Demokratische Teilhabe ausbauen

Ekin Deligöz

In dem Jahr, in dem mein Jahrgang 18 Jahre alt wurde, unterhielten wir uns darüber, was sich nun mit dem „Erwachsenenleben“ für uns alles verändern würde. Für meine Freunde standen neue Freiheiten der Volljährigkeit im Vordergrund: Führerschein, selbst verfasste Entschuldigungen für die Schule, unbegrenzter abendlicher Ausgang. Als politisch Interessierte fügte ich in die Unterhaltung das Wahlrecht hinzu und erntete fast schon entgeisterte Reaktionen. Das Recht auf demokratische Mitbestimmung traf bei meinen Mitschülern nicht gerade auf großes Interesse. Viele konnten, obwohl wir kurz vor unserer Abiturprüfung standen, mit dem Parteiensystem in Deutschland nichts anfangen, anderen wiederum fehlte der Bezug zur parlamentarischen Demokratie. Ihnen fehlte aber vor allem die Überzeugung, durch Wahlen und Abstimmungen tatsächlich etwas bewirken zu können.

Für mich, damals noch türkische Staatsbürgerin, war das eine unfassbare Haltung. Ich war im doppelten Sinne von diesem Bürgerrecht ausgeschlossen. In Deutschland durfte ich mich ohne die deutsche Staatsangehörigkeit nicht aktiv an Wahlen beteiligen, obwohl ich meinen Lebensmittelpunkt eindeutig hier hatte und auch hier politisch sozialisiert wurde. In der Türkei war ich ausgeschlossen, da ich eine Auslandstürkin war und das Wahlrecht damals nur im Land ausgeübt werden durfte. Dieses demokratische Grundrecht war für mich vorerst unerreichbar, und erschien mir damit noch kostbarer.

Im Winter des Jahres 2010/2011 erleben wir Deutschland so politisch wie lange nicht mehr. Etliche Menschen gehen auf die Straße. Stuttgart 21, Anti-Atom-Bewegung und Debatte um Migration, selbst Erhöhungen von diversen kommunalen Gebühren treiben die Menschen bei Wind und Wetter auf die Straßen und Plätze. Die Wahlbeteiligung steigt und das Interesse an der Medienberichterstattung ebenso. Die Demokratie zeigt sich von ihrer quicklebendigen Seite. Wir sollten diese politische Dynamik nutzen und die politische Teilhabe stärken. Denn die Menschen zeigen, dass sie sich einmischen wollen.

Eine überfällige Antwort auf dieses politische Begehren ist die Stärkung direktdemokratischer  Elemente. Es ist in letzter Zeit viel für die Einführung von Volksentscheiden und Volksbegehren  geschrieben und darüber diskutiert worden. Unser Ziel  muss es dabei sein, nicht nur Elemente direkter Demokratie zu stärken sondern auch mehr Bürgerinnen und Bürger in die politische Teilhabe zu integrieren. Nur wer sein Lebensumfeld aktiv mitgestalten kann, wird sich damit auch identifizieren. Politische Integration setzt daher aktive und passive Beteiligungsrechte voraus. Deshalb ist es wichtig, die Gruppen stärker in den Blick zu nehmen, die bislang von diesen Rechten ausgeschlossen sind, obwohl es sich bei ihnen um aktive Mitglieder unserer Bürgergesellschaft handelt. Das Wahlrecht würde diesen Gruppen mehr Aufmerksamkeit und damit mehr politisches Gewicht verleihen. Gleichzeitig würden wir damit die Engagierten unter ihnen besser und ebenbürtig in die politischen Gestaltungsprozesse einbinden. Migrantinnen und Migranten, die ihren Lebensmittelpunkt in Deutschland haben, sollten ebenso wie die EU-Bürgerinnen und -Bürger das aktive und passive Kommunalwahlrecht erhalten. Die Teilhabe an politischen Willensbildungsprozessen kann Integration maßgeblich fördern. Mehr Partizipation kann zu einer engeren Verbundenheit vor Ort führen und Möglichkeiten schaffen, sich besser in die Zivilgesellschaft ein zu bringen und einbinden zu lassen.

Das politische Interesse wächst aber auch bei Jugendlichen. Sie mischen sich ein und wollen über Zukunftsfragen mitentscheiden. Die neue Shell-Jugendstudie zeigt, dass der Anteil „politisch interessierter“ Jugendlicher zwischen 2002 und 2010 bei den 12 bis14-Jährigen von 11 auf 21 Prozent und bei den 15 bis17-Jährigen von 20 auf 37 Prozent gestiegen ist. Jugendliche wollen sich entgegen landläufigen Klagen eben doch an politischen Aktivitäten beteiligen. Weit über ein Drittel setzt sich schon heute für soziale und gesellschaftliche Anliegen ein. Die Absenkung des aktiven Wahlalters bei den Kommunal-, Landtags-, Bundestags- und Europawahlen auf 16 Jahre wäre die folgerichtige Antwort auf diese Entwicklung. Dort, wo Wahlaltersabsenkungen mit politischer Bildung verknüpft wurden, waren sie erfolgreich und trugen zur Stärkung der Demokratie bei. Auch angesichts einer schrumpfenden und alternden Gesellschaft sowie gravierender Zukunfts-entscheidungen müssen Jugendliche verstärkt politisches Gehör finden. Wir sollten zusätzlich die Partizipationsmöglichkeiten von Kindern und Jugendlichen in ihrem Alltag ernst nehmen und stärken. Sei es in der Kita, in der Schule oder bei der Kommunalplanung: Verbindliche Anhörungs- und Mitwirkungsmechanismen sollten automatisch dazu gehören.

Bei genauerer Betrachtung zeigt sich demgegenüber, dass der Vorschlag eines Elternwahlrechts in die Irre führt. Ein solches Elternwahlrecht unterstellt Kindern und Jugendlichen politische Unmündigkeit und ein mangelndes Urteilsvermögen. Es unterstellt ebenfalls, Eltern würden per se politische Ansichten ihrer Kinder stellvertretend wahrnehmen können – und diese dann auch dezidiert vertreten. Kinder sind jedoch selbstständig denkende und handelnde Menschen. Es sollte das Ziel sein, dass sie diese Autonomie nicht abgeben sondern einüben und ausbauen. Die ganz praktischen Schwächen des Elternwahlrechts müssen an dieser Stelle gar nicht ausgeführt werden.

Ich habe mich im Alter von 24 Jahren dazu entschieden, die Wahlen nicht länger als Zuschauerin zu verfolgen und habe deshalb die deutsche Staatsbürgerschaft beantragt. Ich bin eine überzeugte Demokratin und setze mich als Mandatsträgerin für dieses hohe Gut ein. In vielen Regionen der Welt und für viele Menschen ist die demokratische Mitbestimmung nicht selbstverständlich. Umso höher sollte unser Bestreben sein, dieses individuelle Bürgerrecht bei uns weiter hoch zu halten.

Ekin Deligöz ist stellvertretende Fraktionsvorsitzende von Bündnis 90/Die Grünen und Vorstandsmitglied von Gegen Vergessen – Für Demokratie e.V.