Politikverdrossenheit und Bürgerbeteiligung

Bernd Faulenbach

Seit dem Herbst letzten Jahres diskutiert „Gegen Vergessen – Für Demo-kratie“ verstärkt über Politikverdrossenheit und über Möglichkeiten, dage-gen anzugehen. Nicht der Rechts- oder auch der Linksradikalismus sind es, die die Diskussion ausgelöst haben, sondern die Sorge um die Ent-wicklung unserer demokratischen politischen Kultur.

Eine Fülle von Symptomen lassen sich für eine wachsende Distanz zwi-schen der etablierten Politik auf der einen Seite und vielen Menschen in diesem Lande auf der anderen Seite feststellen. So unterschiedliche Phänomene wie die Proteste gegen „Stuttgart 21“, das Echo auf die Kandidatur von Joachim Gauck für das Amt des Bundespräsidenten, die Auseinandersetzungen um das Sarrazin-Buch und vielleicht sogar der Fall von und zu Guttenberg, die Popularität des Freiherrn wie das Echo auf seinen Sturz, scheinen eine wachsende Distanz zum Politikbetrieb zu signalisieren.

Mögen diese Vorgänge im Einzelnen unterschiedlich zu interpretieren sein, so lassen sich doch bestimmte Trendanalysen der Sozialwissen-schaften schwer bagatellisieren: die sinkende Wahlbeteiligung, namentlich bei Landtags- und Kommunalwahlen, besonders gesteigert im Osten, das ebenfalls abbröckelnde Vertrauen zu den demokratischen Institutionen, nicht zuletzt antipolitische Tendenzen, die sich etwa in der Politik- und Politikerverachtung der Medien manifestiert.

Gewiss: es gibt heute keine großen antidemokratischen Bewegungen wie die NSDAP oder die KPD in der Weimarer Republik. Doch stellt sich die Frage, ob wir uns auf eine „Postdemokratie“ zubewegen, in der die Institutionen zwar weiter funktionieren, doch allmählich ausgehöhlt werden und nicht mehr Teilhabe und Identifikation sicherstellen. Zwar hat es auch früher Politikverdrossenheit gegeben, die etwa im Antiparteienaffekt Tradition hat und sich aus den Zeiten des Obrigkeitsstaates bis heute gehalten hat. Doch gewinnt sie derzeit in besonderer Weise an Virulenz.

Vier Gründe scheinen die Politikverdrossenheit besonders zu fördern:

Erstens ist eine erhebliche Ohnmacht der Politik zu konstatieren. Die ho-hen Erwartungen an Politik, die im Osten noch überzogener waren als im Westen, sind starker Enttäuschung gewichen. Die transnational organi-sierte Wirtschaft und die internationalen Finanzmärkte lassen die Natio-nalstaaten und ihre Politik schwach erscheinen. Europa könnte als Supranationalstaat schon ein Gegengewicht bilden, doch erweist sich die europäische Politik, in der die divergierenden Interessen der Nationalstaaten nach wie vor durchschlagen, als nur bedingt handlungsfähig, erst recht gilt dies für die G-20. Abwendung von der Politik oder Protest gegen Politik ist die Folge.

Zweitens- und dies steht in einer gewissen Spannung zu dem ersten Punkt – wird Politik für viele immer unüberschaubarer. Die Überkomplexi-tät von Politik, die gleichzeitig auf verschiedenen Ebenen und nur teilweise in einsehbaren Arenen abläuft, und von einer Vielzahl von Faktoren beeinflusst wird, macht die Bürger ratlos. Ein verbreiteter unaufgeklärter Voluntarismus aber prallt vielfach an den Strukturen und Prozessen der Politik einfach ab. Die Akteure und die Medien tun zu wenig, Politik transparent und nachvollziehbar zu machen. Einerseits entsteht der Eindruck der Undurchschaubarkeit, andererseits meinen Bürger, dass wichtige Fragen nicht offen angesprochen werden. Gleichzeitig aber fehlt ihnen das Interesse oder die Zeit, sich mit Politik kontinuierlich zu beschäftigen.

Die Medien, bei denen die Konkurrenz härter geworden ist, überformen – dies ist der dritte Punkt – unsere Demokratie, indem sie sich häufig als Akteure gerieren, was tendenziell ihre primäre Aufgabe, Berichterstattung und Erklärung des Geschehens, verdunkelt. Vor allem aber ist es leichter und offenbar ertragreicher Politik zu skandalisieren. Mit Häme über die Politik und die Politiker zu reden scheint geradezu vorherrschend zu wer-den. Und die Maßstäbe, an denen Politiker gemessen werden, sind oft nicht wirklich politisch, sondern kommen aus anderen Bereichen, etwa dem Showgeschäft. Politik wird von manchen gleichsam als permanente casting-show begriffen, in der die Performance zu bewerten ist. Ästheti-sche Maßstäbe waren es, an denen die Weimarer Republik von Teilen des Bürgertums gemessen und die deshalb verworfen wurde. Hinzu kommen heute die Möglichkeiten des Internets, über das sich häufig ein hemmungsloser Subjektivismus, der vor allem gegen etwas protestiert, seltener sich für Ziele, Konzepte und Projekte einsetzt, artikuliert. Eine Atmosphäre ständiger Erregtheit scheint auf dies Weise zu entstehen.

