlte. Auch ein neuer Vorstoß, den die sozialdemokratische und die Grüne Bundestagsfraktion 2003 gemeinsam unternahmen, scheiterte.

Vieles spricht dafür, jetzt einen neuen Vorstoß zu unternehmen. Immerhin hat die direkte Demokratie inzwischen in den Bundesländern, die dieses Institut noch nicht kannten, auf Landesebene, und – dem bayerischen Beispiel folgend – auch auf kommunaler Ebene geradezu einen Siegeszug angetreten. Und auch die Stimmen, die eine unmittelbare Bürgerbeteiligung nun ebenso auf Bundesebene fordern, haben deutlich zugenommen. Sogar der ehemalige bayerische Ministerpräsident Edmund Stoiber, der lange zu den Gegnern einer solchen Regelung gehörte, hat sich kürzlich dazu positiv geäußert. Außerdem hat eine Forsa-Umfrage ergeben, dass 79 Prozent aller Bundesbürger meinen, es solle Volksbegehren und Volksentscheide auch für bundespolitische Fragen geben. Und in der Tat ist gerade jetzt – ich verweise nur auf die so lebhaft gewordene Diskussion über den Ausstieg aus der Atomenergie – weniger denn je einzusehen, warum das Volk in den Ländern und in vielen Gemeinden, nicht aber im Bund das letzte Wort haben soll, wenn eine hinreichende Anzahl von Bürgerinnen und Bürgern das will.

Wie auch in vielen anderen europäischen Staaten, die dieses Institut schon lange praktizieren, würde die repräsentative Demokratie dadurch keineswegs abgeschafft, sondern in substanzieller Weise ergänzt. Substanziell deshalb, weil so einer zentralen Norm des Grundgesetzes, nämlich seinem Art. 20, demzufolge alle Staatsgewalt vom Volke ausgeht und von ihm in Wahlen und Abstimmungen ausgeübt wird, endlich zur vollen Wirksamkeit verholfen würde.

Der Einwand, das Volk sei für seine Entscheidung nicht genügend informiert und treffe sie zu emotional, hält demgegenüber der Prüfung ebenso wenig stand wie die Befürchtung, finanziell potente Interessengruppen könnten ihre Anliegen hier leichter durchsetzen als auf der parlamentarischen Ebene. All’ diese Einwände könnten nämlich auch gegen die Wahlen erhoben werden. Außerdem ginge den Volksentscheiden ja eine monatelange öffentliche Diskussion voraus, bevor sie dann stattfinden. Und für die Finanzierung von Volksinitiativen – etwa durch Spenden – müssten die gleichen Transparenzregelungen gelten wie für Parteien und Wahlen.

Zentrale Punkte der notwendigen Ergänzung des Grundgesetzes sind die Quoten und die Benennung der Gegenstände, die von Volksentscheiden ausgenommen werden sollten. Der oben erwähnte Entwurf aus dem Jahr 2002 nannte beispielsweise als Ausnahme das Haushaltsgesetz. Als Quote für die Annahme einfacher Gesetze verlangt er eine Mindestbeteiligung von 20 Prozent der Stimmberechtigten und bei verfassungsändernden Gesetzen eine solche von 40 Prozent der Stimmberechtigten sowie bei einfachen Gesetzen die einfache Mehrheit der Abstimmenden und bei verfassungsändernden Gesetzen eine Zweidrittelmehrheit der Abstimmenden. Zudem wird das Bundesstaatsprinzip dadurch voll gewahrt, dass ein erfolgreicher Volksentscheid neben der nationalen Mehrheit auch das sogenannte Ländermehr, also eine Mehrheit in so vielen Ländern erforderte, dass deren Stimmen eine Bundesratsmehrheit ergeben würden.

Es wäre zu begrüßen, wenn unsere Vereinigung ein solches Mehr an Demokratie unterstützen würde. Dr. Hans-Jochen Vogel war u.a.

Bundesjustizminister und ist Gründungsvorsitzender von Gegen Vergessen – Für Demokratie e.V.