Schließlich trägt letztlich zum Verdruss der Bürgerinnen und Bürger auch die Auflösung ideologischer Positionen und Milieus bei, die immerhin eine gewisse Bindekraft besaßen. Es mangelt an politischen Werten, die Orientierung bieten, überhaupt an Faktoren, die integrieren und den Zusammenhalt stärken. Und die Transformation zu einem 5-Parteiensystem trägt eben auch nicht unbedingt zur größeren Attraktivität von Politik bei. Mobilisierung durch Polarisierung wird zum Beispiel schwerer und das Hick-Hack in Koalitionsregierungen steigert teilweise den Eindruck von dubioser Interessenpolitik, opportunistischen Kalkülen und Bürgerferne. Dass das fatale Starren von Politik und Medien auf Umfragewerte kein geeignetes Mittel ist, die Entfremdung von Politik und Bürgern zu überwinden – eher das Gegenteil ist der Fall – ist gleichzeitig nicht zu übersehen.

Wenn man gegen diese Ursachen von Politikverdrossenheit angehen will, wird man an verschiedenen Stellen ansetzen müssen. Von erheblicher Bedeutung für die Verringerung der Distanz zwischen Politikbetrieb und großen Teilen der Bevölkerung ist aus der Sicht vieler Beobachter die Stärkung der Teilhabemöglichkeiten oder – wie weiland Willy Brandt formulierte – „Mehr Demokratie [zu] wagen“.

Allerdings sollte dabei die ganze Palette von Partizipationsmöglichkeiten in den Blick kommen. Da gibt es die Wahlen – „nur alle 4 Jahre“. Doch hat jeder erwachsene Bundesbürger eben auf mindestens 4 Ebenen die Möglichkeit zu wählen, was manche Bürger schon zu überfordern scheint. Für die Aktivbürger gibt es in den Parteien durchaus Partizipationsmöglichkeiten. Es ist absolut abwegig, parteipolitisches Engagement, wie dies ständig geschieht, verächtlich zu machen. Dieses Engagement ist keineswegs geringer zu bewerten als anderes bürgerschaftliches Engagement: die große Mehrheit der Parteimitglieder hat keinerlei persönliche Vorteile, leistet jedoch ihren Beitrag zur politischen Willensbildung.

Wenn über mangelnde Bürgerbeteiligung gesprochen wird, wird oftmals vergessen, dass wir die Möglichkeit von Bürgerbehren und Bürgerent-scheide durchweg auf kommunaler und auf Länderebene haben, wovon freilich eher selten und dann vor allem von entschlossenen Minderheiten – ungeachtet der Quoren - Gebrauch gemacht wird, wie vor einiger Zeit bei der Bildungsreform in Hamburg. Gleichwohl mag manches dafür sprechen, innerhalb bestimmter Grenzen eine plebiszitäre Komponente auf der Bundesebene einzuführen, trotz der schlechten Erfahrungen in der Weimarer Republik. Auch über Nominierungsverfahren und über die Ausgestaltung des Wahlrechts lässt sich gewiss reden. Erst recht gilt dies für den geeigneten Zeitpunkt der Bürgerbeteiligung bei der Planung und Durchführung von Großprojekten. Doch wie weit Modifikationen dieser Art tatsächlich geeignet sind, die Kluft zwischen Bürgern und Politik zu verringern, ist doch offen und bedarf der Diskussion, zumal es naiv wäre, die Gegensätze unter den Bürgern zu vergessen.

Über diese und andere Fragen, bei denen es um eine Stärkung der De-mokratie geht, sollte „Gegen Vergessen – Für Demokratie“ nicht nur diskutieren, sondern auch versuchen, eine gemeinsame Position anzustreben. Der Vereinigung ist trotz der Komplexität der Fragen zuzutrauen, konsensuale Wege zu finden, die sowohl die Erfahrungen der Geschichte als auch gegenwärtige Bedürfnisse berücksichtigen. Der Weg zu einer „Postdemokratie“ jedenfalls wird die Vereinigung nicht mitgehen.

Prof. Dr. Bernd Faulenbach ist Historiker am Forschungsinstitut Arbeit, Bildung, Partizipation und an der Fakultät für Geschichtswissenschaft der Ruhr-Universität in Bochum und stellvertretender Vorsitzender von Gegen Vergessen – Für Demokratie e.V.